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Erzbischof em.

Predigten und Texte

  • Predigt von Erzbischof em. Dr. Werner aus Anlass der Aufstellung einer Büste des Lübecker Märtyrers Eduard Müller / Neumünster / 13. 11. 2022
    Liebe Gemeinde,

    Sie kennen vielleicht die Geschichte, die der alte Häuptling seinem Enkel erzählt. Der über 80jährige sagt dem Jungen: In meinem Herzen leben zwei Wölfe. Der eine Wolf ist der Wolf der Dunkelheit, der Angst, der Zweifel. Der andere Wolf ist der Wolf des Lichts, der Hoffnung, der Freude. Und diese beiden Wölfe kämpfen miteinander in meinem Innern, sagt der Häuptling. Da fragt der Enkel: Und welcher Wolf gewinnt? Der, den ich füttere, sagt der alte Häuptling.

    Die beiden Wölfe in meinem Inneren kenne ich auch. Das Dunkel in mir, Ängste, Zweifel. Aber auch das Helle, das Hoffnungsvolle, Frohmachende. Was gewinnt in mir die Oberhand? Was prägt mein Denken und Fühlen?

    Wir leben in einer Zeit großer Veränderung. Zeitenwende hat das der Bundeskanzler sogar genannt. Davon spricht auch das Evangelium heute. Tage werden kommen, sagt Jesus. Und dann nennt er Erdbeben, Seuchen und Hungersnöte. Wenn ich das mit wachem Verstand höre, dann wird mir klar: Jesus spricht von heute. Ja, das Evangelium spricht immer von heute, wenn auch mit unterschiedlicher Konkretisierung. Die Konkretisierung in unseren Tagen ist eindeutig, wenn wir an Krieg, Hunger und Ängste denken in unserer Welt. Da gibt es für den dunklen Wolf in mir viel Nahrung.

    Ich bin sicher, dass es diese dunkle Stimmung auch in unseren Lübecker Märtyrern gegeben hat. Das kann man in Ihren Briefen aus dem Gefängnis lesen. Am deutlichsten bei Johannes Prassek. Er schreibt von furchtbarem Hunger, und dann heißt es in einem Brief: Wegen eines Stückchens Brot könnte ich jemand umbringen. Oder wenn er an Bischof Berning schreibt, was sich ihm tagelang deprimierend auf die Seele legt. Den dunklen Wolf in ihrem Inneren kannte alle vier Märtyrer nur zu gut.
    Der Märtyrer Eduard Müller schildert seine Not im Gefängnis allgemeiner, wenn er von Kämpfen und Schwierigkeiten spricht und wie kalt es in der Zelle ist.

    Dieser Eduard Müller gehört zu Ihrer Gemeinde. Wie intensiv, das hat Peter Voswinckel in seinem Buch „Geführte Wege“ dargelegt. Wie Eduard Müller als Schreinergeselle in der katholischen Verbandsarbeit hier in Neumünster sich eingesetzt hat. Wie umgekehrt die Gemeinde mit Geldspenden sein Studium mit dem Ziel der Priesterweihe überhaupt erst möglich gemacht hat. „So ist unser Eduard Müller buchstäblich ein Kind und Priester der Gemeinde Neumünster wie kein anderer“, schreibt seine frühere Lehrerin nach dem Krieg.

    Und damit er das bleibt, Kind und Priester der Gemeinde Neumünster wie kein anderer, deshalb weihen wir heute die Büste ein. Darauf können wir die Gesichtszüge von Eduard Müller gut erkennen. Das ist dem Künstler Volker Lang ausgezeichnet gelungen. Sie ist ein Zeichen der Verehrung und des Dankes für Ihren Kaplan. Aber sie ist noch weit mehr. Sie ist ein geistlicher Impuls, mit Eduard Müller ins Gespräch zu kommen. Ich stelle mir vor, wie Sie still in der Kapelle, in der wir gleich die Büste aufstellen, mit dem Blick auf das offene, kluge Antlitz von Eduard Müller, verweilen. Wie Ihnen in den Sinn kommt, wie Eduard Müller das Dunkle, Angstvolle, Zweifelnde in sich spürte – nicht erst in der Gefangenschaft – und wie er darüber Herr geworden ist durch das Tröstliche, Stärkende, Befreiende des Glaubens. Das war auch in Eduard Müller ein Kampf, wie zwischen den beiden Wölfen, die ja ein Sinnbild sind für das Dunkle und Helle auch in uns. Die Kapelle mit der Büste Eduard Müllers ist ein wunderbarer Ort für uns, den hellen Wolf in uns zu füttern, damit das Dunkle, Verzagte, Trostlose in uns nicht die Oberhand gewinnt.

    Das ist zugleich eine wirksame Übung, um das Wort Jesu im Evangelium heute zu beherzigen: Lasst euch nicht erschrecken. Papst Franziskus hat vor wenigen Tagen im Flugzeug auf der Rückreise von Barhain nach Rom gesagt: Jeder Mensch hat eine persönliche Geschichte, woher sein Glaube kommt, wo die Wurzeln des eigenen Glaubens sind. Auch um diese Wurzeln anzuschauen kann ein stilles Verweilen mit dem Blick auf Eduard Müller guttun.

    Liebe Gemeinde, herzlich gratuliere ich Ihnen dazu, dass Sie eine Eduard-Müller-Gemeinde sind und von ihm und seinem Leben Ermutigung und Freude im Glauben erfahren. Amen.
  • Statement beim Pressegespräch zu seiner Emeritierung / Hamburg / 21. 03. 2014
    Meine Damen und Herren,



    ich möchte Ihnen in der gebotenen Kürze einige Fragen beantworten, die mir in diesen Tagen immer wieder gestellt werden.



    Für mich waren die elf Jahre als Erzbischof von Hamburg eine große Herausforderung und eine sehr erfüllte Zeit.



    Als ich im Januar 2003 meinen Dienst hier begann, hatte ich folgendes Ziel vor Augen: Menschen zum christlichen Glauben zu führen oder sie im Glauben zu bestärken. Die täglichen Gottesdienste, die Predigten, Vorträge, Diskussionen und seelsorglichen Gespräche mit Einzelnen und in Gruppen waren darauf ausgerichtet. Für möglichst viele Menschen sollte die Lebensqualität des christlichen Glaubens erfahrbar werden.



    Zu dieser Lebensqualität gehört für mich die doppelte Kommunikation: Eine lebendige Beziehung zu Gott und eine lebendige Beziehung zu Menschen. Mit Gott durch Gebet, Gottesdienst und die vielen anderen Formen geistlichen Tuns. Mit Menschen durch die vielfältigen Begegnungen, zu denen wir in Pfarrgemeinden, Einrichtungen und auf anderen Ebenen immer wieder einladen.



    Dazu nenne ich Ihnen einige konkrete Beispiele, in denen es immer um die Beziehung mit Menschen und die Beziehung mit Gott geht:



    Jeder dritte katholische Christ in Hamburg ist mit einer fremden Muttersprache aufgewachsen. Der gemeinsame Glaube bietet hervorragende Möglichkeiten zur Integration.



    Unser Kulturforum 21 verbindet unsere katholischen Schulen in Gebieten mit sehr unterschiedlichem Sozialniveau zu gemeinsamem kreativen Tun durch Musik, Theater, künstlerisches Gestalten und Entwickeln von Performances. Dadurch kommen Jugendliche und Eltern verschiedener sozialer Schichten miteinander in Kontakt.



    Zu unserem Erzbistum gehören weite Gebiete aus der früheren DDR. Mit unseren gemeinsamen Gremien aus Ost und West sehen wir große Chancen, die Einheit in Deutschland weiter voranzubringen.



    Viele Familien bei uns sind konfessionell gemischt. Durch beharrliche ökumenische Kontakte fördern wir die Überwindung von Fremdheit und ein Zusammengehörigkeitsgefühl in christlicher Verantwortung.



    In unseren Kirchengemeinden und Verbänden sind alle Altersschichten präsent. So lernen sich die Generationen gegenseitig kennen und schätzen.



    Runde Tische, an denen Mitglieder unterschiedlicher Religionsgemeinschaften miteinander diskutieren, verhindern ein Gegeneinander der Weltanschauungen und tragen zu einem friedlichen Miteinander oder wenigstens friedlichem Nebeneinander bei.



    Unsere Einrichtungen der Erwachsenenbildung im Erzbistum – unsere Katholische Akademie in Hamburg steht nach Umbau und Renovierung vor der Wiedereröffnung – bringen Menschen miteinander ins Gespräch und versuchen die Stimmigkeit der christlichen Botschaft zu vermitteln, auch im Dialog mit Philosophien und Naturwissenschaften und im Brückenschlag vom Evangelium zur Kultur und umgekehrt.



    Unsere Einrichtungen der Caritas suchen den Kontakt mit Menschen, die Hilfe brauchen. Das geschieht in Pfarrgemeinden ebenso wie in weiteren unterschiedlichen Trägerstrukturen.



    Das sind einige Beispiele dafür, wie wir als Kirche dazu beitragen wollen, dass Menschen miteinander in Kontakt kommen und mit Gott in Kontakt kommen. Denn das war die Leitlinie für meinen Dienst: Die lebendige Kommunikation mit Gott und mit Menschen schafft eine unüberbietbare Lebensqualität.



    Ihnen, den Medienschaffenden, danke ich für ein engagiertes und faires Miteinander. Ich denke zum Beispiel, wie Sie wesentlich mitgeholfen haben, die Missbrauchskrise konsequent zu bearbeiten, indem Sie sehr deutlich den Finger auf die Wunde gelegt haben. Daraus sind dann auch die einzelnen Präventionsmaßnahmen hervorgegangen, die im Internet abrufbar sind.



    Herzlichen Dank und Gottes Segen für Ihre unverzichtbare Arbeit.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum 150jährigen Jubiläum des Marienkrankenhauses / St. Marien-Dom Hamburg / 18. 03. 2014
    Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Marienkrankenhauses,



    verehrte Gäste, Schwestern und Brüder!



    Handle genauso. Das ist die Konsequenz aus dem Evangelium vom barmherzigen Samariter. Von Priester und Levit heißt es: Sie gingen achtlos vorüber. Der Reisende aus Samarien aber half dem Verletzten. Handle genauso, sagt Jesus.



    Der Impuls des Anfangs



    Handle genauso. Das war den Schwestern aus der Ordensgemeinschaft des Heiligen Karl Borromäus ein Herzensanliegen. Schon damals, vor einhundertfünfzig Jahren, bei den vielen Verletzten im deutsch-dänischen Krieg. Drüben in einem Haus an der Langen Reihe halfen sie den Verletzten. Wie der barmherzige Samariter. Für jeden, der Hilfe braucht, sind wir da, war ihr Motto.



    Solch barmherziges Handeln hat Zulauf. Das Haus an der Langen Reihe wurde bald zu klein. So kam es zum heutigen Standort des Marienkrankenhauses. Aber auch dort wird immer wieder erweitert und erneuert. Bis auf den heutigen Tag.



    Als ich vor elf Jahren nach Hamburg kam, wurde mir schnell klar: Unser Marienkrankenhaus ist ein gutes Stück Hamburg, für das wir besonders dankbar sind. Nicht nur, weil so viele Hamburgerinnen und Hamburger hier geboren werden.



    Kompetenz und Nächstenliebe



    Ein gutes Stück Hamburg auch in weiterer medizinischer Hinsicht. Mit der ersten erfolgreichen Blinddarmoperation auf dem europäischen Festland. Mit der Entwicklung der künstlichen Niere in Deutschland. Vor allem aber mit der inneren Einstellung, welche die Ordensschwestern grundgelegt haben und die auf alle abfärben sollte. Heute heißt das: Kompetenz und Nächstenliebe.



    Beim hundertjährigen Jubiläum sagte der damalige Innensenator und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt: „Mit Faszination blicken wir auf das Konzil.“ 1964 war ja das vorletzte Konzilsjahr. Und dann kommt er auf die katholische Soziallehre zu sprechen, die auf dem Konzil eine große Rolle spielte. Er nennt den Begriff der Subsidiarität. Subsidiarität bedeutet auf Deutsch: Der Staat muss nicht alles selbst machen. Der Staat ermöglicht freien Trägern, auch den Kirchen, selbst aktiv zu werden. Auch im Krankenhauswesen. Auch im Schulbereich. Auch in der Erwachsenenbildung. Weil das in Hamburg trotz mancher Konflikte Praxis ist, konnte unser Marienkrankenhaus immer mehr ein gutes Stück Hamburg werden.



    In christlichem Miteinander



    Vor fünfzig Jahren konnte Helmut Schmidt als Beispiel für Toleranz in Hamburg sagen, dass auch die katholische Kirche so kräftig mitwirken darf im Krankenhauswesen, obwohl doch die überwiegende Mehrheit in Hamburg evangelisch ist. Es tut sehr weh, dass heute nicht einmal die Christen aller Konfessionen zusammengerechnet in Hamburg die Mehrheit sind. Aber es macht Mut, dass die Christen aller Konfessionen in Hamburg so gut zusammenhalten. Besonders auch im Marienkrankenhaus. Das gilt nicht nur für das Seelsorgeteam. Das gilt für die medizinischen und pflegerischen Dienste. Das gilt für die Grünen Damen und die Maltester-Migranten-Medizin, um nur einige Bereiche zu nennen. Alle, die im Marienkrankenhaus tätig sind, wollen dem Gelöbnis der ersten Schwestern verpflichtet sein. Nämlich: Für jeden, der Hilfe braucht, sind wir da.



    Im Geist des Evangeliums



    Umso schmerzlicher empfanden wir es vor drei Jahren, dass die letzten fünf Ordensfrauen aus der Gemeinschaft des Heiligen Karl Borromäus unser Marienkrankenhaus und unsere Stadt verließen. Nach Jahrzehnten in der Krankenpflege hatten sie zuletzt noch Besuchsdienste und Seelsorgdienste übernommen. Aber schließlich zeigten sich auch hier die Grenzen des Alters. Die Trauer über ihren Abschied war groß.



    Aber dann war es eine große Freude, als es Weihbischof Jaschke gelang, vier indische Klarissenschwestern für unser Marienkrankenhaus zu gewinnen. Vier Schwestern – natürlich sind das wenige im Vergleich zu siebzig Schwestern in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Aber sie machen uns allen Mut, auch weiterhin im Geist unseres heutigen Evangeliums tätig zu sein. So wie Jesus es uns sagt: Handle genauso. Genauso wie der Samariter. Genauso wie die Borromäerinnen. Genauso wie unsere neuen indischen Schwestern, wie Schwester Lincy, Schwester Sachitha, Schwester Shobita und Schwester Reshmi. Die Schwestern sind uns Ansporn, auch weiterhin Kompetenz und Nächstenliege zu verbinden und so ein gutes Stück Hamburg zu sein.



    Weltkirchliche Bezüge



    Für jeden sind wir da. Das Motto der Gründungsschwestern gilt für alle Menschen. Es galt auch für den späteren Papst Pius XII. Dieser besuchte im Juli 1929 als Päpstlicher Nuntius Hamburg. Wilhelm Cuno, der frühere Reichskanzler und damalige Generaldirektor von Hapag Lloyd, hatte ihn eingeladen. Anlass des Besuchs war die große Zahl der Auswanderer vom Hamburger Hafen aus. Wir wissen, dass später Papst Pius XII. die Auswanderer, die auch damals schon in Hamburg von unserem Raphaelswerk betreut wurden, sehr gefördert hat. Darunter viele Juden, die vor Hitler fliehen mussten. Das Quartier des späteren Papstes war in Hamburg das Marienkrankenhaus.



    Gestern vor einem Jahr kamen 150.000 Menschen in Rom zusammen zum ersten Angelusgebet von Papst Franziskus. Dabei sagte der Papst wörtlich: „Etwas mehr Barmherzigkeit verändert die Welt, es macht sie weniger kalt und mehr gerecht.“



    Das passt gut zu unserem Marienkrankenhaus. Mir ist sehr wohl bewusst, dass auch unser Marienkrankenhaus wie alle Einrichtungen dieser Art unter einem enormen Kostendruck steht. Aber gerade deshalb hat das Stichwort „Barmherzigkeit“ für uns einen so hohen Stellenwert. Denn auch die Art und Weise unseres Miteinanders soll ja dazu beitragen, dass unser Marienkrankenhaus auch in Zukunft ein gutes Stück Hamburg bleibt.



    Liebe Schwestern, liebe Brüder, in großer Dankbarkeit schauen wir auf die hundertfünfzig Jahre unseres Marienkrankenhauses. In dieser Feier bringen wir unseren Dank vor Gott. Unser Dank gilt aber auch den vielen Menschen, die sich für unser Marienkrankenhaus eingesetzt haben und einsetzen.



    Und wir bitten Gott um seinen Segen für alle, die mit unserem Marienkrankenhaus in Berührung kommen. Damit es auch in Zukunft ein gutes Stück Hamburg sein kann. Amen.
  • Brief von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur österlichen Bußzeit 2014 / Hamburg / 09. 03. 2014
    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg,



    seit meinem Dienstbeginn als Ihr Erzbischof im Jahre 2003 habe ich Ihnen regelmäßig zur österlichen Bußzeit einen Brief geschrieben. Das tue ich jetzt zum letzen Mal.



    In Kürze wird Papst Franziskus mich von meinem Dienst entpflichten. So wie das nach Vollendung des fünfundsiebzigsten Lebensjahres im Kirchenrecht vorgesehen ist.



    1. Dank



    Ich beginne meinen Brief mit einem herzlichen Wort des Dankes an Sie. Ich danke Ihnen, dass Sie unsere katholische Kirche im Norden mit gestalten. Sei es durch die Mitfeier der Gottesdienste und durch Ihr Gebet, sowie durch Mitverantwortung in Gemeinden, Verbänden und Einrichtungen.



    Und ich bin Ihnen auch dankbar dafür, dass Sie in der Kirche bleiben. Denn auch wenn die Gesamtzahl der Katholiken in unserem Erzbistum wächst, so ist doch die Zahl der Kirchenaustritte hoch. Ja, sie ist zu hoch, so lange es noch einen einzigen Menschen gibt, der aus der Kirche austritt.



    Vielleicht fühlen auch Sie sich manchmal angesprochen von dem Wort Jesu an seine Jünger: „Wollt auch ihr weggehen?“ (Joh 6,67). Ich möchte Sie an die Antwort des Petrus erinnern, damit Sie diese auch zu Ihrer eigenen Antwort machen: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68).



    Ich danke Ihnen auch für die vielen nicht zu zählenden Begegnungen. Vor allem in den Gottesdiensten war mir immer bewusst: Wir bilden eine große Gemeinschaft mit Gott und untereinander. Diese kann sogar den Tod überdauern.



    Mein Dank gilt den Mitbrüdern und allen Ordenschristen. Gern habe ich deren Freude an der Berufung geteilt und deren Sorgen und Nöte mitgetragen.



    Dankbar bin ich den vielen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen in unserem Erzbistum. In Seelsorge, Schule, Beratungsstellen und Kitas sowie in den vielen anderen Einrichtungen und in den Verbänden sind Sie unverzichtbar. Ebenso in den Gremien und vielen anderen freiwilligen Diensten.



    Ich hoffe, dass es für mich nicht einen einzigen Tag gegeben hat, an dem ich nicht meinen Dank und meine Bitte für Sie alle vor Gott getragen habe.



    2. Die großen Veränderungen



    Unsere Zeit erfährt rasante Veränderungen. Das gilt für Bereiche wie Wirtschaft, Technik und Wissenschaft. Das gilt auch für die Kirche.



    Veränderungen im religiösen Bereich sind immer große Herausforderungen. Wir hängen oft mit Recht am Gewohnten.



    „Wenn sich so viel in unserer Umgebung verändert, dann soll doch wenigstens die Kirche so bleiben, wie sie immer war“, höre ich gelegentlich.



    Ja, die Kirche bleibt so, wie sie seit der Verkündigung der Apostel und seit den ersten Christengemeinden ist. Evangelium und Nächstenliebe, Sakramente und Gebet sind und bleiben tragende Säulen. Aber die Formen unseres Zusammenlebens in Gemeinde und Dekanat ändern sich. Aus mehreren Gemeinden wird eine Pfarrei im Pastoralen Raum. Die ersten Pastoralen Räume werden nach dreijähriger Vorbereitungszeit in diesem Jahr an den Start gehen. Die anderen werden in den kommenden Jahren folgen.



    Schon die äußere Veränderung ist groß. Größer noch die innere Veränderung, auch für Sie persönlich. Denn in unserer säkularisierten Gesellschaft sind alle aufgerufen, die eigene Berufung, die durch Taufe und Firmung gegeben ist, noch stärker zu erkennen und zu leben. Wenn das mit der Gnade Gottes und mit unserer Bereitschaft gelingt, wächst im Pastoralen Raum intensives Leben mit Glaube, Hoffnung und Liebe.



    3. Drei große Päpste



    Während der elf Jahre, in denen ich Ihnen als Erzbischof dienen durfte, haben drei Päpste der Weltkirche gedient. Papst Johannes Paul II. hat uns den Blick für Europa und die Welt geöffnet. Mit ihm sind wir noch mehr Weltkirche geworden. Diesen Blick in die Weite hat Papst Benedikt in die Tiefe geführt. Wir verdanken ihm geistliche Einblicke, die auch künftige Generationen begeistern werden. Ich meine das durchaus im Sinne des Heiligen Geistes.



    Und jetzt Papst Franziskus. Sein Schreiben mit dem Titel „Freude am Evangelium“ ist wie ein Wegweiser. Er zeigt uns, dass wir im Evangelium einen Schatz haben, der nicht trügen kann (265) und dass alle Getauften missionarische Jünger sind (120).



    Als ich kürzlich bei Papst Franziskus war, hat mich seine zugewandte, unkomplizierte Art besonders froh gemacht. Er blickt auf Kirche und Welt mit den Augen eines Lateinamerikaners. In seiner Heimtat gibt es neben wenigen Reichen äußerste Armut. Und diese Armen sind unsere Brüder und Schwestern.



    4. Die Armen in unserer Zeit



    Als Christen sind wir nicht Wutbürger, die sich über alles Mögliche aufregen. Christen sind Weltbürger. Uns prägt das Bewusstsein, dass die Menschen auf der Welt zusammengehören und sich gegenseitig unterstützen. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Kluft zwischen Armen und Reichen, Hungernden und Wohlgenährten, Obdachlosen und Hausbewohnern zu verringern. Und das weltweit.



    Vierzehn Jahre habe ich in Deutschland unser Bischöfliches Hilfswerk Misereor geleitet. Mit diesem Werk der Nächstenliebe, der Entwicklungshilfe und der Verantwortung für die Schöpfung haben wir einen direkten Draht zu den Armen. Zwei Wochen vor Ostern, am fünften Fastensonntag, ist wieder die große Misereorkollekte. Wir können helfen!



    Jährlich gibt es eine internationale Untersuchung, in welchen Ländern am meisten gespendet wird. Was schätzen Sie, welchen Rang Deutschland einnimmt? Es ist Platz siebenundzwanzig. England und Amerika liegen vor uns. Aber auch weitaus ärmere Länder wie Indonesien oder Paraguay. Dagegen liegen wir in Deutschland bei Rüstungsexporten auf Platz drei. Das lässt mir keine Ruhe.



    5. Worauf es ankommt



    Kürzlich sagte mir ein Jugendlicher. „Ihre Predigt heute habe ich schon öfter gehört, das war für mich nichts Neues.“



    Auf meinen fragenden Blick hin meinte er: „Das mit dem Kreuzzeichen haben Sie schon mal gesagt.“



    Der Junge hat Recht.



    Nach meiner Einführung im Hamburger Mariendom im Januar 2003 fragte mich jemand: „Was möchten Sie als Erzbischof erreichen?“ Er dachte offenbar an Bauwerke oder an die Gründung von Aktionen oder Einrichtungen.



    Meine Antwort damals: „Ich möchte Menschen zum Glauben führen und im Glauben bestärken.“ Deshalb habe ich in den elf Jahren oft darauf hingewiesen, wie sinnvoll es ist, den Tag mit dem Kreuzzeichen zu beginnen.



    „Nur ein Kreuzzeichen“, fragte jemand? Es dürfen auch noch Bitte und Dank dazukommen. Aber wenigstens das Kreuzzeichen. Dann steht der neue Tag unter einem guten Vorzeichen.



    Diese Anregung zum täglichen Kreuzzeichen habe ich oft in Predigten und Gesprächen wiederholt. Manchmal flüstert mir jemand zu: „Ich denke immer noch an das tägliche Kreuzzeichen.“



    Selbstverständlich erschöpft sich darin nicht das Christsein. Aber es macht bewusst, wer ich bin: Kind Gottes. Also in Verbindung mit Vater, Sohn und Heiligem Geist. Je mehr mich das prägt, umso mehr kann ich meinen Auftrag in der Welt erfüllen. Desto mehr weiß ich auch, wie sehr ich die Kraft der Sakramente in der Gemeinschaft der Glaubenden brauche.



    6. Ausblick



    Liebe Schwestern und Brüder, dieser Fastenbrief ist zwar mein letzter an Sie. Aber er ist kein Abschiedsbrief. Ich bleibe im Norden und suche mir in Hamburg eine Wohnung. Meinem Nachfolger kann ich vielleicht noch etwas behilflich sein, vor allem in der Feier der Gottesdienste. So hat es mein lieber Vorgänger, Erzbischof Ludwig Averkamp, getan. So will ich es auch halten.



    Herzlich bitte ich Sie um Ihr Gebet für meinen Nachfolger. Es wird wohl längere Zeit dauern, bis er vom Domkapitel gewählt und vom Papst ernannt wird. In der Zwischenzeit wird unser Erzbistum von einem Diözesanadministrator geleitet, den ebenfalls unser Domkapitel wählen wird.



    Gottes Segen begleite Sie alle, die Jungen und Alten, die Gesunden und Kranken, die Fröhlichen und die Traurigen: Der Segen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.



    Hamburg, 3. Februar, am Fest des Heiligen Ansgar, dem Gründer und Patron unseres Erzbistums



    Ihr + Werner, Erzbischof von Hamburg



  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur Eröffnung der St. Ansgar Woche / St. Marien Dom Hamburg / 02. 02. 2014
    Liebe Schwestern und Brüder,



    das heutige Fest hat unterschiedliche Namen. Offiziell in korrekter liturgischer Sprache heißt es: „Darstellung des Herrn“. Das Evangelium erzählte uns ja gerade, wie Jesus im Tempel zu Jerusalem Gott geweiht wird.



    Im Volksmund heißt das Fest „Lichtmess“. Die Worte des greisen Simeon, dass Jesus als Licht zur Erleuchtung der Heiden gekommen ist, haben zur Tradition der Kerzenweihe und damit auch zum Namen „Lichtmess“ geführt.



    In der orthodoxen Kirche wird der heutige Tag „Fest der Begegnung“ genannt. Simeon und Hannah als Vertreter des alttestamentlichen Gottesvolks begegnen Jesus, Maria und Josef als den Ursprung des neutestamentlichen Gottesvolkes. Eine unserer Bildtafeln im Seitenchor hält diese Szene fest.



    Fest der Begegnung. In Hamburg feiern wir ab heute sogar eine ganze Woche der Begegnung, die Ansgarwoche. Das Programm liegt am Schriftenstand aus. Besonders hinweisen möchte ich Sie auf die ökumenische St. Ansgarvesper Morgenabend in St. Petri mit der Predigt von Bischof Joachim Wanke aus Erfurt und auf den Vespergottesdienst nächsten Sonntag im Großen Michel mit der Predigt von Anselm Grün. Zwischen diesen beiden Sonntagen gibt es viele hochkarätige Veranstaltungen. Jede einzelne kann zu einem Fest der Begegnung werden.



    Ein Fest der Begegnung ist auch dieser Gottesdienst, weil wir das fünfzigjährige Priesterjubiläum unseres emeritierten Dompropstes Nestor Kuckhoff feiern. Gestern vor fünfzig Jahren wurde er im Osnabrücker Dom zum Priester geweiht. Da konnte er noch nicht ahnen, dass es dreißig Jahre später auch in Hamburg wieder einen Dom geben wird. Unseren Mariendom, an dem er wichtige Aufgaben inne hat. Natürlich ist auch Dompropst Kuckhoff wie fast alle, die das Goldene Priesterjubiläum feiern, im Ruhestand. Aber für die Feier der Sakramente ist er auch im Ruhestand ein sehr gefragter Ansprechpartner. Wichtig ist auch, dass er unser Erzbistum bei mehreren kirchlichen Hilfswerken vertritt. Geradezu berühmt sind seine Domführungen. Mit Sachkenntnis und Humor vermittelt er immer wieder Christen und Nichtchristen, wie sich das Geheimnis unseres Glaubens im Dom abbildet. Dompropst Kuckhoff kann das auch deshalb besonders gut, weil er ja selbst in der Renovierungsphase des Domes die Verantwortung für den Umbau trug. Mit Dompropst Kuckhoff, seinen Angehörigen und Bekannten danken wir Gott und auch ihm selbst für reich gesegnete fünfzig Jahre im priesterlichen Dienst.



    Fest der Begegnung. Zur Ansgarwoche gehört auch immer wieder die Verleihung der Ansgarmedaille an Schwestern und Brüder aus Mecklenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein, die sich in unserem Erzbistum besonders eingesetzt haben und besondere Verdienste haben. Diese Auszeichnung werde ich gemeinsam mit dem jetzigen Dompropst Franz-Peter Spiza am Ende des Gottesdienstes vornehmen.



    Fest der Begegnung. Die entscheidende Begegnung ereignet sich auch in diesem Gottesdienst mit Jesus Christus. Sein Wort, das er an uns richtet in der Heiligen Schrift, seinen Leib, den wir empfangen in der Heiligen Kommunion, verbinden uns intensiv mit ihm.



    Vor einiger Zeit habe ich mit Kindern, die gerade zur Erstkommunion gegangen waren, folgende Überlegung angestellt. Was würdest du Jesus sagen, wenn er in dem Augenblick, in dem dir die geweihte Hostie in die Hand gelegt wird, sichtbar vor dir stünde?



    Die Kinder sprudelten nur so ihre Antworten heraus. Zum Beispiel:



    Ich würde Jesus sagen: Hilf mir. Ich würde sagen: Ich danke dir, dass du da bist. Ich würde sagen: Bleib immer bei mir. Ich würde Jesus sagen: Du liebst mich und ich habe dich auch richtig lieb. Ich würde sagen: Mache meine kranke Oma wieder gesund. Ich würde sagen: Jetzt habe ich nie mehr Angst. Ich würde Jesus sagen: Zeig dich doch allen Menschen.



    Schließlich sagte ein Kind: Jesus, zeig dich besser nicht, wie du wirklich bist. Es reicht mir, wenn ich glaube: Du bist da in diesem Stück Brot.



    Was würden Sie Jesus sagen, liebe Schwestern, liebe Brüder? Was würden Sie ihm ganz spontan sagen?



    Dann sagen Sie es ihm doch. Auch in dieser Feier ist dazu reichlich Gelegenheit. Vor allem beim Kommunionempfang. Was für eine Chance der Begegnung. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur Einführung von Frau Claudia Schophuis als Leiterin des Katholischen Büros Schwerin der Erzbistümer Berlin und Hamburg / Propsteikirche St. Anna in Schwerin / 23. 01. 2014
    (Evangelium Mk 3,7-12)



    Verehrte Anwesende aus Politik, Gesellschaft und Kirchen,

    liebe Schwestern und Brüder,



    diese Botschaft des Evangeliums, die heute überall in der katholischen Liturgie verkündet wird, ist wie ein Dreiklang. Wie drei Akkorde, die zusammen klingen, die aufeinander abgestimmt sind.



    Der erste Akkord heißt im Evangelium: Jesus zog sich mit seinen Jüngern an den See zurück. Das gilt für Jesus und seine Jünger damals und heute. Heute besonders brauchen wir, wenn wir uns in Politik und Gesellschaft einbringen wollen, auch Rückzugsgebiete. Wir brauchen Zeiten ohne Hektik, Zeiten ohne dröhnende Parolen und Probleme, Zeiten der Besinnung.



    Ich freue mich, dass unsere Erzbistümer Berlin und Hamburg in Mecklenburg-Vorpommern dafür Orte der Besinnung anbieten, und zwar für alle. Im Erzbistum Berlin in Zinnowitz auf Usedom. Im Erzbistum Hamburg in Parchim für Erwachse-ne, in Teterow für Jugendliche und in Salem und Graal Müritz für Familien.



    Der zweite Akkord heißt im Evangelium: Viele Menschen von überall her wollen Jesus begegnen, sie suchen ihn, wollen von ihm hören. Damals. Heute auch?



    Mir fällt gerade in Mecklenburg-Vorpommern auf, wo die weitaus meisten Menschen keiner christlichen Konfession angehören, wie stark hier die Suche ist nach Sinn. Die Sehnsucht nach etwas Tragendem im Leben begegnet mir hier oft, die Sehnsucht nach etwas Bleibendem, Gültigen in allem auf und ab der Geschichte. Der Geschichte des Landes und auch der Geschichte des eigenen Lebens.



    Solches Suchen zu wecken, solchem Suchen Wegweiser zu sein, auch dafür sind wir als Kirchen da. Die Wegweiserfunktion der Kirchen will auch vor Irrwegen schützen. Vor dem Irrweg eines Materialismus, für den nur das zählt, was man kaufen kann. Vor dem Irrweg eines Extremismus, der schon so oft politisches und menschliches Unheil angerichtet hat, auch hier im Land. Vor dem Irrweg eines Individualismus, der nur das Wort „Ich“ kennt. Der sich verschließt gegenüber dem „Du“ anderer Menschen und dem „Wir“ der Gemeinschaft.



    Mit unserer Jugendarbeit und unseren Schulen, mit unseren kirchlichen Gruppen und Verbänden, mit den Tagen ethischer Orientierung, mit all den Aktivitäten in unseren Kirchengemeinden fühlen wir uns dabei auch als Partner des Staates ein-bringt.



    Der dritte Akkord in unserem Evangelium wird bei manchen von Ihnen schräg klingen, dissonant, wie ein Misston. Er heißt: Jesus verbot, bekannt zu machen, wer er sei.



    Warum? Es sollen doch möglichst alle erfahren, wer Jesus ist als Sinn und Ziel menschlichen Lebens. Das überall zu verkünden – dafür sind wir als Kirche doch da!



    Ja, dafür sind wir da. Aber wir verstehen uns als Kirchen nicht so, dass wir allein die Wissenden sind und alle anderen die Nichtwissenden. Der christliche Glaube an Gott ist nicht wie ein Stein, den man in der Hand hat oder nicht hat.



    Das christliche Menschenbild spricht vom Geheimnis der Person. Das gilt für die Person des Menschen. Das gilt auch für Gott. Wir können und wollen Gott nicht wie eine mathematische Formel erklären. Oder wie einen spektakulären Wundertäter. Aber wir können und wollen auf Gott hinweisen als das Geheimnis, das unser Leben freimacht.

    Gott macht uns frei von Ideologien, die allesamt den Menschen verbiegen und versklaven. Für diese Freiheit setzen wir uns ein und fühlen uns dabei als Partner der Politik, die aus freien Wahlen heraus in einem freien Land sich um das gedeihliche Zusammenleben der Menschen sorgt.



    Dieser dreifache Akkord kann zusammenklingen mit allen Menschen, die sich für Demokratie einsetzen. Der erste Akkord, dass der Mensch Besinnung braucht, Zeiten des kreativen Aufatmens, wird theoretisch von niemandem bestritten. Aber er wird in seiner praktischen Konsequenz manchmal infrage gestellt. Zurzeit vor allem, wenn es um den Sonntagsschutz geht. Da ringen wir als Kirchen mit Politikerinnen und Politikern um akzeptable Lösungen.



    Der zweite Akkord, in welchem es um Sinn und Ziel des Menschen geht, der bewirkt, dass Sehnsucht nicht in Sucht verkehrt wird, dass Erfolg nicht auf Kosten anderer angestrebt wird, dass Egoismus und die Macht des Stärkeren nicht zum Maßstab werden.



    Der dritte Akkord, wo das Geheimnis von Gott und Mensch anklingt, bringt die Ehrfurcht ins Spiel, die Ehrfurcht vor Gott, aber auch die Ehrfurcht vor den Menschen, egal welcher Hautfarbe, egal welcher Muttersprache, egal in welchem Land der Erde.



    Da kommt dann auch die Frage der Gerechtigkeit ins Spiel. Und es ist eindeutig ungerecht, wenn wir Menschen, die aus Krieg, Verfolgung und Armut zu uns nach Deutschland kommen, sofort dem Verdacht aussetzen, sie wollten unsere Sozialsysteme plündern.



    Zu diesem dritten Akkord gehört auch die Ehrfurcht vor der Schöpfung, der Schutz von Pflanzen und Tieren. Mecklenburg-Vorpommern ist eine einzigartige Naturlandschaft. In der Pflege und Sorge darum stehen wir als Kirchen an der Seite der Politikerinnen und Politiker. Damit dieser dreifache Akkord hier in Mecklenburg-Vorpommern hörbar ist, erfahrbar ist, bei allen Politikern und in der gesamten Gesellschaft, deshalb gibt es in unserer Landeshauptstadt hier das Katholische Büro. Ebenso wie das Büro des evangelischen landeskirchlichen Beauftragten ist es eine Kontaktstelle zwischen der Kirche und der Landesregierung.



    Frau Schophuis hat als Nachfolgerin von Schwester Bührle für die Erzbistümer Berlin und Hamburg die Leitung des Katholischen Büros Schwerin übernommen. Unser Gebet, unsere guten Wünsche und dieser dreifache Akkord des Evangeliums sollen sie dabei begleiten. Amen
  • Grußwort von Herrn Erzbischof Dr. Werner Thissen zur Eröffnung der Karikaturenausstellung "Alle in einem Boot" / St. Marien-Dom Hamburg / 19. 01. 2014
    Sehr geehrter Herr Kleiner,

    sehr geehrte Damen und Herren,



    unser St. Marien-Dom ist ein Ort der kulturellen Begegnung. An einem Sonntag feiern dort gleich drei Sprachgruppen ihre Gottesdienste. Deutsche, Kroaten und Portugiesischsprachige gehen hier ein und aus. Zusammen mit all den Katholiken aus 171 Nationen, die unserem Erzbistum leben, kommt hier also eine internationale Schar von Gläubigen zusammen.

    Die Ausstellung, deren Eröffnung wir heute feiern, ist ebenfalls ein Ort der kulturellen Begegnung. Es ist eine Begegnung der humorvollen und manchmal auch bissigen Art. Afrika und Europa, der Senegal und Deutschland finden in den ausgestellten Karikaturen zusammen.

    Als ich mir im Vorwege den Ausstellungskatalog anschaute, da musste ich einige Male kräftig lachen. Oft genug blieb mir das Lachen aber auch im Hals stecken. Die spitze Gegenüberstellung von europäischen Vorstellungen in Bezug auf Afrika und afrikanischen Vorstellungen in Bezug auf Europa rüttelt wach.



    Wenn ich auch schon öfters in Ländern des Südens unterwegs war, so wurde ich doch nachdenklich. Mit welchen Vorstellungen von Afrika lebe ich? Was weiß ich überhaupt von den afrikanischen Kulturen, Gesellschaften und ihrer Geschichte und Gegenwart? Und umgekehrt: Welche Europa- bzw. Deutschlandbilder sind mir auf meinen Reisen im Süden begegnet?

    Das Schmunzeln und Lachen, das diese Karikaturen hervorrufen, hilft bei der Kritik eigener Vorurteile und persönlicher Vorstellungen. Hinter all dem Humorvollen stehen aber auch bittere Realitäten: Ungerechtigkeit und Krieg, Hunger und Flucht. Die Karikaturen aus Deutschland und dem Senegal zeigen deutlich: In einer globalen Welt können wir diese Probleme nicht von uns wegschieben. Afrika und Europa gehören zusammen.



    Ich danke dem Erzbistum Bamberg in Vertretung von Ihnen, sehr geehrter Herr Kleiner, und unserem Hilfswerk Missio für die Konzeption dieser schönen Ausstellung. Gemeinsam mit den Karikaturisten aus Deutschland und dem Senegal ist ein engagiertes und innovatives Projekt weltkirchlicher Zusammenarbeit entstanden. Vielen Dank!
  • Predigt zum 25jährigen Bischofsjubiläums von Weihbischof Dr. Hans-Jochen Jaschke / Hamburg / 08. 01. 2014
    Ein Bischof vor den Herausforderungen unserer Zeit



    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    „Gebt ihr ihnen zu essen“ – der Auftrag Jesu aus dem Evangelium heute an seine Jünger damals gilt auch für seine Jünger heute. „Gebt ihr ihnen zu essen“ – diesen Auftrag Jesu hat sich auch unser Weihbischof Dr. Hans-Jochen Jaschke zueigen gemacht.



    Sein Einsatz zur Linderung von Not



    Welternährung und gerechte Verteilung von Nahrungsmitteln sind ständige Themen in der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, in der unser Weihbischof mitarbeitet. Als Vorsitzender unserer Caritasverbände Hamburg und Schleswig-Holstein und unserer Krankenhausgesellschaft sorgt er dafür, dass Not gelindert werden kann. Wo immer Menschen in Not sind, bist du, lieber Hans-Jochen, gesuchter Ansprechpartner.



    Seine Hilfe in seelischer Not



    Das gilt für leibliche Not. Das gilt aber erstrecht für geistige und seelische Not. Denn als Bischof verstehst du dich vor allem als Seelsorger. Wir haben im Erzbistum Hamburg den Vorteil, dass wir als Bischöfe zu dritt sind, so dass wir oft in den Gemeinden präsent sein können. Darüber hinaus ist Weihbischof Jaschke seitens der Deutschen Bischofskonferenz Beauftragter für die Seelsorge in der Bundespolizei. Und bei uns im Erzbistum ist er zuständig für die Gemeinden anderer Muttersprachen. Eine Fülle seelsorglicher Aufgaben.



    Sein Dienst der Vermittlung in den Medien



    Unser Weihbischof Jaschke hat eine besondere Begabung, aktuelle Fragen politischer oder gesellschaftlicher Art in Beziehung zu setzen zum Evangelium. Das hat ihn in ganz Deutschland bekannt gemacht, weil er mit solchen Themen die Kirche oft in Talkshows vertritt. „Ich bin gern in den Medien“, so wird er zitiert. Aber er sagt auch: „Ich suche den Ausgleich zwischen einer flotten Schlagzeile und langweiliger Ausführung, bei der niemand mehr zuhört.“ Dabei gelingt es dir, lieber Hans-Jochen, auch unpopuläre katholische Positionen einsichtig zu machen.



    Seine Mitarbeit in den Kommissionen der Bischofskonferenz



    Das haben natürlich seit langem auch die Mitbrüder in der Deutschen Bischofskonferenz gemerkt. Deshalb ist unser Weihbischof Jaschke nicht nur in der Kommission Weltkirche Mitglied, sondern auch in der Ökumenekommission. Ökumene ist für uns im Norden ein besonders wichtiges Stichwort. Als ich vor elf Jahren nach Hamburg kam, fiel mir sofort auf, wie gut das Miteinander unter den christlichen Konfessionen hier ist. Auch auf diesem Feld hat Weihbischof Jaschke seit fünfundzwanzig Jahren große Verdienste. Auf dem Evangelischen Kirchentag im vergangenen Jahr in Hamburg wurde das gute Miteinander besonders erlebbar.



    Während Weihbischof Dr. Jaschke in drei Kommissionen unserer Bischofskonferenz mitarbeitet, neben Weltkirche und Ökumene auch in der Pastoralkommission, gibt es noch eine weitere Kommission, in der er als Vorsitzender besondere Verantwortung hat. Es ist die Kommission für den Interreligiösen Dialog. Auch diese Thematik ist in einer Weltstadt wie Hamburg besonders wichtig. Weihbischof Jaschke sorgt hier für die notwendigen Kontakte und Gespräche.



    In all diesen Tätigkeiten bist du, lieber Hans-Jochen, ein Bischof, der sich in theologischen Fragestellungen bestens auskennt. Deine Doktorarbeit hast du bei Professor Joseph Ratzinger angefertigt. Und auch jetzt noch triffst du dich jährlich gemeinsam mit den anderen aus dem Schülerkreis bei Papst Benedikt in Rom.



    Sein geistliches Fundament



    Sie merken, liebe Schwestern und Brüder, in wie vielen Themen und Arbeitsbereichen unser Weihbischof zu Hause ist. Da stellt sich fast von selbst die Frage, ob es eine gemeinsame Klammer gibt, durch die all die vielen Tätigkeiten zusammengehalten werden. Ja, diese Klammer gibt es. Sie macht deutlich, in welcher Intention, mit welcher Zielvorstellung unser Weihbischof Jaschke seinen Dienst gestaltet. Diese Klammer wird deutlich in seinem Bischöflichen Wahlspruch, unter den er vor fünfundzwanzig Jahren sein Wirken gestellt hat.

    Dieser Wahlspruch steht im Neuen Testament im 2. Petrusbrief. Da heißt es: Wir – gemeint sind die Jünger – sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten. Sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe. Und dann ist die Rede von der Verklärung Jesu auf dem Berg, und von der Stimme, die rief: Das ist mein geliebter Sohn. Der Text gehört zu den Spätschriften des Neuen Testaments. Aber in ihm ist die Erfahrung der Apostel aufbewahrt, dass Jesus bei seiner Verklärung als Sohn Gottes bestätigt wurde. Er ist das Wort. Und in diesem Wort leuchtet uns das Licht auf, das an einem finsteren Ort scheint.



    Ja, wir gehen unseren Weg des Glaubens immer wieder auch durch Dunkelheiten hindurch. Aber das Licht Christi leuchtet. Es verlässt uns nicht. Es begleitet uns „donec dies illucescat“, bis der Tag anbricht.



    In dieser Zuversicht, dass wir auf den Tag Christi zugehen, dass wir dieses Ziel vor Augen haben, verrichtet unser Weihbischof Dr. Hans-Jochen Jaschke seinen Dienst. Bis der Tag Christi da ist. Dieser Wahlspruch macht uns Mut, dass das Licht des Glaubens auf Dauer stärker ist als alle Finsternis. Mit diesem Mut geht uns Weihbischof Jaschke voran, und wir folgen ihm gern.



    Lieber Hans-Jochen, im Namen des ganzen Erzbistums und auch im Namen der Deutschen Bischofskonferenz und im Namen aller hier Versammelten danke ich dir sehr herzlich für deinen Dienst durch fünfundzwanzig Jahre hindurch hier im Norden. Amen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum Jahreswechsel / St. Marien-Dom, Hamburg / 31. 12. 2013
    Aspekte des Jahres 2013



    Liebe Schwestern und Brüder,



    als die Zeit erfüllt war – so hieß es vorhin in der Lesung aus dem Galaterbrief – als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn. Und Jesus sagt am Beginn des Markusevangeliums: Die Zeit ist erfüllt, kehrt um und glaubt an das Evangelium. Mit dem Kommen Christi in unsere Welt, das wir Weihnachten gefeiert haben, ist die Zeit erfüllt.



    1. Persönliche Aspekte



    Jetzt frage ich Sie: Haben Sie das Jahr 2013, das in seinen letzten Zügen liegt, als eine erfüllte Zeit erlebt?



    Die Frage ist zunächst sehr persönlich. Sie erfordert auch eine persönliche Antwort, je nach dem, was sich für Sie in diesem Jahr alles ereignet hat. Erfüllte Zeit? Wie war das bei mir in diesem Jahr? Bin ich im Rückblick auf 2013 eher skeptisch oder traurig oder dankbar? Nehmen Sie sich heute oder morgen Zeit für Ihre persönliche Antwort.



    2. Gesellschaftliche Aspekte



    Aber es gibt auch Ereignisse, die uns alle gemeinsam betreffen. Ich nenne Ihnen einen Bereich, der mir besonders am Herzen liegt. Es ist die völlig unterschiedliche Lebenssituation der Menschen auf unserer gemeinsamen Erde. Natürlich gibt es immer Ärmere und Reichere. Das ist nicht das Problem. Aber ein Problem ist es, ja ein Ärgernis ist es, eine Ungerechtigkeit ist es, dass die Nahrungsmittel auf der Erde so ungleich verteilt sind.



    Ich muss es immer wieder sagen: Im Süden der Erde werden die Menschen krank oder sterben, weil sie nichts zum Essen haben. Im Norden der Erde, bei uns, werden die Menschen krank, weil sie zu viel essen. Beides ist nicht menschlich.



    Um es noch konkreter zu sagen: In der Südhälfte der Erde leiden 800 Millionen Menschen an Hunger, oft mit tödlichem Ausgang. In der Nordhälfte der Erde leiden 800 Millionen Menschen an Übergewicht. Es kann auch durch Krankheit bedingt sein. Die meine ich jetzt nicht. Wenn ich von beiden Gruppen, den Hungernden und den Übergewichtigen, einen Menschen heraus bitte und sie einander gegenüberstelle, was werden sie sich gegenseitig sagen? Der Hungernde wird sagen: Hilf mir! Der Übergewichtige wird sagen: Klar, das sehe ich ein, ich helfe dir. Und auch wer nicht zu viel Gewicht hat, wird sagen: Die Nahrungsmittel sind ungerecht verteilt. Das müssen wir ändern. Ich danke allen herzlich, die dabei helfen. Und wir können es ändern. Unsere kirchlichen Hilfswerke sind ganz nahe dran bei den Armen im Süden. Zugleich ist das aber auch eine Frage nach unserem Lebensstil. Die lebensbedrohliche Armut in der Südhälfte der Erde kann uns nicht gleichgültig lassen. Der Globalisierung der Gleichgültigkeit müssen wir mit der Globalisierung der Nächstenliebe begegnen.



    3. Weltkirchliche Aspekte



    Wenn ich auf die Kirche schaue, dann hat mich 2013 besonders berührt der Rücktritt von Papst Benedikt. Was für eine bewegende Geste! Sie zeigt doch, Papstsein ist keine persönliche Auszeichnung, keine Leistung oder Karriere. Papstsein ist wie jede Aufgabe in der Kirche ein Dienst. Wenn ein solcher Dienst nicht mehr geleistet werden kann, dann überlässt man ihn einem anderen.



    Wir verdanken Papst Benedikt wegweisende theologische und spirituelle Erkenntnisse. So wie wir heute noch Augustinus oder Theresa von Avila lesen, so werden weit entfernte Zeiten noch Papst Benedikt lesen. Und wir sollten es auch weiter tun.



    Und dann Papst Franziskus. Sein Auftreten und seine Gesten begeistern. Was er sagt, lässt aufhorchen. Ich nenne Ihnen einige Beispiele.



    Ein wichtiges Stichwort in seinen Reden und Schriften heißt „Barmherzigkeit“ (37/114). Barmherzigkeit mit den Armen der Welt. Den Hungernden. Den zu kurz Gekommenen.



    Barmherzigkeit aber auch in der Kirche. Auch für diejenigen, die mit den Moralvorstellungen der Kirche nicht zu recht kommen (36). Wir sollen mehr über die Liebe predigen als über die Enthaltsamkeit, sagt der Papst (38). Er sieht, dass wir da manchmal die Rangordnung der Werte vertauscht haben. Das hat Konsequenzen für die Morallehre. Auch für Geschiedene, die wieder heiraten. Natürlich ist die Ehe unauflöslich. Das sagt uns Jesus. Aber man muss auch Fragen, ob wir mit den Gescheiterten immer so umgegangen sind, wie Jesus das will.



    Zum Kommunionempfang sagt Papst Franziskus: Die Eucharistie ist keine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen. Und weiter: Die Kirche ist keine Zollstation, wo man erst seine Papiere vorzeigen muss, um hinzutreten zu dürfen (47).



    Und dann fügt der Papst einen Satz hinzu, der programmatisch ist. Er sagt: Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, lieber als eine Kirche, die vor lauter Angst, Fehler zu machen, sich verschließt (49).



    Dann lobt der Papst den Dienst der Frauen in der Kirche. Aber, so sagt er, die Räume für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche müssen erweitert werden (103). Darüber haben wir vor einem Jahr in der Bischofskonferenz diskutiert. Jetzt macht der Papst Mut, weiter darüber nachzudenken.



    All das und vieles mehr können Sie nachlesen im Schreiben des Papstes, das Sie auch im Internet finden. Es trägt die Überschrift: Die Freude des Evangeliums. Das steht beim Papst im Vordergrund: Christsein ist nicht zuerst Last, sondern Freude. Christsein ist eine Qualität, die das Leben weit und liebenswert macht.



    Es ist klar, dass Papst Franziskus mit seinen Worten und Taten auch Kritik erfahren wird. Je länger, desto mehr. Hoffentlich gibt es unter den Kritikern nicht Fanatiker, wie damals nach dem 2. Vatikanischen Konzil Bischof Lefebvre, die dann eine Spaltung der Kirche in Kauf nehmen. Papst Franziskus ist kein Fanatiker oder Revolutionär. Er schreibt: Seien wir realistisch, doch ohne die Heiterkeit, den Wagemut und die hoffnungsvolle Hingabe zu verlieren (109). Auf Heiterkeit, Wagemut und hoffnungsvolle Hingabe hoffe ich auch bei Kritikern des Papstes, die nicht ausbleiben werden.



    Die Zeit ist erfüllt. Die Zeit des Jahres 2013 wird hoffentlich als eine Zeit in die Geschichte eingehen, in der ein großer missionarischer Aufbruch in unserer Kirche begann.



    4. Bistumsaspekte



    Wenn ich auf unser Erzbistum schaue, dann treten wir langsam in eine neue Epoche ein. Die Gründungszeit ist zu Ende. Das Erzbistum ist 2013 achtzehn Jahre alt geworden. Volljährig.



    Schmerzlich mussten wir uns von zwei Gründungsvätern verabschieden. Am 29. Juli starb unser Gründerbischof Erzbischof Dr. Ludwig Averkamp. Am 21. November starb unser erster Dompropst Dr. Alois Jansen. Er hat auch das Bistum geleitet in der Zwischenzeit nach dem Rücktritt von Erzbischof Ludwig bis zu meinem Dienstbeginn. Beiden bleiben wir in Dankbarkeit verbunden. Ich finde es tröstlich, dass beide auch hier in der Bischofsgruft und auf dem Domherrenfriedhof ihr Grab haben. Beide haben den Aufbruch in die Pastoralen Räume noch mit begleitet.



    5. Mit Christus auf dem Weg



    Die Zeit ist erfüllt. Nicht weil in wenigen Stunden das Jahr zu Ende ist. Sondern weil Jesus Christus gekommen ist. Er ist Sinn und Ziel unseres Lebens. In seine Hände legen wir dankbar und vertrauensvoll dieses zu Ende gehende Jahr. Aus seinen Händen empfangen wir zuversichtlich das Jahr 2014. Er geht mit uns auch im neuen Jahr auf unserem Weg durch die Zeit. Bis in die Ewigkeit. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im Requiem von Dompropst Dr. Alois Jansen / Hamburg - St. Marien-Dom / 30. 11. 2013
    Verehrte, liebe Angehörige von Dompropst Alois Jansen,

    liebe Mitbrüder,

    liebe Gemeinde,



    mit tiefer Trauer nehmen wir Abschied von unserem Dompropst Dr. Alois Jansen. Er gehört zu den Säulen bei der Wiedergründung unseres Erzbistums Hamburg. Er war der erste Leiter unserer Pastoralen Dienststelle, der erste Dompropst, der erste und bisher einzigste Diözesanadministrator, nachdem unser Gründerbischof Erzbischof Ludwig Averkamp die Altersgrenze erreicht hatte. Beide kannten sich vom Studium in Rom her. Beide waren gemeinsam mit vielen anderen ein gutes Team bei den Anfangswegen unseres Erzbistums.

    Und nun wird Dr. Jansen als Erster auf unserem Domherrenfriedhof begraben. Für dessen Errichtung hat er hartnäckig gekämpft bis hin zu der Drohung: Sonst lasse ich mich in Sögel begraben. Von Sögel und überhaupt vom Emsland hat er oft und gern gesprochen. Er wusste, wo seine Wurzeln waren.



    Dass er kämpfen konnte, geht auch aus seinen schriftlichen Aufzeichnungen hervor, die er in den 1950er Jahren in Rom während des Studiums angefertigt hat. Einmal ging es um die Kosten für einen Autobus, den er für eine Gruppe gemietet hatte. Da schreibt er: Ich habe mich mit den Leuten vom Reisebüro schwer in der Wolle gehabt. Ich habe ihnen so richtig die Meinung gesagt: zu teuer, anderswo sei es billiger, nächstes Mal würde ich zu einem anderen Unternehmen gehen.

    Wir haben Dompropst Jansen für vieles zu danken. Als einzelne für seinen seelsorglichen Einsatz. Als Erzbistum für seine ermutigende und weitsichtige Aufbauarbeit. Als Verwandte, Freunde und Nachbarn für seine humorvolle, zugewandte und verbindliche Menschlichkeit.



    2004 hielt Dompropst Jansen die Fastenpredigten hier im Mariendom. Er hat sie mir zu lesen gegeben. Eine Aussage darin hat sich mir besonders eingeprägt. Da sagt er: Von meiner Mutter habe ich den Satz gehört: In der Gegenwart Gottes leben. Und er fügt hinzu: Dieser Satz hat mich immer begleitet.

    Und wie geht das, in der Gegenwart Gottes leben? Dompropst Jansen hat diese Frage in der Fastenpredigt nicht ausdrücklich behandelt. Aber er kommt auf das Gebet zu sprechen. Ich habe ihn so verstanden: In der Gegenwart Gottes lebe ich, wenn ich alles, was ich erlebe und erleide, in den Dialog mit Gott bringe: Bittend, dankend, klagend, preisend. Im Gebet wende ich mich dem gegenwärtigen Gott zu. „Mache ein Gebet aus deinem Leben“, zitiert unser Dompropst den Nobelpreisträger Eli Wiesel.



    Weil Alois Jansen in der Gegenwart Gottes lebte, war er überall zu Hause. Das schreibt er auch in seinem Testament. Das Evangelium, so unser Dompropst, habe ich auch ausgewählt wegen des Versprechens Jesu: Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Denn ich hatte ja auch hier schon viele Wohnungen. Und dann zählt er sie auf: in Sögel, Meppen, Rom, Twistringen, Neumünster, Eutin und schließlich auch in Hamburg.



    Dompropst Jansen konnte überall zu Hause sein, weil er in Gott zu Hause war. Für ihn war das irdische Zuhausesein die Vorbereitung auf das Zuhausesein in den ewigen Wohnungen Gottes. Und alle, die ihm im irdischen Zuhause verbunden waren, die vielen Angehörigen, die Nichten und Neffen, Frau Hillmann, die so treu für ihn und seine Kapläne gesorgt hat, sie alle bleiben ihm verbunden, wenn er jetzt endgültig bei Gott zu Hause ist.



    In seinen Aufzeichnungen findet sich ein Satz, den ich besonders charakteristisch für Alois Jansen finde. Er schreibt: Ein Satz, der mir immer besonders wichtig war, steht im 2. Korintherbrief. Dort heißt es: Wir sind nicht Herren eures Glaubens, sondern Diener eurer Freude. Alois Jansen war alles andere als ein Pfarrherr, alles andere als ein Domherr. Er war ein Verkünder der frohen Botschaft, er war ein Verkünder der Freude an Gott. Deshalb hat er auch angeordnet, dass im Requiem die Freude des Glaubens zum Ausdruck kommen soll, die Freude an der Auferstehung.

    Wir vermissen unseren ersten Dompropst sehr und werden ihn immer wieder vermissen. Deshalb ist unsere Trauer groß. Aber wir halten ihn dankbar in Erinnerung als Diener und Verkündiger der Freude an Gott.



    Schließen möchte ich mit einem Satz, den er selbst formuliert hat in einer Abhandlung über die Diaspora. Alois Jansen schreibt: Die seelsorgliche Arbeit in der Diaspora des Nordens ist einfach faszinierend … Zu Christus zu gehören ist die … beglückende Erfahrung meines Lebensweges. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass der Liturgie der Diakonenweihe / Hamburg - St. Marien-Dom / 30. 11. 2013
    Liebe Weihekandidaten,

    verehrte Angehörige, Freunde und Bekannte unserer Weihekandidaten,

    liebe Mitglieder der Gemeinden, aus denen unsere Weihekandidaten kommen,

    liebe Schwestern und Brüder,



    wir rühren in dieser Stunde an das Geheimnis Gottes. Und wir rühren an das Geheimnis des Menschen. Wer bin ich, fragt in der ersten Lesung aus dem Buch Exodus, Mose. Wer bin ich, dass ich in deinem Auftrag, Gott, meinen Weg gehen soll? Und zugleich fragt Mose: Wer bist du, fremde Stimme aus dem Dornbusch, wer bist du, Gott?

    Das ist das Entscheidende und Schönste und Wichtigste, was ein Mensch fragen kann: Wer bin ich, Gott, für dich? Und: Wer bist du, Gott, für mich?

    Gibt es Antworten auf diese beiden Fragen? Offensichtlich, sonst wären hier nicht sechs Männer, die gleich ihre Bereitschaft bekunden, sich von Gott in Dienst nehmen zu lassen.



    Aber, so könnte jemand einwenden, sind wir nicht vor Gott doch alle wie Bartimäus, der blinde Bettler im Evangelium heute? Ohne Sehen, ohne Einsehen, wer Gott ist? Ist Gott nicht der ganz Andere, der Ferne, der Unerreichbare? Ja, das ist wahr.

    Aber es ist auch wahr, dass dieser ganze Andere, Ferne, Unerreichbare uns nahe gekommen ist, uns auf den Leib gerückt ist, durch Jesus Christus.

    Wir sind wie der blinde Bettler, der nach Jesus schreit. Das finden manche unangebracht, fahren ihn an, heißt es im Evangelium, er solle still sein. Das sagen auch uns manche: Seid doch still, hört doch auf mit diesem Jesus, ihr stört doch nur.

    Er aber schrie noch lauter, heißt es von dem Blinden: Jesus, erbarme dich meiner.



    Ja, das haben unsere sechs Weihekandidaten oft und lange gerufen. Erbarme dich, kyrie eleison. Und jeder und jede, die so regelmäßig rufen, erbarme dich, kyrie eleison, und das tun wir ja in jeder Eucharistiefeier, wird von Jesus vor die Frage gestellt, wie Bartimäus: Was willst du?

    Die Weihkandidaten haben im Laufe der langen Vorbereitungszeit ihre Antwort gegeben, die heute mit der Diakonenweihe besiegelt wird.



    Aber auch alle anderen hier im Mariendom werden von Jesus gefragt: Was willst du, was soll ich mit dir anfangen, damit das Evangelium hier im Norden sich ausbreiten kann? Was willst du tun, damit viele Menschen die Lebensqualität des christlichen Glaubens erfahren können?

    Das ist ja eine Frage, die in den pastoralen Räumen von elementarer Bedeutung ist. Das nicht nur Priester und Diakone, nicht nur Gemeinde- und Pastoralreferentinnen, sondern alle Getauften und Gefirmten ihren je eigenen und ganz persönlichen Auftrag erkennen.



    Zu Mose sagt Gott: Ich bin der ich bin da. Ein geheimnisvolles Wort. Wo bist du denn, Gott? Wie kann ich dich näher kennenlernen, Gott? Was bedeute ich dir, Gott? Was willst du von mir, Gott? Die eine Antwort ich bin der ich bin da, ruft viele neue Fragen hervor. Fragen, die nicht theoretisch zu klären sind, sondern nur, indem ich mich auf Gott einlasse. Mich auf ihn einlasse im Gebet. Mich auf ihn einlasse im Gottesdienst. Mich auf ihn einlasse in Taten der Liebe.



    Unser Glaube ist ja nicht Philosophie. Es geht nicht zuerst um Nach-Denken. Es geht zuerst um Nach-Folgen. Nachfolge schließt das Nachdenken nicht aus, sondern ein. Aber Nachfolge ist nie nur theoretisch möglich, sondern immer auch praktisch notwendig.



    Wie das geht, sagt uns Paulus heute in der 2. Lesung an die Gemeinde in Korinth: Einer ist für alle gestorben, damit wir nicht mehr für uns selbst leben. Und wofür sollen wir denn leben? Paulus antwortet: Für Christus, der für alle gestorben ist. Wir können nicht für Christus leben, wenn wir nicht die anderen im Blick haben, vor allem die Armen, die Hilfsbedürftigen in unserer Nähe und weltweit. Das gehört zum wichtigsten Aufgabenbereich der Diakone. Aber auch jeder Priester und jeder Bischof hat einmal die Weihe zum Diakon empfangen. Und jeder Getaufte und Gefirmte ist auf den Weg der Nachfolge berufen, so wie es zu ihm und zu ihr passt. So können wir neue Schöpfung sein: mit Christus und für Christus.



    Die Feier der Diakonenweihe rührt an das Geheimnis Gottes, und sie rührt an das Geheimnis des Menschen. An das Geheimnis der einzelnen Weihekandidaten, und an das Geheimnis jedes Menschen hier im Mariendom. Lassen wir uns anrühren von Gott! Amen.
  • Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen: Die Bedeutung der vier Lübecker Märtyrer für Kirche und Gesellschaft / Berlin - Landesvertretung Schleswig-Holstein / 07. 11. 2013
    Sehr geehrte Frau Ministerin Spoorendonk,

    liebe Schwestern und Brüder aus der evangelischen und katholischen Kirche,

    sehr geehrte Damen und Herren,



    im Zugehen auf die Seligsprechung und das ehrende Gedenken der Lübecker Märtyrer wurden zahlreiche persönliche Dokumente der vier Geistlichen in Archiven und privaten Unterlagen gefunden. Besonders erwähnenswert sind die Briefe, welche die Inhaftierten aus den Haftanstalten in Lübeck und Hamburg an Familie und den Bekanntenkreis schrieben. Aus einem dieser Briefe möchte ich ein längeres Zitat vortragen.



    Am 21. Februar 1943 schreibt Kaplan Johannes Prassek an Gisela Gunkel, Mitglied der Herz Jesu Gemeinde in Lübeck, folgende Zeilen aus dem Lübecker Marstallgefängnis:

    „ .. liebe Gisela! Vier Monate sind es .. her, seit Du mir Deinen lieben Gruß aus Polen .. schicktest! Muß ich mich entschuldigen, daß ich solange schwieg? … Du darfst aus meinem Säumen nicht schließen, daß er mir unwert gewesen sei, Dein Brief; im Gegenteil, wie, wenn ich so lange gebraucht hätte, um mit ihm fertig zu werden? Es stimmt das zwar nicht ganz, aber einfach war es darum doch nicht, fertig zu werden mit Deinen Grüßen vom See .. , mit den Grüßen von der Freiheit und der Weite des Himmels und des Landes, mit den Grüßen vom letzten Scheiden des Herbstes, den die Marienfäden durchzogen, fertig zu werden auch endlich mit den Grüßen aus Deinem Innern, die mir schüchtern und in der Umschreibung durch andere Dinge Nachricht geben sollten von Deiner Seele …

    Wie oftmals habe ich mir sonntags Deinen Brief und das Bild vom See genommen und mich hineingeträumt in alles, was Du mir schriebst. Ich konnte mir an Hand meiner Gegenwart das alles ja so lebhaft vorstellen: Das Filigran Deiner Birken und Weiden“ – und jetzt wird Kaplan Prassek ironisch – „und das Filigran, das freilich etwas handfestere, meiner 10 Eisenstäbe hier vor dem Fenster, Dein großer unendlicher Himmel und die ¾ m2, auf die mein Zellenfenster den Blick freigibt, der Duft Deines sterbenden Herbstes und der „Duft“ eines unangenehmen Einrichtungsgegenstandes in meinem Appartement gaben genug Vergleichspunkte ab…

    Manchmal war das nicht leicht zu tragen, manchmal wollte lieber ein zorniges, trotziges Lachen der Bitternis und der Verachtung sich auf die Lippen legen, als daß noch der Wille ein Ja der Bereitschaft und der Zustimmung zu dem gesagt hätte, was sich auch in diesem als Seine“ – Gottes – „Fügung und Seine“ – Gottes – „Liebe kundgab.“

    (Zitiert nach: Peter Voswinckel 2010: Geführte Wege. Die Lübecker Märtyrer in Wort und Bild, Kevelaer & Hamburg, S. 164.)



    Sehr geehrte Damen und Herren, wie viele Briefe der vier Lübecker Märtyrer – Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink – so sind auch diese Zeilen ein bewegendes Zeugnis:

    Eine große Sehnsucht nach Freiheit drückt sich darin aus. Und auch ein stetig wiederkehrendes Ringen des Glaubens mit der bedrückenden Situation der Gefangenschaft. Politisches Wachheit und christlicher Glaube: diese zwei Dimensionen verbinden sich bei den vier Geistlichen miteinander. Auf diese beiden Aspekte möchte ich in der gebotenen Kürze eingehen.



    1. Biographie

    Zuerst möchte ich Ihnen die vier Märtyrer kurz vorstellen:



    Hermann Lange, am 16. April 1912 in Leer/Ostfriesland geboren und in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, war ein intellektueller Kopf mit einem innerlichen, tief spirituellen Glauben. Seine Predigten vor der Lübecker Gemeinde in der Herz-Jesu Kirche wurden sehr geschätzt. Gleichzeitig war er auch ein beliebter Lehrer für Schülerinnen und Schüler.



    Eduard Müller wurde am 20. August 1911 in Neumünster geboren. Heute würde man sagen, daß er über den dritten Bildungsweg zu Studium und Priesterweihe gelangte. In seinen Lübecker Jahren war er ein begeisternder Jugendseelsorger, der auch von den nationalsozialistischen Jugendverbänden umworben wurde. Mit dem Fahrrad radelte Müller bis in das nordafrikanische Tripolis, wo er vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges überrascht wurde.



    Johannes Prassek wurde am 13. August 1911 geboren. Er wuchs in Hamburg-Barmbek auf. Er war von den drei katholischen Kaplänen der mit dem ausgeprägtesten politischen Empfinden. Er wurde als erster der drei Kapläne verhaftet.



    Der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink, geboren am 28. Oktober 1894 in Münster, machte mit seiner Frau und Familie eine dramatische Wende durch: Lange Jahre war er ein ausgesprochener Befürworter der völkischen Ideologie und auch der Gedanken Hitlers. Unter dem Eindruck des zunehmend antichristlichen Kurses der Nationalsozialisten wandte er sich ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre von diesen Ideen ab.



    2. Politische Wachheit

    Die vier Geistlichen legten es nicht darauf an, politisch aktiv zu werden. Man kann aber sagen, dass sie die Zeichen der Zeit zwischen 1933 und 1945 immer deutlicher verstanden: Wer seinen Glauben an Jesus Christus nach außen trug, der musste mit politischen Konsequenzen rechnen. Öffentliches, aber auch privates Reden über den Glauben an Gott oder über das Bekenntnis zur Kirche konnten tödlich sein. Für Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink galt: Christlicher Glaube und politischer Einsatz lassen sich nicht trennen.

    Das verbindet die Vier mit Clemens August von Galen, dem Bischof von Münster. Dieser hatte schon 1934 an alle Geistlichen in seinem Bistum eine Schrift verteilen lassen, welche die rassistische NS-Ideologie von Alfred Rosenbergs Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ widerlegte. Ein Akt, den sich schon 1934 wenige Personen des öffentlichen Lebens zutrauten.

    Bekannt sind vor allem von Galens Predigten vom Sommer 1941. In diesen sprach er offen von der Ermordung von kranken und behinderten Menschen durch das Regime. Von Galen im Wortlaut:

    „So müssen wir damit rechnen, daß die armen, wehrlosen Kranken [aus der Anstalt Marienthal, WT] über kurz oder lang umgebracht werden. Warum? (…) Weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission ‘l e b e n s u n w e r t’ geworden sind, weil sie nach diesem Gutachten zu den ‘unproduktiven’ Volksgenossen gehören. Man urteilt: Sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das unheilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine Kuh, die nicht mehr Milch gibt. Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet. Was tut man mit einem lahmen Pferd, mit solch einem unproduktiven Stück Vieh? Nein, ich will den Vergleich nicht bis zu Ende führen -, so furchtbar seine Berechtigung ist und seine Leuchtkraft! Es handelt sich hier ja nicht um Maschinen, es handelt sich nicht um Pferd oder Kuh, deren einzige Bestimmung ist, dem Menschen zu dienen, für den Menschen Güter zu produzieren! (…) Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen. Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?“

    (Zitiert nach: http://kirchensite.de/downloads/Aktuelles/Predigt_Galen_Deutsch.pdf)



    Diese Predigten – die als ein offener Angriff eines Bischofs gegen das NS-Regime fast singulär dastehen – wurden von den vier Geistlichen in Lübeck vervielfältigt und verteilt. Sie taten es aus innerer Überzeugung und äußerer Betroffenheit, denn auch aus der Lübecker Heilanstalt Strecknitz wurden 1941 hunderte Menschen abtransportiert, um sie ermorden zu lassen. Überdies lebte Stellbrinks Schwester in einer Heileinrichtung. Der Pastor musste also um ihr Leben fürchten.

    Es spricht vieles dafür, dass die vier Märtyrer sterben mussten, weil man von Galen nicht antasten konnte. Es liegen Unterlagen vor, die von einer Anordnung Hitlers sprechen, alle Bezüge zu Bischof von Galen seien aus der Anklageschrift zu tilgen. (Vgl. Peter Voswinckel: Geführte Wege. Die Lübecker Märtyrer in Wort und Bild, Kevelaer & Hamburg, S. 192f.). Da man gegen den Bischof aufgrund dessen starken Rückhalts in seinem Bistum nicht vorgehen konnte, suchte man sich Menschen, die stellvertretend für ihn abgeurteilt und ermordet werden konnte.



    Auch auf andere Weise wurden die Geistlichen in ihrer Kritik deutlich. Ein Beispiel: Kaplan Johannes Prassek sorgte sich besonders um die vielen tausend osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Lübeck. Er versorgte einige von ihnen mit dem aller Notwendigsten, spendete Sakramente und kritisierte in seinen Predigten die Ungerechtigkeit, unter der diese meist jungen Menschen litten. Als besorgte Gemeindemitglieder ihm sagten: „Sei vorsichtiger mit dem, was du in der Predigt sagst,“ hat er geantwortet: „Wer soll denn sonst die Wahrheit sagen, wenn es nicht die Priester tun?“

    Ein anderes Beispiel: In den Gesprächskreisen der Märtyrer für junge Männer kam immer wieder der Krieg zur Sprache. Dies lag auch daran, dass zahlreiche Soldaten in diesen Kreisen vertreten waren. Zeitzeugen berichten, dass sich Hermann Lange dabei dezidiert gegen den Krieg ausgesprochen hat: Der Krieg sei ein riesiges Unrecht. Ein Christ dürfe deshalb eigentlich gar nicht am Krieg teilnehmen. Wer als Christ konsequent sei, der müsse den Kriegsdienst verweigern. Dabei war Kaplan Lange bewusst, was das für Folgen haben konnte.

    Ein letztes Beispiel: Pastor Stellbrink veranschaulicht mit seinem Leben auf besonders markante Weise christlichen Aufruf zur Umkehr und inneren Wandlung. Nach Jahren der Unterstützung für die nationalsozialistische Ideologie, kommen Karl Friedrich Stellbrink immer weitreichendere Zweifel. Der Tod ihm nahestehender Personen im Krieg und die immer deutlicher zutage tretende antichristliche Einstellung der Nationalsozialisten sorgten bei ihm für ein Umdenken. Seine scharfen Worte nach der Bombennacht von Lübeck im März 1942 standen am Beginn der Verhaftungswelle gegen die Geistlichen.



    3. Christlicher Glaube

    Die Seligsprechung der drei katholischen Kapläne draußen auf der Parade in Lübeck und das ehrende Gedenken des evangelischen Pastors in der Lutherkirche im Sommer 2011 zeigen deutlich: Die Motivation des Widerstandes von Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink war durch und durch religiös. Ihr christlicher Glaube stand am Anfang ihres Widerstandes, und er stand auch an dessen Ende.

    Nirgendwo eindrücklicher wird diese Verwurzelung im Glauben deutlicher als in den Abschiedsbriefen der Märtyrer. Diese schrieben sie unmittelbar vor ihrer Ermordung durch das Fallbeil am 10. November 1943 in Hamburg.

    Brief von Hermann Lange an seine Eltern und an seinen jüngsten Bruder: (Zitiert nach: Peter Voswinckel 2010: Geführte Wege. Die Lübecker Märtyrer in Wort und Bild, Kevelaer & Hamburg, S. 182)

    „Liebe Eltern, lieber Paul ! Wenn Ihr diesen Brief in Händen haltet weile ich nicht mehr unter den Lebenden! Das, was nun seit vielen Monaten unsere Gedanken immer wieder beschäftigte und nicht mehr loslassen wollte, wird nun eintreten. (…) Wenn Ihr mich fragt, wie mir zumute ist, kann ich Euch nur antworten: ich bin 1.) froh bewegt, 2.) voll großer Spannung ! Zu 1.: für mich ist mit dem heutigen Tage alles Leid, aller Erdenjammer vorbei – und Gott wird abwischen jede Träne von ihren Augen! Welcher Trost, welch wunderbare Kraft geht doch aus vom Glauben an Christus, der uns im Tode vorausgegangen ist. An Ihn habe ich geglaubt und gerade heute glaube ich fester an Ihn und ich werde nicht zuschanden werden. Wie schon so oft möchte ich Euch auch jetzt noch einmal hinweisen auf Paulus.“

    Dann nennt Kaplan Lange wichtige Stellen aus den Briefen des Apostels Paulus, die von Auferstehung und Leben handeln.



    Der Brief geht weiter: „Ach, schaut doch hin wo immer Ihr wollt, überall begegnet uns der Jubel über die Gnade der Gotteskindschaft. Was kann einem Gotteskinde schon geschehen? Wovor sollt’ ich mich denn wohl fürchten? Im Gegenteil“ – und jetzt zitiert er wieder Paulus – „‚freuet euch, nochmals sage ich euch, freuet euch!’ Und 2. heute kommt die größte Stunde meines Lebens! Alles, was ich bis jetzt getan, erstrebt und gewirkt habe, es war letztlich doch alles hinbezogen auf jenes eine Ziel, dessen Band heute durchrissen wird. „Was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört hat und was in keines Menschen Herz gedrungen ist, hat Gott denen bereitet, die ihn lieben“ (1. Kor. 2,9.) Jetzt wird für mich der Glaube übergehen in Schauen, die Hoffnung in Besitz und für immer werde ich Anteil haben an Dem, Der die Liebe ist! Da sollte ich nicht voller Spannung sein? Wie mag alles sein? Das, worüber ich bisher predigen durfte, darf ich dann schauen! Da gibt es keine Geheimnisse und quälenden Rätsel mehr.“



    Worte wie diese verbinden mich persönlich sehr mit dem historischen Geschehen von 1943. Sie ermutigen mich, Erinnerung nicht nur in einer Art Rückschau zu betreiben. Vielmehr suche ich nach einer Erinnerung, die uns befähigt, Kraft zu schöpfen für die Gegenwart; nach einer Erinnerung, die aufgrund von gesammelten Erfahrungsschätzen konkrete Hoffnungen mit der Zukunft verbindet. Dabei verbindet sich die Hoffnung auf eine von Gott zugesagte Vollendung mit dem Streben nach Gerechtigkeit im Hier und Jetzt.



    4. Fazit

    Das Große der Lübecker Märtyrer besteht darin, dass sie über die Grenzen ihrer unmittelbaren Umgebung hinausschauten und den Geboten Gottes nichts überordneten. Das war damals absolut nicht üblich. Die meisten Menschen dachten damals: Was gehen uns polnische Zwangsarbeiter an?



    Von den Lübecker Märtyrern lernen wir, dass wir heute unter völlig anderen Bedingungen nicht sagen können: Was gehen uns die Verhungerten in Ostafrika und die ungerechte Nahrungsmittelverteilung auf der Welt an? Was gehen uns die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken Südostasiens an? Was geht uns die Situation der Sinti und Roma in Osteuropa an? Oder: Was gehen uns die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer an?

    So erhält Erinnerung eine unmittelbar politische Relevanz. Von daher bin ich sehr dankbar, dass wir vor einigen Tagen die Gedenkstätte Lübecker Märtyrer in Lübeck eröffnen konnten. Auch diese trägt einen Teil dazu bei, dass von Generation zu Generation neu die Erinnerung an das Vergangene mit der Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft verbunden wird.





    Die in diesem Text wiedergegebenen historischen Zusammenhänge wurden aufgearbeitet von Peter Voswinckel 2010: Geführte Wege. Die Lübecker Märtyrer in Wort und Bild, Kevelaer & Hamburg
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass des 5jährigen Bestehens der Franziskuskapelle / JVA Neubrandenburg / 04. 11. 2013
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    es ist schon einige Zeit her, da stand ich nach einem Gottesdienst vor der Kirche und unterhielt mich mit den Leuten. Da fiel mir auf, dass ein Mann mittleren Alters abseits stand. Allein. Er schaute zu uns herüber. Ich nickte ihm zu. Er kam nicht näher. Er ging aber auch nicht weg. Als sich unser Gesprächskreis auflöste, stand er immer noch da. Ich ging zu ihm hin und schaute ihn fragend an. Nein, sagte er, ich gehöre nicht dazu. Ich habe nur für einige Stunden Urlaub aus dem Knast.



    Das ist schon einige Zeit her. Aber seitdem haben wir Kontakt. Zuerst habe ich ihn im Gefängnis besucht. Inzwischen ist er entlassen. Er baut sich ein neues Leben auf. Er ist ein gläubiger Christ geworden.



    Das ist ein gutes Beispiel für das, was Pastor Vogel gerade vorgelesen hat aus dem Evangelium: Kommt alle zu mir, sagt Jesus, die ihr es schwer habt. Und was wir bestätigt haben mit dem Lied: Du, Herr, gabst uns dein festes Wort.



    Kommt alle zu mir, sagt Jesus. Ich finde es wichtig, dass dieses Wort Jesu auch im Gefängnis gehört werden kann. Kommt alle zu mir. Vielleicht ist zuerst noch ein Schritt vorher notwendig. Bevor ich zu Jesus komme, muss ich erst einmal zu mir selbst kommen. Auch das ist im Gefängnis möglich. Dass ich mich frage: Wie soll mein Leben weitergehen? Was ist mir wichtig? Zu mir selbst kommen auch durch Entfaltung meiner Fähigkeiten. In Deutsch, Mathematik oder Geschichte. Oder in Garten- und Landschaftsbau. Vieles kann man hier lernen. Das alles kann helfen, zu mir selbst zu kommen. Und die Seelsorger helfen, zu Jesus zu kommen. Er selbst lädt jeden ein mit seinem Wort: Kommt alle zu mir. Komm zu mir im Gebet. Komm zu mir im Gottesdienst. Komm zu mir durch Nächstenliebe. Komm zu mir durch Einsatz für andere.



    In meinem Arbeitszimmer steht eine Holzschale. Eine gekonnte Arbeit. Mit einer Holzmaserung, an der man das Wachsen der Ringe des Baumes noch erkennen kann.

    „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“, heißt es in einem Gedicht von Rilke. Das Wachsen des Baumes als Beispiel für das Wachsen des Menschen, Ring für Ring.

    Unter der Schale steht der Name des Gefängnisses eingraviert und die Anfangsbuchstaben des Gefangenen, der sie angefertigt hat. Lebensringe im Gefängnis. Mir sagt die Schale: Auch im Gefängnis soll man wachsen, soll sich der Mensch entfalten.



    Was ist der Mensch, hieß es vorhin im Psalm. Was ist der Mensch, dass du, Gott, an ihn denkst. Das ist der Mensch, kann man auch sagen, das ist der Mensch, dass du, Gott, an ihn denkst.



    Das macht die Würde des Menschen aus, dass Gott an ihn denkt. Gott denkt an jeden Menschen, an den Papst und an den letzten Gefangenen. Diese menschliche Würde auch im Gefängnis erlebbar zu machen, ist wichtig. Denn auch der Mensch, der schuldig geworden ist, hat Würde. Sonst hätte ja niemand von uns Würde. Auch der Mensch, der im Gefängnis ist, hat Würde. Denn unsere Würde ist nicht unsere Leistung. Unsere Würde kommt von Gott.



    Der Mann, von dem ich zu Beginn berichtete, hat mir einmal gesagt: Meine Jahre im Gefängnis waren bittere Jahre. Ich habe dort sehr gelitten. Aber es waren Lehrjahre, harte Lehrjahre. Aber offenbar hat er menschlich dort seinen Meister gemacht. Das war auch deshalb möglich, weil er die Einladung Jesu angenommen hat: Komm zu mir. Amen.
  • Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass der Einweihung der Märtyrer-Gedenkstätte / Propsteikirche Herz Jesu zu Lübeck / 28. 10. 2013
    Liebe Schwestern und Brüder,



    Tränen, Trauer, Tod – was wir gerade aus dem letzten Buch der Bibel hörten, war für unsere vier Lübecker Märtyrer Realität. Tränen, Trauer, Tod – das haben sie erfahren in ihrer Gefängniszelle im Zugehen auf das Martyrium. Aber sie glaubten zugleich an den neuen Himmel und die neue Erde, von denen wir ebenfalls gerade aus der Heiligen Schrift hörten. In diesem Glauben haben sie ihr Leben hingegeben.



    Das ist jetzt fast siebzig Jahre her. Aber von Anfang an gibt es die Verehrung unserer Märtyrer. Der Arbeitskreis 10. November hat das nicht hoch genug einzuschätzende Verdienst, dafür gesorgt zu haben, dass das Gedenken lebendig geblieben ist. Der 24. und 25. Juni im Jahr 2011 mit dem ehrenden Gedenken für Pastor Stellbrink und der Seligsprechung der drei Kapläne Hermann Lange, Eduard Müller und Johannes Prassek hat eine neue Dimension der Erinnerung eröffnet. Die Einweihung der Gedenkstätte heute knüpft daran an.



    Weil immer mehr Menschen nach Lübeck kommen, um sich an Ort und Stelle mit dem Wirken unserer vier Märtyrer vertraut zu machen, wurde diese Gedenkstätte notwendig. Drei Aufträge sind damit verbunden.



    1. Ein geistlicher Auftrag

    Weil unsere vier Märtyrer an den neuen Himmel und die neue Erde glaubten, weil das Ewige Leben bei Gott für sie Realität war, konnten sie das Martyrium auf sich nehmen. Dazu gibt es bewegende Zeugnisse aus ihren Briefen und Aufzeichnungen. In der Gedenkstätte kann man erfahren, was christliche Lebensqualität ist und wie selbst eine totale Diktatur vor glaubensstarken Christen kapitulieren muss. Die Ausstellung macht Mut zu einem Leben mit Christus, auch angesichts von Tränen, Trauer und Tod. Unsere vier Lübecker Märtyrer vermitteln eine Kraft des Glaubens, die uns gerade heute besonders anspricht. Kraft des Glaubens im Gebet, Kraft des Glaubens im Gottesdienst, Kraft des Glaubens in der Liebe zu den Menschen nebenan und weltweit.



    2. Der ökumenische Auftrag

    Unsere vier Märtyrer gehörten unterschiedlichen Kirchen an, der evangelischen und der katholischen. Aber sie sind gemeinsam gestorben im Glauben an Jesus Christus und in der Sorge um die Menschen. Dadurch haben sie gezeigt, dass ihre Gemeinsamkeit im Glauben größer war als die Trennung in Konfessionen. Sie machen uns Mut, die Gemeinsamkeit zwischen den christlichen Konfessionen immer mehr zu suchen und für die Einheit zu beten. Was in der Gedenkstätte an Gemeinsamkeit zwischen den vier Märtyrern zum Ausdruck kommt, das verpflichtet uns zu immer mehr Gemeinsamkeit zwischen den Konfessionen im alltäglichen Umgang miteinander.



    3. Der politische Auftrag

    Die Zeit des Wirkens unserer Märtyrer war geprägt von Gewalt, Ungerechtigkeit und Menschenverachtung. Dagegen haben sie sich gewehrt. Die Ausstellung macht uns wachsam für jede Form von Gewalt, Ungerechtigkeit und Menschenverachtung heute. Sie zeigt uns, dass Menschsein und Christsein unvereinbar ist mit der Manipulation von Menschen, mit Gewalt gegen Menschen, mit Verachtung von Menschen.

    Auch wer nicht Christ ist, kann sich dem Vorbild der Märtyrer zuwenden und für sein eigenes Leben Konsequenzen ziehen. Christsein hat immer auch eine politische und gesellschaftliche Dimension. Auch das soll die Gedenkstätte vermitteln.



    In der vergangenen Woche war ich mit mehreren hundert Menschen am Grab des Naturforschers und Bischofs Niels Stensen in Florenz. Von überall her pilgern Menschen dorthin. Da überkam mich der Gedanke, dass in Zukunft auch immer mehr Menschen nach Lübeck pilgern werden. Weil sie von dem kostbaren Vermächtnis unserer vier Märtyrer an Ort und Stelle erfahren möchten. Die Gedenkstätte macht die geistliche, ökumenische und politische Dimension ihres Wirkens anschaulich. Und geschulte Helferinnen und Helfer sind da, um Auskunft zu geben.



    Auf diese Weise sollen sich immer mehr Menschen am Vorbild der Lübecker Märtyrer orientieren können. Amen.
  • Morgenansprachen von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf NDR-Info und NDR-Kultur / Hamburg / 26. 10. 2013
    Niels Stensen, Naturwissenschaftler und Bischof 1638 – 1686

    Vor 25 Jahren wurde er in Rom seliggesprochen



    Stensen letzte Lebensjahre in Hamburg und Schwerin



    Niels Stensen, der große Naturforscher und Bischof war von 1683 bis 1685 mit bischöflicher Vollmacht im Auftrag des Papstes in Hamburg tätig. Hier soll er für die wenigen Katholiken sorgen.



    Die aber sind untereinander zerstritten. In einem Brief berichtet Stensen, dass er kaum Einsatz und Freude im Glauben vorfindet. Er leidet schwer darunter, dass sein seelsorgliches Wirken so wenig Erfolg hat.



    Da bietet sich ihm die Möglichkeit, für einen längeren Aufenthalt nach Florenz zu reisen. Dort hatte er glanzvolle Tage als Naturwissenschaftler verbracht. Dort hat er Freunde. Dort kann er sich von Regen, Kälte und Nebel im Norden erholen und auch von der bedrückenden religiösen Situation hier.



    Als der Termin für die Abreise schon feststeht, erhält er einen Brief mit folgendem Inhalt:



    „Wir, Christian Ludwig von Mecklenburg, haben gütig beschlossen, dass Ihr in Schwerin die Seelsorge ordnen dürft.“



    Für Stensens geistliche Haltung ist kennzeichnend, dass er in den Ereignissen seines Lebens den Willen Gottes sieht. Dem will er sich bereitwillig unterwerfen.



    „Man muss“, so schreibt er, „den Gelegenheiten folgen, wie sie sich bieten, indem man den Erfolg der göttlichen Barmherzigkeit überlässt.“



    Und er geht nach Schwerin.



    Dort darf er zwar auf Anordnung des Herzogs, der sich ständig am Hof in Paris aufhält, in der Kapelle des Schlosses die heilige Messe feiern, aber ansonsten kann er kaum seelsorglich wirken.



    Stensen sieht jetzt seinen Dienst vor allem in stellvertretendem Beten für die Menschen, die er auf andere Weise nicht erreichen kann.



    Kaum ein Jahr nach seiner Ankunft in Schwerin stirbt Niels Stensen ein-sam, arm und erfolglos. Auf seinem Sterbelager betet er: „Jesus, sei du auch für mich Heiland und Erlöser“.



    Später wird der Leichnam Stensens auf Wunsch seines Freundes, des Her-zogs Cosimo von Florenz, dorthin überführt. Zu dem Grab in Florenz pilgern in dieser Woche hunderte Menschen aus dem Norden.



    Sie verehren Niels Stensen als Glaubenszeugen, der sich ganz dem Willen Gottes unterworfen hat. Trotz äußerlicher Erfolglosigkeit als Seelsorger hat er sich von Gott immer wieder in Dienst nehmen lassen.



    Indem wir uns an ihn erinnern, macht er uns Mut, in unserer Zeit die Liebe zu Gott und zu den Menschen zu praktizieren.

  • Morgenansprachen von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf NDR-Info und NDR-Kultur / Hamburg / 25. 10. 2013
    Niels Stensen, Naturwissenschaftler und Bischof 1638 – 1686

    Vor 25 Jahren wurde er in Rom seliggesprochen



    Verantwortung im Glauben





    Niels Stensen, der große Naturforscher und Bischof im 17. Jahrhundert hat nicht nur wissenschaftliche Schriften hinterlassen.



    Es sind auch persönliche Notizen von ihm bekannt. Darin fällt auf, wie sehr er sich für seine Mitmenschen verantwortlich fühlt. Als Arzt, aber auch als Bischof.



    „Ich glaube, in ihm einen von wahrer Menschenliebe beseelten Eifer zu erkennen“, so charakterisiert ihn sein philosophischer Gesprächspartner Johann Gottfried Leibnitz. Als Bischof will Niels Stensen vor allem die Freude des Glaubens an den Dreifaltigen Gott auch anderen Menschen vermitteln. Dabei geht er oft von Schönem und Staunenswertem in der Natur aus, um von dort zu Schönheit und Staunenswertem in Gott zu kommen.



    Ja, es ist für ihn eine Gewissensfrage, ob jemand alles getan hat, um Menschen zu Gott zu führen.



    Er leidet darunter, dass es in der Kirche so viel Fehlerhaftes und Halbherziges gibt. Für Priester und Laien formuliert er Anregungen, bei denen die Unterwerfung unter den Willen Gottes, die lebendige Beziehung zu Gott im Gebet und die tatkräftige Liebe zu den Menschen besonderes Gewicht haben. Immer wieder weist er darauf hin, dass jeder Mensch für sein Tun und Lassen einmal Rechenschaft ablegen muss vor Gott.



    Wir neigen heute dazu, dass jeder Mensch selbst entscheiden muss, ob und wie er seinen Glauben lebt. Niemand soll uns in unser religiöses Verhalten hereinreden.



    Niels Stensens Meinung dazu: Wie sich jemand im Glauben an Gott verhält, gehört zum ganz Persönlichen eines jeden Menschen.



    Persönlich ja, aber privat nein. Denn für den Glauben ist es unerlässlich, dass er ausstrahlt auf andere. Meinem Glauben fehlt die notwendige soziale Dimension, wenn ich ihn nur für mich allein leben will, wenn ich ihn vor anderen verstecke.



    „Wer an den sich verschenkenden Gott der Liebe glaubt, wird seinen Glauben an Gott weiterschenken wollen“, so hat es Bischof Heinrich Theissing formuliert, ein Nachfolger von Bischof Niels Stensen in Schwerin zu Zeiten der DDR. Solches Weiterschenken erfolgt weniger mit Worten, sondern vor allem in Taten.
  • Morgenansprachen von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf NDR-Info und NDR-Kultur / Hamburg / 24. 10. 2013
    Niels Stensen, Naturwissenschaftler und Bischof 1638 – 1686

    Vor 25 Jahren wurde er in Rom seliggesprochen



    Wissenschaft und Glaube



    Von dem Naturwissenschaftler und Bischof Niels Stensen gibt es an mehreren Orten Europas bildliche Darstellungen.



    Weit verbreitet ist sein Portrait, das ihn in Bischofskleidung zeigt und dessen Original im anatomischen Institut der Universität Kopenhagen hängt.



    Ebenfalls in seiner Geburtsstadt Kopenhagen steht vor der naturwissenschaftlichen Abteilung der Universitätsbibliothek die große Plastik, auf der er als Anatom am Seziertisch zu sehen ist.



    Was in Kopenhagen in getrennten Kunstwerken gestaltet worden ist, einmal der Bischof und einmal der Naturwissenschaftler Stensen, das verbindet ein Wandbild im anatomischen Institut der Universität Fribourg in der Schweiz in einer einzigen Darstellung. Auf der einen Seite sitzt Niels Stensen wieder am Seziertisch und erklärt das Wissen über den menschlichen Körper. Auf der anderen Seite verkündet der Bischof das Evangelium und erklärt den Glauben an Jesus Christus.



    Wissen und Glauben – Niels Stensen ist wichtig, dass beide eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen.



    Scharf verurteilt er diejenigen, die sich über Mensch und Welt „verschiedene Einbildungen erdichten“, ohne deren Wahrheit durch Beobachtung und Experiment zweifelsfrei festzustellen.



    Ebenfalls aber kritisiert er andere, die lediglich die äußeren Erscheinungsweisen zur Kenntnis nehmen, ohne nach deren letzten Ursachen zu forschen.



    „Kein normaler Mensch“, schreibt er, „kann doch eine Statue, ein Gemälde, eine Uhr oder irgendeine kunstfertige Maschine anblicken, ohne sich sofort angetrieben zu fühlen, den Schöpfer jener Dinge zu lieben und hochzuschätzen. Wie könnte man den Bau des menschlichen Körpers, der himmelhoch über jede menschliche Kunst erhaben ist, aufmerksam betrachten, ohne ei-nen heftigen Antrieb zu fühlen, seinen Schöpfer zu verehren und zu lieben.“



    Niels Stensen öffnet uns die Augen dafür, wie sehr Wissen und Glauben aufeinander verwiesen sind. Beide brauchen einander, um das Ganze der Wirklichkeit in den Blick zu nehmen.
  • Morgenansprachen von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf NDR-Info und NDR-Kultur / Hamburg / 23. 10. 2013
    Niels Stensen, Naturwissenschaftler und Bischof 1638 – 1686

    Vor 25 Jahren wurde er in Rom seliggesprochen



    Herz und Kreuz



    Zu den bekanntesten Entdeckungen des Naturforschers und späteren Bischofs Niels Stensen gehört, dass das Herz ein Muskel ist.



    Hatten andere Forscher vor ihm das Herz als Quelle des Blutes gesehen und als Wärme produzierendes Organ, so zeigt Stensen bei der Sezierung eines Ochsenherzens, dass das Herz nichts anderes ist als ein Muskel.



    In einem späteren Brief kritisiert er seine ungläubigen Forscherkollegen, die das Herz als Sitz ganz unterschiedlicher Funktionen bestimmt hatten, mit folgenden Worten:



    „Wenn diese Herren sich bei den materiellen Dingen, die den Sinnen so zugänglich sind, so getäuscht haben, welche Sicherheit können sie mir dann dafür bieten, dass sie sich nicht täuschen, wenn sie von Gott und der Seele sprechen.“



    In der Erforschung der Natur wie auch im Fragen nach dem Glauben ist Stensen der präzise, methodisch arbeitende Wissenschaftler.



    Dabei stellt er fest: Durch Beobachtung und Schlussfolgerung lässt sich die Wahrheit über Pflanzen, Tiere und den Körper des Menschen finden. Die Wahrheit über Sinn und Ziel des menschlichen Lebens aber lässt sich nicht erkennen ohne die Offenbarung Gottes.



    So wendet sich der Naturwissenschaftler Stensen immer mehr der Bibel und dem Glauben zu. Für seine akademischen Kollegen ist es unfassbar, dass er die glanzvolle Rolle des berühmten Forschers schließlich mit dem Dienst des Priesters vertauscht.



    Aber für Stensen wird die Frage nach dem Geheimnis Gottes und dessen Be-ziehung zu Mensch und Welt noch wichtiger als alles andere.



    Bereits als junger Mann hatte Stensen für sich ein Wappen entworfen. Es zeigt das stilisierte Herz des Menschen und darüber das Kreuz Christi. Später wird daraus sein Bischofswappen werden.



    Mensch und Gott, so will Stensen mit dem Wappen zeigen, stehen miteinander in Beziehung. So wie das Herz den Blutkreislauf in Bewegung hält, so vermittelt das Kreuz Jesu die geistliche Bewegung hin zum lebendigen Gott.



    Stensen hat durch seine anatomische Forschung das Herz des Menschen zwar entzaubert. Zugleich hat er den Menschen im Kreuz Christi eine Sinn-fülle aufgezeigt, die über alles Diesseitige und Endliche hinausweist.
  • Morgenansprachen von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf NDR-Info und NDR-Kultur / Hamburg / 22. 10. 2013
    Niels Stensen, Naturwissenschaftler und Bischof 1638 – 1686

    Vor 25 Jahren wurde er in Rom seliggesprochen



    Die Sehnsucht nach Einheit der Christen





    Der Naturforscher und Bischof Niels Stensen, dessen Gedenken in dieser Woche Hunderte aus dem Norden in Rom und Florenz versammelt, hat die Not der Kirchenspaltung am eigenen Leib erfahren.



    Als evangelischer Christ erlebt er in Kopenhagen, wie die verschiedenen Konfessionen sich gegenseitig bekämpfen. Die Trennung der Christen ist für ihn ein Skandal. Entschieden wendet er sich gegen die Auffassung, das Nebeneinander der unterschiedlichen christlichen Konfessionen sei gar nicht so schlimm, wenn man nur friedlich miteinander umgehe.



    Das Erlebnis einer Fronleichnamsprozession in Italien führt ihn zu folgender Frage, die er in einem Brief formuliert:



    „Wie ich nun die Hostie in feierlicher Prozession durch die Straßen tragen sah, fühlte ich meinen Geist von folgender Erwägung ergriffen:

    Entweder ist diese Hostie ein einfaches Stück Brot, dann sind jene, die ihr so große Ehre erweisen, Toren –

    Oder hier ist wirklich Christi Leib zugegen, weshalb ehrst du ihn dann nicht.“



    Die Beantwortung dieser Frage führt ihn in die katholische Kirche.



    Heute betonen wir in allen christlichen Kirchen unsere Sehnsucht nach Einheit. Vor allem schmerzt die Trennung am Tisch des Herrn.



    Für Stensen wächst die Einheit der Christen, wenn möglichst viele in ihrem persönlichen Leben den Herrn suchen und sich ihm anvertrauen.



    Er ist davon überzeugt, dass die Liebe zu Gott und den Menschen zur Einheit der Christen führt.



    Stensen ist sich in seinen Gesprächen mit dem Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm von Leibnitz einig, dass beide Seiten die Spaltung verursacht haben. Die Reformatoren hätten sich stärker bemühen müssen, die kirchliche Einheit zu bewahren. Papst und Bischöfe hätten geduldiger auf berechtigte Forderungen eingehen müssen.



    Stensen tadelt auch die Vorurteile auf beiden Seiten. Nichts ist schwieriger als Vorurteile abzulegen, sagt er, und meint damit nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst.



    Niels Stensen, der große Naturforscher und Bischof aus dem Norden, drängt uns, in Gebet, Gottesdienst und Nächstenliebe den Weg zur Einheit der Christen zu intensivieren.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im Eröffnungsgottesdienst der Niels Stensen Wallfahrt / Rom, St. Peter / 21. 10. 2013
    Liebe Wallfahrerinnen und Wallfahrer,

    liebe Schwestern und Brüder,



    der Selige Niels Stensen, auf dessen Spuren wir pilgern, hat ein ansprechendes Wappen. Sie kennen es von Ihrem Pilgerschal, das Herz mit dem Kreuz. Viele Deutungen sind möglich. Wenn ich das Herz als Symbol für den Menschen nehme und das Kreuz als Symbol für Christus, dann frage ich: Wie verhalten sich das Menschliche und das Christliche in der Kirche zu einander? Oder: Wo schlägt das Herz der Kirche?



    Das Herz der Kirche schlägt in Rom, lese ich in einem Pilgerführer. Dafür lassen sich gute Gründe nennen: Hier verehren wir die Gräber des Apostels Petrus und vieler anderer Heiliger, hier ist der Sitz des Papstes und seiner Mitarbeiter, hier hat das Zweite Vatikanische Konzil stattgefunden und im Anschluss daran die Bischofssynoden. Das Herz der Kirche schlägt in Rom. Deshalb ist eine Romreise ein besonderes Erlebnis. Und doch ist es nur ein Teil der Wahrheit.



    Papst Benedikt hat vor Jahren in einem Aufsatz geschrieben: „Kirche ist dort, wo die Sakramente gefeiert werden.“ Dort schlägt das Herz der Kirche. Vor allem in der Feier der Eucharistie. Ob wir die Heilige Messe hier im Petersdom feiern oder in unserer kleinsten Diasporakirche, wir feiern sie immer in Gemeinschaft mit Papst und Bischof, wir feiern sie immer als persönliches Sakrament des Glaubens.



    Diese Sakramentalität der Kirche wurde für Niels Stensen zum entscheidenden Impuls, katholisch zu werden, als er in Livorno die Fronleichnamsprozession miterlebte. Wenn wir am Fronleichnamstag in Hamburg mit dem Allerheiligsten durch die Lange Reihe ziehen, vorbei an Biertischen, umweht von Speisedüften, dann denke ich immer an Niels Stensens Fronleichnamserfahrung.



    Wo schlägt das Herz der Kirche? Es schlägt auch überall dort, wo Menschen sich unter das Wort Gottes stellen und darauf antworten im Gebet. Gott ist Wort. Der Mensch ist Antwort. Vielleicht brauchte es die Erfahrung des Priestermangels und der damit verbundenen Reduzierung der Zahl der Eucharistiefeiern, um wieder neu zu entdecken: Wo Getaufte und Gefirmte sich unter das Wort Gottes stellen und im Gebet darauf antworten, da schlägt auch das Herz der Kirche. Selbst wenn es zunächst nur wenige sind, welche den Pionierdienst der Wortgottesfeiern an Werktagen auf sich nehmen, vielleicht nur zwei oder drei, aber wir wissen doch, was Jesus gesagt hat von den zwei oder drei, die in seinem Namen versammelt sind. Auch dort findet das Herz als Symbol des Menschen und das Kreuz als Symbol Christi zusammen, auch dort schlägt das Herz der Kirche.



    Aber auch wenn ich morgens oder abends mit dem Kreuzzeichen den Tag beginne oder beschließe, wenn ich völlig allein bete, bin ich angeschlossen an den Blutkreislauf der Kirche, fühle ich mich verbunden mit den vielen Betenden auf der ganzen Welt. Wer glaubt, ist nicht allein, singen wir im Anschluss an die Weltjugendtage. Wer glaubt, ist nicht allein. Wer betet, bringt zum Ausdruck, dass er nicht allein ist, dass sein geistlicher Blutkreislauf bewegt wird vom Herzschlag der Kirche.



    Wo schlägt das Herz der Kirche? Auch überall dort, wo ich mich einem Hilfsbedürftigen zuwende. In meiner Umgebung und weltweit. Unsere Hilfswerke sind eine wichtige Möglichkeit, dass wir als Kirche nicht an Herzverfettung erkranken.



    Aber erleben wir nicht auch immer wieder, dass es in der Kirche zu Herzrhythmusstörungen kommt? Es fallen Ihnen dazu genügend Beispiele ein. Ja, diese Herzrhythmusstörungen gibt es und können uns arg zusetzen und aus dem Takt bringen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns bewusst machen, wo das Herz der Kirche schlägt. Es schlägt in seiner geschichtlichen Dimension, die hier in Rom besonders spürbar wird in der Kontinuität zwischen dem ersten der Apostel damals, Petrus, und dem ersten der Bischöfe heute, Papst Franziskus. Das Herz der Kirche schlägt in seiner sakramentalen Dimension, die in jeder Gemeinde erfahrbar ist. Das Herz der Kirche schlägt in seiner personalen Dimension, wo es ganz auf den Einzelnen persönlich ankommt in seiner Beziehung zu Gott im Gebet. Und das Herz der Kirche schlägt in seiner weltweiten Dimension, die wir erfahren in unseren Hilfswerken, aber auch in unseren Gemeinden anderer Muttersprache und in jedem Fremden oder Hilfsbedürftigen, dem wir begegnen.



    Das Herz der Kirche ist Jesus Christus. In dem Maße, in dem unser Herz sich mit seinem Herzen verbindet, in der geschichtlichen Dimension, in der sakramentalen Dimension, in der personalen Dimension und in der globalen Dimension, in dem Maße schlägt das Herz der Kirche auch in uns, in jedem von uns ganz persönlich. Der Blick auf Niels Stensens Wappen macht mir das bewusst. Amen.
  • Morgenansprachen von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf NDR-Info und NDR-Kultur / Hamburg / 21. 10. 2013
    Niels Stensen, Naturwissenschaftler und Bischof 1638 – 1686

    Vor 25 Jahren wurde er in Rom seliggesprochen



    Zur Aktualität dieser faszinierenden Persönlichkeit



    In dieser Woche sind mehrere hundert Menschen aus dem Norden in Rom und Florenz unterwegs. Sie kommen aus Mecklenburg, Schleswig-Holstein und Hamburg, aus Niedersachsen und auch aus Dänemark. Das Gedenken an einen großen Naturwissenschaftler und Bischof verbindet sie. Sein Name: Niels Stensen.



    Dieser lebte zwar schon vor 350 Jahren. Aber er ist in lebendiger Erinnerung. Schulen, Kirchen, Krankenhäuser und Forschungsinstitute sind nach ihm benannt.



    Vor fünfundzwanzig Jahren hat Papst Johannes Paul II. diesen Niels Stensen in Rom seliggesprochen. Das ist der Anlass für die Wallfahrt so vieler in dieser Woche aus dem Norden in den Süden.



    Niels Stensen stammt aus einem frommen, aufgeschlossenen protestantischen Elternhaus in Kopenhagen. Schon als begabter, interessierter Jugendlicher will er allem, was ihm begegnet, auf den Grund gehen. Das lässt ihn später zu einem Europaweit anerkannten Mediziner werden und zum Begründer der Wissenschaft von der Geologie und der Kristallographie. Niels Stensen ist eine faszinierende Persönlichkeit. Als berühmter Naturwissenschaftler hat er Kontakt mit vielen Geistesgrößen seiner Zeit.



    Aber sein Forscherdrang richtet sich nicht nur auf die äußeren Erscheinungsweisen von Mensch und Welt. Er fragt auch nach den inneren Gegebenheiten, nach Sinn und Ziel all dessen, was er untersucht.



    Im Februar 1673 hält Niels Stensen in der Universität seiner Heimatstadt Kopenhagen einen Vortrag im Fach Anatomie. An einer Leiche demonstriert er Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers. Er legt dar, um was für ein staunenswertes Kunstwerk es sich hier handelt.



    Solches Staunen führt ihn vom Sehen der äußeren Zusammenhänge zum Fragen nach den inneren Voraussetzungen, vom Untersuchen des Geschöpfes zum Suchen nach dem Schöpfer.



    Wissen ist für Stensen nicht Hindernis zum Glauben, sondern Wegweiser zum Glauben.



    Johann Wolfgang von Goethe hat später Worte aus dieser Anatomievorlesung Stensens zitiert. Darin heißt es wörtlich: „Dies ist der wahre Zweck der Anatomie, die Zuschauer durch das Wunderwerk des Körpers zur Würde der Seele und … zur Kenntnis und Liebe des Schöpfers emporzuheben“.
  • Ansprache von Erzbischof Werner Thissen beim Medienempfang 2013 / Hamburg / 11. 09. 2013
    Sehr geehrte Damen und Herren,



    ich heiße Sie herzlich zu unserem diesjährigen Medienempfang willkommen. Wir feiern ihn anlässlich des 47. Welttags der sozialen Kommunikationsmittel.



    Wir stehen kurz vor der Wahl zum Bundestag. In der Vorbereitung auf diesen Abend haben wir uns daher nach einem Gesprächspartner umgesehen, von dem Sie einiges über die Rolle der katholischen Kirche in der Politik erfahren können.



    Lieber Herr Prälat Jüsten! Als Leiter unseres Katholischen Büros in Berlin vertreten Sie die Interessen der Kirche am Sitz der Bundesregierung in Berlin. Interessen – das klingt unschön. Dennoch wird es niemanden von uns erstaunen, wenn ich Ihnen sage, dass auch die Kirche politische Interessen hat. Ich bin Prälat Jüsten sehr dankbar, dass er uns heute Abend von seiner Arbeit berichtet.



    Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Medien! Seit unserem letzten Empfang hat sich in der Kirche einiges getan. Wer hätte das beim letzen Medienempfang vorausahnen können: Wir haben nun zwei Päpste im Vatikan: der eine, Papst Benedikt, lebt zurückgezogen in einem Konvent des Vatikans, hat in diesen Tagen aber auch ein erstes Mal wieder öffentlich gepredigt. Der andere, oder kann man sagen, der „eigentliche“ Papst, Franziskus, kommt „vom anderen Ende der Welt“ und bringt einen frischen, lateinamerikanischen Wind zu uns. Inzwischen hat Papst Franziskus einige Zeichen gesetzt, die erahnen lassen, was ihm für die Kirche wichtig ist. Angefangen natürlich von seiner programmatischen Namenswahl. Die Wahl und der Amtsantritt des neuen Papstes war eines der großen Medienereignisse in diesem Jahr.



    Ich möchte mich bei Ihnen für die Zusammenarbeit seit dem letzten Medienempfang herzlich bedanken. In Ihrem Berufsalltag spüren Sie sehr deutlich, wie sich der Journalismus und damit auch Ihr Arbeitsalltag wandelt. Der Verkauf des Hamburger Abendblatts macht diesen Wandlungsprozess für unsere Stadt und Region besonders spürbar. Er wird unter Ihnen in den vergangenen Wochen für viel Gesprächsstoff gesorgt haben. Ich verfolge sehr aufmerksam, wie sich die Dinge weiterentwickeln.



    Das päpstliche Wort zum diesjährigen Tag der Kommunikation stammt noch von Papst Benedikt, verfasst zum 24. Januar, Gedenktag des Heiligen Franz von Sales, dem kirchlichen Patron für die Journalisten und Publizisten. In seinem Wort geht der Papst ausdrücklich auf die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke ein. Diese können, sinnvoll genutzt, neue Wege zueinander öffnen. „Sie sind die neue Agora“ schreibt der Papst. Er appelliert an die Verantwortlichen in der Kirche, diese Wege auch zu nutzen, um für den Glauben und dessen Anliegen in der Welt zu werben.



    Konkret heißt das für uns heute: Wir dürfen Ihnen die „Bistums-App“ präsentieren. Mit Ihrem Smartphone haben Sie die Gelegenheit, erste Nutzer dieses praktischen Programms zu sein. Sie können damit bequem die von Ihrem jeweiligen Standort nächstgelegene Kirche oder kirchliche Einrichtung des Erzbistums finden.



    Auf einen Termin möchte ich Sie noch besonders hinweisen: Am 10. November begehen wir den 70. Todestag der Lübecker Märtyrer. Für uns ist das Martyrium der vier Geistlichen ein zentrales ökumenisches Zeichen. Es verbindet die evangelischen und katholischen Christen hier im Norden im Glauben. Ich freue mich, dass wir am 28. Oktober unsere Gedenkstätte in der Propsteikirche Herz-Jesu in Lübeck eröffnen werden.



    Lieber Herr Prälat Jüsten, ich bitte Sie nun um Ihren Impuls.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen bei der Wiedereinweihug des Kleinen Michel in Hamburg / Hamburg, Kleiner Michel / 01. 09. 2013
    Verehrte Gäste, liebe Mitbrüder, liebe Gemeinde,



    sich selbst erniedrigen, sich nicht selbst erhöhen – der neue Stil von Papst Franziskus passt gut zu dem Evangelium, das wir gerade gehört haben. Und das Evangelium passt auch gut zum Kleinen Michel, an dem ja auch Mitbrüder des Papstes aus der Gemeinschaft der Jesuiten Dienst tun. Denn auch hier am Kleinen Michel geht es nicht um Ehrenplätze für Wenige, sondern es geht hier um Menschen aus vielen Nationen. Sie können das ja in dieser Liturgie auf Schritt und Tritt wahrnehmen. Wir sind hier Weltkirche aus vielen Sprachen und Völkern. Was die UNO im Großen versucht, das versuchen wir hier im Kleinen: Gemeinschaft aus Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Geschichte und unterschiedlicher Erfahrung.



    Und wie das geht, davon erzählen uns die beiden Lesungen heute: Das Buch Jesus Sirach sagt uns: Je größer du bist, umso mehr bescheide dich, und im Hebräerbrief heißt es: Ihr seid hinzugetreten zu einer festlichen Versammlung.



    Unsere festliche Versammlung, die hat es zu tun mit dem lebendigen Gott, mit Engeln und Heiligen, mit Zeit und Ewigkeit. Diese festliche Versammlung ereignet sich jetzt hier.



    All das kommt in dieser Kirchweihe auf vielfältige Weise zum Ausdruck. Dabei sprechen die Zeichen größtenteils für sich selbst.



    Das Zeichen der Besprengung mit dem geweihten Wasser ist Erinnerung an die Taufe. Ja, wir sind getauft und können deshalb als neue Menschen leben, können immer wieder neu mit Freude und Bereitschaft beginnen.



    Die Anrufung der Heiligen und die Beisetzung der Reliquie des Heiligen Ansgar sagen uns: Ja, die vollendete Kirche in der Ewigkeit und wir als pilgernde Kirche in der Zeit gehören zusammen.



    Die Salbung des Altars und der Wände der Kirche mit dem geweihten Chrisam machen deutlich: Ja, hier geht es um Würde und Wertschätzung von Heiligem.



    Und dann das Feuer auf dem Altar. Nein, die Zeit der Brandopfer ist längst vorbei. Aber die Aktualität des Wortes bleibt, das Jesus uns sagt: Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen und ich will, dass es brennt.



    Das alles und vieles mehr sind Zeichen. Zeichen dafür, dass wir ein Geheimnis feiern, das jedes Erkennen übersteigt, das Geheimnis des Glaubens in dieser erneuerten Kirche.



    Erneuerte Kirche. Das gilt nicht nur für diesen wunderbar gelungenen Kirchenraum. Am vergangenen Montag haben wir den hundertsten Geburtstag von Kardinal Döpfner gefeiert. Das Zweite Vatikanische Konzil und die Würzburger Synode sind mit seinem Namen verbunden. Sein Wort von damals, das auch auf der Sonderbriefmarke steht, gilt auch heute: „Die Kirche liegt nicht auf der Sandbank der Zerstörung, sondern auf der Werft der Erneuerung.“



    Mit der Erneuerung des Kleinen Michel kann sich auch für uns alle unsere Beziehung erneuern zum Dreifaltigen Gott und zu den Menschen.



    Gerade der kleine Michel lebt ja seit seiner Entstehung in vielfältigen Beziehungen.



    Ich nenne Ihnen die Beziehung zur Ökumene. Die kommt ja schon im Namen zum Ausdruck. Wer Kleiner Michel sagt, dem ist auch bewusst, dass es einen Großen Michel gibt. Und wer die Geschichte kennt, der weiß, dass der Kleine Michel zuerst eine evangelische Kirche war. Und wer die Zeit der Renovierung in den vergangenen Monaten miterlebt hat, der hat die Gastfreundschaft des Großen Michel dort in der Krypta für die Feier des Gottesdienstes vom Kleinen Michel miterlebt. Kleiner Michel und Großer Michel sind in Hamburg ein unübersehbares Signal. Das Signal bedeutet: An der Ökumene geht kein Weg vorbei. Dazu passt auch das gemeinsame Projekt der Brücke in der Hafencity.



    Eine andere wichtige Beziehung des Kleinen Michel besteht zu Europa. Pater Löwenstein hat herausgefunden, dass die Hälfte des Geldes für den Wiederaufbau des Kleinen Michel nach dem Zweiten Weltkrieg vom französischen Generalkonsul kam. Und aus der Baugeschichte wird deutlich: Die Idee für die Architektur dieser Kirche reicht bis nach Burgund im 12. Jahrhundert, bis nach Cluny, bis zur Erneuerungsbewegung des Heiligen Bernhard von Clairvaux, dem Mitpatron des Kleinen Michel. Kardinal Döpfner hat Recht: Die Kirche muss immer wieder auf die Werft der Erneuerung.



    Aber die Beziehung des Kleinen Michel reicht nicht nur bis zu den Grenzen Europas, sondern weit darüber hinaus. Der Kleine Michel hat Beziehung zur Welt, denn die Nähe zum Hafen bringt es mit sich, dass aus aller Welt Menschen hier an Land gehen.



    Ein besonderes Anliegen ist mir die Beziehung des Kleinen Michel in die Kunst- und Kulturszene Hamburgs hinein. Wir können als Kirche von Kulturschaffenden viel lernen. Denn mit Sensibilität und Kreativität gestalten Künstlerinnen und Künstler das, was die Menschen bewegt. Wo Kirche und Kunst in gegenseitiger Wertschätzung aufeinandertreffen, da sprühen Funken, die Licht ins Dunkel bringen. In Kooperation mit unserer Akademie nebenan, deren Wiedereröffnung wir ja ebenfalls bald feiern können, kann das zu einem besonderen Schatz für Hamburg werden und weit darüber hinaus. Dabei sollen sich viele Fragende und Suchende hier gut aufgehoben und angenommen fühlen.



    Liebe Schwestern, liebe Brüder, mit dem erneuerten Kleinen Michel haben wir ein Kirchenschiff zum Anker setzen und zum Anker lichten, zum Verweilen und zum Aufbrechen.



    Also: Alle Mann und Frau an Bord! Amen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass der Profanierung von St. Bartholomäus / Neumünster / 24. 08. 2013
    Liebe Schwestern und Brüder hier in St. Bartholomäus,



    Gott ruft sein Volk zusammen – so haben wir vorhin im Eröffnungslied gesungen. Gott ruft sein Volk zusammen? Oder muss es jetzt heißen: Gott hat sein Volk bisher hier zusammengerufen, aber das ist jetzt zu Ende?



    Dreiundfünfzig Jahre lang hat Gott sein Volk hier in der schönen Bartholomäuskir-che zusammengerufen. Pastor Schippers und viele andere waren engagierte Rufer Gottes. Durch diese hat Gott sein Volk zusammengerufen: zur Feier der Gottes-dienste, zur Spendung der Sakramente, zu Werken der Liebe. Wie viele sind hier getauft worden, haben die Sakramente der Buße und der Firmung hier empfangen, sich das Sakrament der Ehe gespendet! Wie oft haben Sie hier im Requiem von einem lieben Menschen Abschied genommen, voll Trauer!



    Voll Trauer – das ist auch jetzt unsere Grundstimmung, wo wir von dieser Kirche Abschied nehmen.



    Denn diese Kirche ist uns ans Herz gewachsen. Viele können mit Recht sagen: Die Bartholomäuskirche ist ein Teil von uns geworden. Denn viele frohe und dankenswerte aber auch schmerzliche und traurige Erfahrungen haben wir hier vor Gott gebracht.



    Ich habe das ja selbst erlebt, als wir vor drei Jahren hier das fünfzigjährige Kirchweihjubiläum gefeiert haben. Bei aller Jubiläumsstimmung schwang auch damals schon die bange Frage mit: Wie lange werden wir die Kirche noch halten können?



    In einer Todesanzeige lese ich: „Wir wollen nicht trauern, dass wir sie verloren haben, sondernd danken, dass wir sie gehabt haben.“



    Ich meine, wir sollen beides jetzt tun: Unsere Trauer vor Gott tragen – und ebenso unseren Dank. Dank für all das viele Gute, was sich hier ereignet hat. Dank für all die Vielen, die sich hier eingesetzt haben. Dank für alle, die diesen Gottesdienst mitgestalten und mitfeiern.



    Seit Jahren sind in vielen Gesprächen und Sitzungen die Kirchenschließungen in Neumünster Thema. Denn es bleibt ja nicht verborgen, dass auch hier die Zahl der Gottesdienstbesucher zurückgeht. Bei aller Trauer bin ich aber auch dadurch getröstet, dass hier eine gute andere Nutzung gefunden werden kann. Die geplante Kindertagesstätte und das geplante Seniorenzentrum sind kein Ersatz für die Kirche. Aber sie haben unmittelbar zu tun mit dem, was wir hier über ein halbes Jahrhundert gefeiert haben.



    Im Evangelium sagt Jesus heute zu Natanael – Natanael ist ein anderer Name für Bartholomäus: Ihr werdet den Himmel offen sehen.



    Wenn jetzt diese Kirche geschlossen wird, ist dann auch der Himmel geschlossen? Es tut weh, dass die Kirche geschlossen wird. Aber der Himmel bleibt offen. Denn wir werden ja auch weiterhin das Geheimnis des Glaubens feiern in der Pfarrkirche St. Vicelin. Der Himmel bleibt offen. Die Gemeinschaft mit dem Dreifaltigen Gott und miteinander bleibt erhalten.



    Vielleicht kann uns das Tagesgebet dabei eine Hilfe sein. Da haben wir vorhin gebetet: Gott, der Apostel Bartholomäus hat deinem Sohn die Treue gehalten.



    Das wird Gott auch von uns erwarten: Dass wir ihm die Treue halten, trotz des Verlustes dieser Kirche.



    Und weiter haben wir dann gebetet: Stärke auf die Fürsprache des Heiligen Bartholomäus unseren Glauben.



    Das, liebe Schwestern und Brüder, wollen wir uns gegenseitig erbitten. Dann gilt auch weiterhin, was wir zu Beginn gesungen haben: Gott ruft sein Volk zusammen. Auch in Zukunft. Amen
  • Predigt im Requiem für Erzbischof em. Dr. Ludwig Averkamp / Hamburg - St. Marien-Dom / 02. 08. 2013
    Erzbischof Ludwigs Vermächtnis:

    Im Gebet die Nähe Gottes erfahren



    Verehrte liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst,

    liebe Familie Averkamp mit Angehörigen, Freunden und Bekannten,

    sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter aus Ökumene Politik und Gesellschaft,

    liebe Schwestern und Brüder,



    wenn ich in den vergangenen Wochen und Monaten Erzbischof Ludwig besuchte, dann saß er meistens im Rollstuhl an seinem Schreibtisch. Immer dabei waren das Brevier und der Rosenkranz. Er freute sich, wenn Besucher mit ihm beteten. Auch als für ihn das Sprechen immer schwieriger wurde, für das Gebet fand er immer noch Worte. Manchmal kam es mir so vor, als hielten ihn nicht so sehr das wenige Essen und Trinken am Leben, sondern das Beten.

    Daraus schöpfte er Kraft und Lebensmut.



    Das größte Problem in der Seelsorge



    Zum fünfundzwanzigsten Jahrestag seiner Bischofsweihe im Jahre 1998 wurde Erz-bischof Ludwig von einer Nachrichtenagentur ausführlich zur Situation der Seelsorge befragt. Alle Reizthemen musste er beantworten, von A bis Z, von Abtreibung bis Zölibat. Ein Thema stand hinterher in allen Zeitungen in ganz Deutschland. Er war nämlich auch gefragt worden, was denn das größte Problem in der Seelsorge sei.



    Seine Antwort: Das größte Problem ist der Rückgang des täglichen Gebetes in der Familie und bei Einzelnen. Wer aufhört zu beten, verliert auch den Kontakt zur Sonn-tagsmesse und die lebendige Beziehung zu Jesus Christus.



    Mit seiner Gebetsschule ist Erzbischof Ludwig gegen dieses Problem angegangen. Denn er war überzeugt: Beten kann man lernen und muss man üben. Manchmal so-gar üben wie mit einem Musikinstrument. Üben auch wie bei einem Kommunikations-training. Üben und Lernen machen Mühe. Aber es lohnt sich. Tägliches Beten lässt uns die Lebensqualität des Glaubens erfahren.



    In Solidarität mit Erzbischof Ludwig und der Kirche



    Wer sich Erzbischof Ludwig über seinen Tod hinaus verbunden fühlt, kann das am besten zum Ausdruck bringen, wenn er großen Wert legt auf das tägliche Beten. Das gilt für uns Geistliche im Hinblick auf Brevier und Meditation. Das gilt aber auch für alle anderen Getauften und Gefirmten.



    Liebe Schwestern und Brüder, in dankbarem Gedenken an Erzbischof Ludwig rufe ich Sie auf zu einer Solidarität im täglichen Beten. Dass wir uns wieder neu bewusst machen: Ich will aus der täglichen Gebetsgemeinschaft des Erzbistums und der gesamten Kirche nicht ausscheren. Ich will morgens und abends und bei den Mahlzei-ten zu dieser weltweiten Gebetsgemeinschaft dazugehören. Diese geistliche Solidari-tät sind wir alle Erzbischof Ludwig schuldig. Denn das Gebet war ihm ein Herzensan-liegen. Ja, diese geistliche Solidarität sind wir Jesus Christus schuldig, wenn wir den Namen Christen zu Recht tragen wollen.



    Das geistliche Fundament



    In diesen Tagen hatte ich mehrmals Journalisten Rede und Antwort zu stehen zum bischöflichen Wirken von Erzbischof Ludwig. Er ist ja sozusagen der zweite Ansgar, der unser Erzbistum wieder gegründet hat.



    Was waren seine größten Leistungen, wollte ein Journalist wissen. Dabei ging es dann um Kirchbauten und Einrichtungen im Bereich von Jugend, Schule und Caritas. Wir sprachen über die Ökumene und über das Zusammenwachsen von östlichen und westlichen Bistumsteilen. Auf all diesen Feldern hat Erzbischof Ludwig Großes geleistet. Und was davon, fragte der Journalist hartnäckig, war seine größte Leistung? Nichts davon, habe ich geantwortet. Dann habe ich hinzugefügt: All das, was wir jetzt besprochen haben, ist sehr wichtig und äußerst dankenswert. Aber noch wichtiger und noch dankenswerter ist etwas anderes. Nämlich: Erzbischof Ludwig hat unserem Erzbistum, das ja die jüngste Neugründung in Deutschland ist, ein festes geistliches Fundament gegeben.



    Und woraus besteht dieses Fundament, wollte der Journalist etwas irritiert wissen. Aus dem Gebet, habe ich geantwortet und ihm dann mit den Worten von Erzbischof Ludwig erklärt, dass das Gebet unverzichtbar ist, wenn der Mensch mit Gott in Be-ziehung sein will.

    Der nahe Gott



    Im Gebet loten wir die Ferne und die Nähe Gottes aus. Ich weiß nicht, ob Ihnen auf-gefallen ist, dass in den biblischen Texten heute sowohl in der Lesung als auch im Evangelium die Rede ist von der Nähe Gottes. Im Evangelium heißt es: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Jesus Christus ist das Reich Gottes in Person. Deshalb kann Paulus in der Lesung heute sagen: Der Herr ist nahe.



    Der Herr ist nahe, das war das bischöfliche Leitwort von Erzbischof Ludwig. Der Herr ist nahe, diese Erfahrung hat ihm das Gebet immer wieder vermittelt. Seine Gelassenheit und Heiterkeit waren ihm sicher auch als Charaktereigenschaften und von zu Hause mitgegeben. Aber sie waren auch Ergebnis eines lebenslangen Umganges mit dem nahen Gott im Gebet.

    Jetzt hat Erzbischof Ludwig den Weg vollendet, den wir noch weitergehen müssen und wollen. Aber die Gestalt unseres Gründerbischofs Ludwig leuchtet uns auch noch aus dem Dunkel des Todes voran. Denn wenn wir seiner Weisung zum Beten folgen, dann gilt auch für uns auf unserem irdischen Pilgerweg und einmal endgültig: Der Herr ist nahe. Amen.
  • Gründer und Baumeister unseres Erzbistums - Erzbischof Thissen um Tod von Erzbischof Dr. Ludwig Averkamp / Hamburg / 01. 08. 2013
    Vom Heiligen Ansgar, dem ersten Bischof im 9. Jahrhundert hier im Norden heißt es: Intimus monachus, foris apostolus. Frei übersetzt bedeutet das: In seinem geistlichen Leben war er wie ein Mönch, in seinem pastoralen Wirken wie ein Apostel.



    Erzbischof Ludwig Averkamp war der erste Nachfolger des Heiligen Ansgar nach fast zwölfhundert Jahren, der wieder in Hamburg seinen Dienstsitz hatte. Die zahlreichen Bischöfe nach Ansgar und vor Ludwig verkündeten das Evangelium den Menschen in unserem Gebiet von Bremen, Osnabrück oder sogar Köln aus.



    Mönch und Apostel – beides trifft auf Ansgar zu. Als Benediktiner war er in seinem Heimatkloster in Corbie in Frankreich in geistliches Leben eingeführt worden. In Corvey im heutigen Nordrhein-Westfalen hat er dann selbst jungen monastischen Mitbrüdern als geistlicher Lehrer gedient.



    Unser Erzbischof Ludwig war kein Mönch. Aber die gediegene Schulung im Collegium Germanicum in Rom sowie die hochkarätige wissenschaftliche Bildung dort an der Päpstlichen Universität Gregoriana ließen ihn zu einem kenntnisreichen und verständnisvollen Lehrer geistlichen Tuns heranwachsen. Als solcher wirkte er später in seinem Heimatbistum Münster. Er war Hausleiter im bischöflichen Konvikt Loburg in Ostbevern/Westfalen sowie Direktor und Regens im Pries-terseminar in Münster.



    Auch als Weihbischof in Xanten am Niederrhein, als Bischof von Osnabrück und als Erzbischof von Hamburg sah er die Einübung in geistliches Tun, die Heranführung zu Gebet und Gottesdienst als seine vorrangige Aufgabe an. Er war ein geistlicher Lehrer mit hoher Kompetenz, behutsamem Einfühlungsvermögen und starker Zuwendungsbereitschaft. Trotz vieler organisatorischer Herausforderungen, die er als Gründerbischof von Hamburg zu meistern hatte, blieb die geistliche Befähigung aller Getauften und Gefirmten sein Herzensanliegen.



    Die Jahrzehnte priesterlichen und bischöflichen Wirkens von Ludwig Averkamp fielen in eine Zeit, in der selbstverständliches Glaubensleben langsam, aber stetig abnahm. Nach Priesterweihe 1954 und Promotion 1957 in Rom und nach zwei Jahren als Kaplan im Münsterland kam er als Leiter des Internats Loburg in Ostbevern bei Münster mit Familien aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten in Kontakt. Mit besonderer Aufmerksamkeit widmete er sich der Frage, wie es um das Gebet in den Familien bestellt sei. Und was es für einen Schüler bedeutet, wenn im Konvikt das Gebet selbstverständlich ist, es zu Hause aber kaum praktiziert wird.



    In den acht Jahren als Leiter der Priesterausbildung in Münster hatte er zahlreiche pastoralpraktische Aufgaben mit den Seminaristen einzuüben. Zugleich blieb aber die geistliche Praxis sein wichtigstes Anliegen.



    Innerlich war er ein großer Beter, im seelsorglichen Wirken ein überzeugender Verkündiger des Evangeliums – so lässt sich die Charakteristik seines frühesten Vorgängers Ansgar auf Erzbischof Ludwig hin abwandeln.



    In seinem Dienst als Bischof beschäftigte ihn immer wieder die Frage, wie es kommt, dass die Zahl derer, die den Sonntagsgottesdienst mitfeiern, so beständig zurückgeht.



    Ihm war klar, dass das nicht in erster Linie eine Frage der Gestaltung der Liturgie ist. Auch nicht eine Frage der Qualität der Predigt. Auch nicht der angebotenen Tageszeiten für den Gottesdienst. Für ihn lag bei aller Gewichtung auch solcher Faktoren der Grund tiefer.



    Als entscheidend erkannte er das allmähliche Verstummen des täglichen Gebetes. Ein Gottesdienst kann nur betend mitgefeiert werden, hat er formuliert. Und: Dem Verlust der Sonntagsmesse geht der Verlust des täglichen Betens voraus.



    Zur Durchdringung dieser Frage hat er sich in soziologische Daten vertieft. Er zitierte Umfragen des Allensbach-Institutes, nach denen 1965 in Deutschland 51% der Heranwachsenden das tägliche Tischgebet kennengelernt hatten, während es 1982 noch 27% waren.



    Das Tischgebet hatte für ihn eine besondere Bedeutung, weil es vor allem ein Gebet in Gemeinschaft ist. Zugleich ist es oft ein öffentliches Gebet, welches auch für andere wahrnehmbar ist. Wie sehr Beten ins Private abgedrängt worden ist, dazu erzählte er gern eine Erfahrung aus seiner Gebetsschule.



    In dieser Gebetsschule hat er das Beten mit Gremien und Gruppen eingeübt. Dazu gehörte auch, dass Teilnehmende zu Einzelgesprächen zu ihm kamen. Eine Frau klagt, sie müsse ihr Abendgebet immer allein beten, damit ihr Mann es nicht merkt, denn sie wolle ihren Mann, der nicht betet, nicht bloßstellen.



    Später kommt auch der Ehemann der Frau zum Gespräch. Er würde gern abends und morgens mit seiner Frau gemeinsam beten. Aber da diese zu Hause nie bete, habe er sich angewöhnt, nur heimlich zu beten, denn er wolle seiner Frau nicht zu nahe treten.



    Erzbischof Ludwig hat viele zum Beten ermutigt und Wege aufgezeigt, wie jemand seinen eigenen Gebetsstil entdecken und einüben kann. Oft zitierte er dabei ein Wort Romano Guardinis: „Man kann auf Dauer kein Christ sein, ohne zu beten – so wenig man leben kann ohne zu atmen.“



    Er selbst formulierte es so: Das Einatmen der Christen ist ihr Hören auf das Wort Gottes, das Ausatmen ist ihr Antworten im Gebet. Wer glauben lernen will und im Glauben wachsen will, muss beharrlich solches Ein- und Ausatmen üben.



    Dabei kam er dann immer auch auf das stellvertretende Beten zu sprechen. So sehr Beten immer auch persönliche Beziehung zum Dreifaltigen Gott ist, so sehr weitet diese Beziehung sich immer wieder aus auf alle, die uns anvertraut sind.



    Weil Erzbischof Ludwig selbst ein großer Beter war, war er beseelt von einer vertrauensvollen Gelassenheit. Wenn ich ihn auf seinem Krankenlager trösten wollte, bin ich oft selbst getröstet weggegangen. So zuversichtlich konnte er auch die letzte Lebensphase nur deshalb bewältigen, weil er dieses Vertrauen in den lebendigen Gott durch Jahre und Jahrzehnte im Gebet eingeübt hatte.



    Herr Colberg hat mir von einer Fahrt mit Erzbischof Ludwig erzählt, die auch von Pfarrer Felix Evers, der damals als Diakon dabei war, bestätigt wird. Vor einem unbeschrankten Bahnübergang in der Nähe von Schwerin hält Herr Colberg den Wagen an wegen eines herannahenden Zuges. Der Fahrer eines nachfolgenden Postfahrzeugs bemerkt das zu spät und schiebt den Bischofswagen über die Gleise hinweg. Der Zug braust zwischen den beiden Fahrzeugen hindurch, ohne dass jemand zu Schaden kommt. Erzbischof Ludwig steigt seelenruhig aus und meint, das wäre sicher auch im Himmel ein seltenes Ereignis gewesen, wenn ein Bischof samt Diakon und Fahrer gemeinsam dort erscheint.



    Erzbischof Ludwig hat gemeinsam mit Weihbischof Werbs, Weihbischof Jaschke, Generalvikar Spiza und vielen einsatzfreudigen Mitbrüdern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ab 1995 für das Erzbistum Hamburg wichtige organisatorische Fundamente gelegt. Er hat die drei Bistumsregionen Hamburg, Mecklenburg und Schleswig-Holstein zu einer Einheit zusammengeführt. Vor allem aber hat er uns ein geistliches Fundament geschenkt, welches seine Tragfähigkeit dem Hören auf Gottes Wort und dem Antworten im Gebet verdankt.



    Für dieses Fundament bleiben wir Erzbischof Ludwig in großer Dankbarkeit und Wertschätzung verbunden. Auf diesem Fundament dürfen wir vertrauensvoll wei-terbauen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf der Internationalen Gartenschau in Hamburg – ZDF Fernsehgottesdienst / Internationale Gartenschau 2013 (igs) in Hamburg-Wilhelmsburg / 21. 07. 2013
    Du zeigst mir den Pfad zum Leben



    Liebe Schwestern und Brüder am Fernsehen und hier auf der Gartenschau,



    wer Gäste hat, kann wichtige Erfahrungen machen. So wie heute Abraham in der Lesung. So wie Maria und Marta im Evangelium.



    Bei Maria und Marta geht es um zwei wichtige christliche Verhaltensweisen. Maria verkörpert das Hören auf Jesus, Marta den Einsatz für Jesus.



    Und was führt eher auf den Pfad zum Leben?

    Hier auf der Gartenschau lässt sich gut darüber nachdenken.



    Die farbenprächtigen Blumen und Pflanzen ziehen uns in ihren Bann. Was für eine bunte Vielfalt. Das Auge kann nicht genug davon haben.



    Aber diese Gartenschau gäbe es nicht ohne die erfahrenen Gärtnerinnen und Gärtner und die fleißigen Helferinnen und Helfer. Deren Arbeit hat die Gärten hier angelegt, gestaltet und hält sie in Ordnung.



    Doch bei all dem enormen Einsatz der hier Tätigen steht eines fest: Sie haben die Blumen nicht gemacht und auch die Pflanzen nicht und die Sträucher nicht. Das alles ist letztlich Geschenk der Natur, Gabe des Schöpfers.



    Was für die Natur gilt, das trifft auch für den Menschen zu, für Sie und für mich. Niemand hat sich selbst gemacht. Wir verdanken uns anderen. Wir haben das Leben ohne unser Zutun empfangen, ohne unser Verdienst. Wir sind reines Geschenk.



    Von all dem hört Maria als sie den Worten Jesu lauscht. Im Hören auf Jesu Wort erfährt der Mensch, wer er ist, woher er kommt und wohin er unterwegs ist.



    Wer Antworten auf diese Fragen sucht, für den wird auch das Gestalten wichtig. Dann kommt es darauf an, wie ich mit dem Geschenk meines Lebens umgehe und ebenso mit dem Geschenk der Natur, der Schöpfung.



    Im Erleben der prächtigen Gärten hier kann mir beides aufgehen: Freude und Dank für das Geschenk des Lebens, der Natur, der gesamten Schöpfung.



    Zugleich aber wird mir auch deutlich, dass ich sorgsam mit der Schöpfung umgehen muss, dass mein Tun und Lassen dem Leben zu dienen hat.



    Das gilt für meinen persönlichen Umgang mit Nahrungsmitteln genauso wie für meinen Ein-satz für den gerechten Zugang zu Ackerland und Saatgut weltweit.



    Horchen auf das Wort Jesu in Freude und Dankbarkeit für alles Anvertraute, dafür steht Maria. Gehorchen der Weisung Jesu im Wirken und Gestalten, dafür steht Marta.



    Wirken und Gestalten ist Aufgabe des Menschen. Aber damit das nicht eigensinnig in die falsche Richtung läuft, damit uns das menschlich weiterbringt, ist es wichtig, auf Jesu Wort zu hören.



    Wir alle sind Gäste auf unserer Erde. Im Hören auf Gottes Wort und in dankbarer Freude über die Schöpfung kommen wir zu verantwortungsvollem Handeln.



    So finden wir den Pfad zum Leben. Amen
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass der Eröffnung der Nationalpark-Ausstellung "Arche Wattenmeer" / Schutzstation Wattenmeer, Hörnum / Sylt / 03. 07. 2013
    Lieber Herr Bischofsbevollmächtiger Magaard,

    sehr geehrter Herr Bürgermeister,

    sehr geehrter Herr Waller als Vorsitzer der Schutzstation Wattenmeer,

    meine sehr verehrten Damen und Herren,



    als ich zuletzt hier in diesem Raum war, da war das noch eine Kirche, und wir haben hier das Geheimnis des Glaubens, die Eucharistie, gefeiert. Jetzt ist aus unserer Kirche ein Forschungs- und Ausstellungszentrum geworden, und wir beschäftigen uns hier mit dem Geheimnis der Schöpfung.



    Geheimnis des Glaubens und Geheimnis der Schöpfung: Beiden gemeinsam ist die Frage nach dem woher und wohin des Menschen, nach dem woher und wohin der Schöpfung.

    Deshalb habe ich gern dieser Nutzung der Kirche zugestimmt, als nach vielen Gesprächen und Vorüberlegungen mich im Januar 2009 das Schreiben der Schutzstation Wattenmeer erreichte. Darin war die Rede von der "Vision für Hörnum", die Arche Wattenmeer zu gründen. Diese Vision hat sich nun erfüllt.



    Aber jetzt geht es um eine neue Vision: Dass immer mehr Menschen die Vielfalt und Schönheit der Tier- und Pflanzenwelt im Lebensraum Nordsee entdecken. Denn nur dann werden sie auch bereit und in der Lage sein, diese zu schützen und zu erhalten. Dazu gehört auch der wachsame Blick für Gefahren, die uns drohen wie Meeresspiegelanstieg und Aussterben von Arten. All das sind auch Themen einer Theologie der Schöpfung.



    In unseren Gottesdiensten hier in der Kirche haben wir oft das Lob der Schöpfung besungen: "Preist den Herren ihr Meere und Flüsse, lobt und rühmt ihn in Ewigkeit.

    Preist den Herren ihr Tiere des Meeres und alles, was sich regt im Wasser, lobt und rühmt ihn in Ewigkeit.

    Preist den Herren all ihr Vögel am Himmel, lobt und rühmt ihn in Ewigkeit" (Dan 3,78-80).

    Die Bibel ist voll vom Lobpreis der Schöpfung. Ich weiß nicht, ob in Zukunft hier auch gesungen wird, aber in jedem Fall freue ich mich darüber, dass hier der Schöpfung so viel Aufmerksamkeit, Pflege und Wertschätzung geschenkt wird.



    Ich kenne Menschen, die sind vom Staunen über die Schöpfung zum Glauben an den Schöpfer gekommen. Und ich kenne Menschen, die sind vom Glauben an den Schöpfer zum tatkräftigen Einsatz für die Schöpfung gekommen. Der kirchliche Glaube, der Jahrzehnte lang in dieser Kirche gefeiert worden ist, wird als welthafter Glaube hier weiter gefeiert.



    Als das Volk Israel nach langen Jahren der furchtbaren Sklavenhaltung aus dem Land Ägypten floh, stellte sich ihm das Rote Meer in den Weg. Die Verzweiflung war groß, denn hinter den Israeliten her waren die Krieger des Pharaos und vor ihnen lagen die Wassermassen des Meeres. Doch der Wille Gottes, sein Volk zu retten war größer als die Verzweiflung. Im Buch Genesis lesen wir: "Mose streckte seine Hand über das Meer aus und der Herr trieb die ganze Nacht das Meer durch einen starken Ostwind fort. Er ließ das Meer austrocknen und das Wasser spaltete sich. Die Israeliten zogen auf trockenem Boden ins Meer hinein, während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand." (Ex 14, 21f.)



    Die Israeliten erleben ein Wunder der Natur und der Schöpfung. Die Ägypter jedoch erfahren die andere Seite der Natur. Im Buch Exodus heißt es: "Mose streckte seine Hand über das Meer und gegen Morgen flutete das Meer an seinen alten Platz zurück, während die Ägypter auf der Flucht ihm entgegenliefen. So trieb der Herr die Ägypter mitten ins Meer. Das Wasser kehrte zurück und bedeckte Wagen und Reiter, die ganze Streitmacht des Pharao, die den Israeliten ins Meer nachgezogen war. Nicht ein Einziger von ihnen blieb übrig." (Ex 14, 26f.)



    Die Natur hat für uns Menschen immer zwei Seiten: Die eine Seite bestaunen wir und freuen uns daran.



    Die Natur hat aber auch eine andere Seite. Auch diese kennt man hier auf den Inseln und an der Küste zu Genüge. Jede Sturmflut erinnert uns neu daran, wie brüchig unser Verhältnis zur Natur und zu den gewaltigen Kräften der Schöpfung ist. Das Hochwasser an der Elbe, das vor wenigen Wochen auch Orte in unserem Land betraf, hat uns ebenfalls die mitunter zerstörerische Kraft der Elemente vor Augen geführt. Da bleibt dann kein Raum für Naturromantik.



    Auch der Name des Hauses, das wir heute eröffnen, gibt zu denken: "Arche Wattenmeer". Ja, die Arche Noahs ist ein schönes Beispiel, wie schon vor vielen, vielen Jahren der Gedanke der Artenvielfalt und des Artenschutzes in der Bibel thematisiert wurde. Denn in die Arche waren "immer zwei von allen Wesen aus Fleisch, in denen Lebensgeist ist" (Gen 7, 15) aufgenommen worden. Gleichzeitig war die Arche auch eine Art Schutzstation, eine Schutzstation gegen die Fluten, welche die Erde bedeckten. In der Bibel heißt es von dem Tag, an dem Noah die Arche betrat: "An diesem Tag brachen alle Quellen der gewaltigen Urflut auf und die Schleusen des Himmels öffneten sich. Der Regen ergoss sich vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf die Erde." (Gen. 7, 11f.)



    Wer solche Verse zu hören bekommt, der könnte meinen, wir Menschen müssten der Natur mit allen Mitteln Einhalt gebieten. Und in der Tat müssen wir uns vor den Naturgewalten schützen. Doch mittlerweile sind wir zu der Einsicht gelangt, dass wir den Kräften, die in der Schöpfung am Werk sind, auch Raum geben müssen. Dass wir uns die Schöpfung nicht einverleiben können und bis in die kleinste Einzelheit hinein ausnutzen dürfen. Die Geschichte des Nationalparks Wattenmeer ist auch eine Geschichte davon, wie ein großes zusammenhängendes Stück Erde aus der unmittelbaren Nutzung der Menschen entlassen wird. So etwas ist und bleibt eine Herausforderung für alle Teile unseres Landes.



    Umso wichtiger ist es, dass wir uns als Menschen verantwortungsvoll in die Schöpfung einbringen. Dass wir einen guten Weg finden zwischen dem kontemplativen Staunen und Betrachten auf der einen Seite und dem aktiven Gestalten und Nutzen auf der anderen Seite. Ich finde, dass diese Arche Wattenmeer in Hörnum mit seiner Ausstellung in dieser Hinsicht vorbildlich ist. Denn die vielen Besucherinnen und Besucher werden hier mit den Wundern der uns im Wattenmeer begegnenden Schöpfung vertraut gemacht. Gleichzeitig erfahren sie etwas davon, wie der Mensch sich mit seinen Gaben in dieses einzigartige Ökosystem einbringen kann.



    Ich bin allen Menschen sehr dankbar, die sich für die Verwirklichung dieses Projekts eingesetzt haben:

    - Unserer Katholischen Pfarrei mit ihrem Pfarrer Dr. Hoppe, dem Kirchenvorstand und den Unterstützern in der Verwaltung des Erzbistums.

    - Der Schutzstation Wattenmeer, die in diesem Jahr ihr 50. Jubiläum feiert, mit all ihren haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

    - Der Ökumenischen Stiftung für Schöpfungsbewahrung und Nachhaltigkeit.

    - Dem Land Schleswig-Holstein, mit dem unser Erzbistum Hamburg "in dem Wissen um die globale Verantwortung für die Schöpfung und im Eintreten für sie" verbunden ist, wie es im Vertrag zwischen der katholischen Kirche und dem Land Schleswig-Holstein heißt.



    Ich wünsche der "Arche Wattenmeer" von Herzen Gottes Segen und vertraue sie der besonderen Fürsprache des Heiligen Josef an, dem die Kirche geweiht war. Mögen alle, die hier ein und aus gehen, sich von den Wundern der Natur und dem Schöpfer des Himmels und der Erde ansprechen lassen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen in der Feier der Kirchweihe der renovierten Herz-Jesu Kirche in Lübeck / Propstei Herz Jesu Lübeck / 23. 06. 2013
    Liebe Schwestern und Brüder,



    in Freude und in Dankbarkeit feiern wir die Wiedereinweihung dieser Kirche. Es ist die Kirche, in der die drei Lübecker Kapläne das Wort Gottes verkündet und die Sakramente gefeiert haben. Es ist die Kirche, in der Pastor Karl Friedrich Stellbrink am Fronleichnamsgottesdienst 1941 teilgenommen hat. Es ist die Kirche, in der durch den Arbeitskreis 10. November das Gedenken an unsere vier Märtyrer lebendig gehalten worden ist. Dieser Ort verbindet uns auf einzigartige Weise mit unseren vier Lübecker Märtyrern.



    Aber nicht nur der Ort ist eine starke Verbindung. Auch dieser Tag verbindet uns in besonderer Weise mit unseren vier Märtyrern. Denn heute vor 70 Jahren, vielleicht sogar jetzt in dieser Stunde vor 70 Jahren, wurde das Todesurteil für Karl Friedrich Stellbrink, Hermann Lange, Eduard Müller und Johannes Prassek verkündet.



    Unsere Märtyrer sind uns nahe. Sie haben das selbst so formuliert. Zum Beispiel Pastor Stellbrink in seinem Abschiedsbrief an seine Frau Hildegard. Wenige Stunden vor seinem gewaltsamen Tod schreibt er: "Jetzt aber werde ich immer bei euch sein. Zeit und Raum sind keine Grenzen mehr für mich, und alle Zeit werde ich vor Gottes Angesicht stehen mit meiner Fürbitte für euch."



    Auch Kaplan Lange schreibt von Zeit und Raum in seinem Abschiedsbrief an seine Eltern: "Ihr denkt an mich in euren Gebeten und dass ich alle Zeit bei euch sein werde und für den es jetzt keine zeitliche und räumliche Beschränkung mehr gibt, das ist ja klar."



    Zeit und Raum haben unsere Märtyrer hinter sich gelassen. Wir in unserer irdischen Pilgerschaft sind gebunden an Zeit und Raum. Aber dieser Tag des Todesurteils vor 70 Jahren und der Einweihung dieses Kirchenraumes sind eine besondere Gelegenheit, die Gemeinsamkeit mit unseren vier Märtyrern zu intensivieren. Wir sind Kirche auf dem irdischen Pilgerweg. Unsere vier Märtyrer sind Kirche in der Vollendung bei Gott. In der communio sanctorum, der Gemeinschaft der Heiligen, von der wir im apostolischen Glaubensbekenntnis sprechen und die wir in jeder Heiligen Messe erwähnen, sind wir mit denen verbunden, die uns voraus gegangen sind. Die trennende Wand zwischen Lebenden und Toten, zwischen unseren vier Märtyrern und uns, ist an diesem Tag, an diesem Ort, in der Feier der Eucharistie besonders durchlässig.



    Mit der Wiedereinweihung unserer Kirche heute und demnächst mit der Einweihung von Krypta und Gedenkstätte treten wir in eine neue Phase des Gedenkens. Die Stiftung Lübecker Märtyrer, in der Mitglieder des Arbeitskreises 10. November sowie Verantwortungsträger aus der evangelischen Kirche mitarbeiten, bündelt unsere Aktivitäten. Es gibt bereits viele Ideen, viele Pläne, wie sich das Gedenken an unsere vier Märtyrer noch weiter ausbreiten und vertiefen lässt. Das gemeinsame christliche Zeugnis unserer Märtyrer im Sterben soll uns zum gemeinsamen christlichen Zeugnis im Leben verhelfen. So wie es Jesus uns heute im Evangelium sagt: Wer mein Jünger sein will, der nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.



    Mit der Weihe der Kirche weihen wir uns selbst für die Nachfolge Christi im Gedenken an unsere vier Lübecker Märtyrer. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur Verabschiedung von Renate Anhaus als Geschäftsführerin von IN VIA / St. Marien-Dom / 21. 06. 2013
    Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von IN VIA,

    liebe Förderer, Unterstützer und Freundinnen von IN VIA,

    liebe Schwestern und Brüder,

    und vor allem,

    liebe Frau Anhaus mit Ihren Angehörigen,



    Schätze sammeln, davon spricht Jesus heute im Evangelium. Schätze sammeln – das passt auch gut zu IN VIA. Schätze sammeln, das passt besonders gut zu Frau Anhaus. Denn Frau Anhaus hat es in den 22 Jahren als Geschäftsführerin von IN VIA immer wieder verstanden, neue Schätze, neue Fördermittel, neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter, neue hilfsbedürftige Zielgruppen zu erschließen und diesen zu helfen.



    Manchmal konnte ich selbst miterleben, wie solche Schätze sich entwickeln. Wie Jugendliche lernten, ihre Fähigkeiten zu entdecken und auszuprobieren. Wie ein Kaufhaus eröffnete mit Waren des täglichen Bedarfs, deren Preise erschwinglich sind. Wie Menschen mit inneren oder äußeren Verletzungen sich wieder etwas zutrauten. Für all das und für vieles mehr steht IN VIA Hamburg. Als großer anerkannter sozialer Träger ist IN VIA bei uns im Norden zu einem Leuchtturm geworden, der weit ins Land hinaus strahlt.



    Ein Leuchtturm beleuchtet nicht sich selbst. Er wirft sein Licht weit hinaus. IN VIA wirft sein Licht weit hinaus auf Menschen am Rand und lässt dabei entdecken, was für ein Schatz diese sind. Dabei war Frau Anhaus durch all die Jahre hindurch Kopf und Herz von IN VIA. Kopf, indem sie Programme der Bundesebene und des Europäischen Sozialfonds immer wieder für sozial Benachteiligte zu nutzen wusste. Herz, indem sie einen besonderen Blick hatte für junge Frauen, die durch zerrüttete Familiensituation, Migrationshintergrund, Schulversagen oder anderes benachteiligt sind. In all Ihrer Arbeit haben Sie, liebe Frau Anhaus nicht nur Schätze entdeckt. Sie sind dabei selbst zum Schatz geworden, für unsere Kirche, für unsere Stadt und vor allem für tausende junger und nicht mehr so junger Menschen.

    Diese Schätze können – um es mit den Worten des Evangeliums zu sagen – Motte und Wurm nicht zerstören. Diese Schätze können Diebe nicht stehlen. Diese Schätze haben einen bleibenden Wert.



    Wenn ich das Wort von Papst Franziskus höre, dass der Schatz der Kirche die Armen sind, die Hilfsbedürftigen, dann denke ich sofort in Hamburg an IN VIA. Und ich denke an den römischen Diakon Laurentius. Im 3. Jahrhundert war er in Rom der Schatzmeister der römischen Kirchengemeinde. Der geldgierige Kaiser Valerian wollte sich der Schätze der Kirche bemächtigen. Er nahm den Diakon Laurentius gefangen, bis dieser bereit sei, ihm den Kirchenschatz auszuliefern. Laurentius ging darauf ein, verlangte aber vom Kaiser, er solle ihm hundert Pferdewagen schicken, damit der Kirchenschatz herangefahren werden könne. Die Pferde hatten schwer zu ziehen. Denn auf jedem Wagen standen dicht gedrängt die Armen der Stadt Rom. Das ist der Schatz der Kirche, erklärt Laurentius den nach Luft ringendem Kaiser.



    Sammelt euch Schätze im Himmel. Wir danken IN VIA mit Frau Anhaus an der Spitze, dass Sie der Kirche von Hamburg in so eindrucksvoller Weise geholfen haben, Schätze zu sammeln. Es sind Schätze, die bleiben, auch wenn Frau Anhaus jetzt als Geschäftsführerin ausscheidet. Und wir alle, liebe Schwestern und Brüder, wollen unseren Dank jetzt einbringen in die große Dankfeier der Kirche. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen anlässlich der Segnung der neuen Turmuhr und des neuen Kirchenfensters / St. Nicolai Kirche zu Kalkar / 16. 06. 2013
    Liebe Schwestern und Brüder,



    die Turmuhr, das neue Fenster und die Dominikaner – das sind die drei Themen, die diesen Sonntag prägen. Und diese drei Themen können uns helfen, das Wort des Apostels Paulus in der Lesung "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir" näher an uns herankommen zu lassen.



    Wie spät ist es jetzt? Schon schauen einige auf die Uhr. Fast jeder trägt eine Uhr mit sich herum. Wozu also brauchen wir die neue Turmuhr? Sie ist überflüssig – wenn wir nur wissen wollen, wie spät es ist. Sie ist höchst sinnvoll, wenn wir uns bewusst machen wollen, was die Stunde geschlagen hat, was mit unserem Leben los ist, wozu wir unsere Zeit nutzen wollen.



    Denn "Über die Zeit nachdenken kann man nur als Christ. Man ist Christ, wenn man über die Zeit nachdenkt, ob man es weiß oder nicht" (Erhard Kästner). Denn wer auf die Uhr schaut, um sich zu erinnern, was die Stunde geschlagen hat, kommt nicht vorbei an dem, der aus dem Vater geboren wurde vor aller Zeit, der Mensch geworden ist in der Fülle der Zeit, und der wieder kommt am Ende der Zeit: Jesus Christus.



    Für uns Christen dreht sich das Leben nicht im Kreis. Unser Leben ist nicht wie ein Kreisel, der einmal aufgezogen wird, sich dann immer nur um sich selbst dreht, zuerst rasend schnell, dann immer langsamer, und schließlich kommt er ins trudeln und kippt um, aus, vorbei. Nein, für einen Christen ist das Leben wie ein Weg mit einem Ziel. Das Ziel ist Ende unseres Lebens und Anfang der Ewigkeit bei Gott. Dazu gibt uns die Turmuhr drei Botschaften: Geh deinen Weg mit Gott – freu dich an all dem Schönen auf deinem Weg – und verlier das Ziel nicht aus den Augen. Denn wer Gott aufnimmt auf dem Weg, den nimmt Gott auf am Ziel. Wer Gott aufnimmt in der Zeit, den nimmt Gott auf in der Ewigkeit.



    Der Blick auf die Uhr kann wie ein Gebet sein: Gott, segne meine Zeit, bevor ich das Zeitliche segne. Mach meine Zeit hell, sei Licht auf meinem Weg durch das Licht des Glaubens.



    Das Licht des Glaubens strahlt in ihrer einmaligen Kirche besonders auf. Zum einen durch die spätmittelalterlichen Altäre. Zum anderen durch die modernen Fenster. Die Altäre zeigen in ihrer Bildfülle den Inhalt des Glaubens, biblische Erzählungen aus dem Alten und Neuen Testament. Als wir vorhin in der ersten Lesung von David hörten, dachte ich sofort an den tanzenden David mit seiner Harfe drüben im Sieben-Schmerzen-Altar von Douvermann. David, der uns einen großen Teil der Psalmen hinterlassen hat. David, der Schuld auf sich geladen hat und dem vergeben wird. So wie jeder Mensch Schuld auf sich lädt und Vergebung erlangen kann. So erzählen die Altäre in ihrer Bildhaftigkeit von vielen Szenen aus dem Alten und Neuen Testament.

    Die Fenster dagegen tragen in ihrer Bildlosigkeit zum Vollzug des Glaubens bei. Beim Anschauen eines Fensters kann es ihnen ähnlich gehen, wie beim Hören einer Fuge von Johann Sebastian Bach. Sie erfahren keinen bestimmten Inhalt. Aber all das, was sich auf ihrem Seelengrund abgelagert hat, kann durch das Betrachten eines Fensters ins Bewusstsein gehoben werden und geordnet werden, all das was in uns west an Dankbarkeit, Trauer, Sehnsucht oder auch Fragen. Die Altarbilder wirken von außen nach innen, ihre Botschaft dringt in mich ein. Die Fenster wirken von innen nach außen. Sie machen meine inneren Bilder bewusst und ordnen sie.



    Bis in die 90er Jahre gab es im Fernsehen die Testbilder so wie heute noch zum Beispiel in Italien. Sie testen, ob alles stimmig ist. Die Fenster von Karl Martin Hartmann können zum Testbild für die Seele werden. Weil sie die inneren Bilder, die sich auf dem Seelengrund abgelagert haben, aktivieren und ins Bewusstsein heben.



    Das macht Ihre Kirche so anziehend: Dass die Altarbilder zum Inhalt des Glaubens führen und die Fenster zum Vollzug des Glaubens. Beides ergänzt sich und bereichert sich gegenseitig. Beides hilft, das Wort des Paulus aufzunehmen: "Christus lebt in mir".



    Nun noch zu den Dominikanern. Da muss ich Ihnen eine persönliche Geschichte erzählen. Manche von Ihnen erinnern sich noch an Pastor Josef Perau, gebürtig aus Wissel, Rektoratsschule Kalkar, dann Gaesdonck, später dort Präses und danach viele Jahre Pastor in Hülm. Vor knapp zehn Jahren ist er hoch betagt in Kevelaer gestorben. Diesem Josef Perau hatte ich einige Jahre nach meiner Priesterweihe erzählt, dass ich in Bologna in Italien nach langen Kämpfen den Entschluss gefasst hatte, Priester zu werden. Viele Jahre später schreibt mir Pfarrer Perau in einem Brief nach Münster: Lieber Werner, mir kommt in den Sinn, dass lange vor dir bereits ein anderer Klever in Bologna eine folgenreiche Entscheidung getroffen hat. Und dann zitiert er aus einem Buch über Kalkar, wie Herzog Johann I von Kleve 1450 von einer Wallfahrt nach Jerusalem in Bologna den Dominikanerorden bittet, ein Kloster in Kalkar zu gründen. Und wie die Fürstin Maria von Burgund, die auf dem Monreberg saß und alle Kalkarer Bürger den Bau von Kirche und Kloster vorantrieben, bis er 1480 vollendet war.



    Und dann schreibt mir Josef Perau in seiner geistlich einfühlsamen Art weiter: "In der Communio sanctorum geschehen so erstaunliche Dinge, dass ich es für möglich halte, dass du deinen Beruf auch der Fürsprache der alten Dominikanern verdankst, die an Kleve eine Dankesschuld abzutragen hatten."

    Perau will damit sagen: Auch die Dominikaner, die Jahrhunderte lang so segensreich in Kalkar gewirkt haben, sind nicht einfach nur Vergangenheit. Sie gehören auch heute zur Gemeinschaft der Kirche und sind uns verbunden.



    Darüber wäre viel zu sagen. Aber wie dem auch sei, liebe Kalkarer, ich finde es höchst beachtlich, dass Sie mit der Ausstellung über die Dominikaner sich Ihrer eigenen Geschichte vergewissern. Denn wer weiß, woher er kommt, der weiß auch, wohin er geht. Turmuhr und Fenster sind dabei wertvolle Signale auf Ihrem Weg durch die Zeit. Sie helfen uns, damit auch wir sagen können: Christus lebt in uns.



    Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im Fronleichnamsgottesdienst / St. Marien-Dom / 30. 05. 2013
    Liebe Gemeinde,



    Brot – und immer wieder Brot, Brot, Brot – wahrscheinlich war Brot das einzige deutsche Wort, das der Bettler kannte. In beiden biblischen Texten heute ist von Brot die Rede. Brot als Chiffre für das, was man zum Leben braucht, Brot als das, was lebensnotwendig ist.



    Im Evangelium ist das eindeutig. Die Menschen haben Hunger und Jesus gibt ihnen Brot. In der Lesung dagegen ist es geheimnisvoll. Jesus nimmt das Brot und erklärt: Das ist mein Leib für euch, das bin ich für euch. Jesus will sagen: Dieses Brot ist für euch lebensnotwendig. Ich, sagt Jesus, bin für euch lebensnotwendig. Nicht nur im Abendmahlssaal damals. Immer, für alle Zeiten. Deshalb sagt er: Tut das weiter zu meinem Gedächtnis.



    Dann ist das eindeutig. Wir leben vom Brot, von Nahrung. Und wir leben von Jesus. Wir brauchen Jesus so notwendig wie Brot. Er stärkt uns auf unserem irdischen Pilgerweg.



    Diesen Pilgerweg bilden wir ab in der Fronleichnamsprozession gleich. Mit Christus ziehen wir durch unsere Straßen. Daran wird deutlich: Wir sind nicht nur in der Kirche, in der Liturgie, in der heiligen Messe mit Christus unterwegs. Unser ganzes Leben ist ein Unterwegssein mit Christus. Er ist bei uns auf allen Wegen, den Wegen des Alltags, der Arbeit, des Vergnügens, der Erholung. Unser Leben ist ein Unterwegssein mit dem auferstandenen Herrn.



    Dabei ist es unvermeidlich, dass wir Menschen begegnen auf unserer Prozession, die ihr Leben anders sehen. Nicht als Pilgerweg zu dem Ziel des ewigen Lebens. Nicht als Weg mit dem auferstandenen Herrn. Nicht als Gemeinschaft mit Christus im Brot des Lebens. Sondern mehr als fortwährende Momentaufnahme. Ohne Richtung. Ohne Ziel. Wir wollen das respektieren. Aber wir möchten auch respektiert werden. Auch wenn sich respektlose Zwischenrufe wahrscheinlich auch in diesem Jahr nicht ganz vermeiden lassen. Aber das macht nichts.



    Der Prozessionsweg als Abbild unseres Pilgerweges durch die Zeit. Vielleicht fällt Ihnen während der Prozession ein, wie war es, als ich zuletzt mit einer Prozession gegangen bin? Was hat sich seitdem geändert? Was ist schwerer geworden? Was ist besser geworden seitdem? Was hat sich verändert? Der Prozessionsweg als Abbild unseres Lebensweges kann uns wichtige Einsichten vermitteln.



    Ist das so wie eine Demo, fragte einer der Jugendlichen, denen ich die Fronleichnamsprozession erklärte. Es fällt auf, dass in dem Wort Demonstration das Wort Monstranz fast vollständig erhalten ist. Die Monstranz als kostbares Gehäuse für den Leib des Herrn, für das Brot des Lebens. Und die führen wir mit auf unserem Prozessionsweg. Die zeigen wir. Die Frage des Jugendlichen war gar nicht so ver-kehrt. Demonstration und Monstranz haben denselben Wortstamm.



    Dass wir mit Christus in der Monstranz eine friedliche Demonstration machen, versteht sich von selbst. Und diesen Frieden erbitten wir für unsere Straßen und für alle, die darauf unterwegs sind. Für unsere Häuser und für alle, die darin wohnen. Für unsere Stadt, unser Land, für die ganze Erde. Christlicher Glaube ist welthaft und hat die Welt im Blick.



    Zu unserer Prozession mit der Monstranz passt gut, dass am kommenden Sonntagnachmittag wieder die Monstranz im Mittelpunkt steht. Papst Franziskus hat im Jahr des Glaubens dazu aufgerufen, dass am nächsten Sonntag in allen Bischofskirchen eine eucharistische Anbetungsstunde gehalten wird, mit dem Bischof und den Gläubigen. Wir wollen das nächsten Sonntag hier um 17.00 Uhr tun. Im Internet kann man sehen, dass nicht nur bei uns, sondern in sehr vielen Kathedralen der Welt die Anbetungsstunde gehalten wird. Ich lade Sie herzlich dazu ein.



    In unserer Prozession heute setzen wir uns in Bewegung mit dem auferstandenen Herrn. In der Anbetungsstunde am kommenden Sonntag verweilen wir in Ruhe vor dem auferstandenen Herrn. Bewegung und Ruhe, beides braucht der Mensch, um im Lot zu sein.



    Brot – wir brauchen die Nahrung für den äußeren Menschen. Wir brauchen die Nahrung für den inneren Menschen. Dass uns in der Gestalt des Brotes sowohl das eine wie das andere geschenkt wird, bleibt ein unauslotbares Geheimnis. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen in der Feier der Priesterweihe / St. Marien-Dom Hamburg / 18. 05. 2013
    Lieber Mitbruder Alexander Görke mit Ihren Angehörigen, Freunden, Bekannten

    und den vielen Mitgliedern aus den Gemeinden,

    liebe Mitbrüder im diakonalen, priesterlichen und bischöflichen Dienst,

    liebe Schwestern und Brüder,



    kürzlich beim Friseur blätterte ich in einem bekannten Jugendmagazin. Da stach mir eine Umfrage in die Augen, die sich an junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren wendet. Die Frage heißt: Was wünschst du dir am meisten für dein Leben?



    Es wäre interessant, diese Umfrage jetzt auch hier bei uns im Mariendom zu halten. Welche Wünsche würden bei uns wohl im Vordergrund stehen?



    In der Jugendzeitschrift ließ das Umfrageergebnis mich staunen. Am meisten wünschten sich die jungen Leute

    1. Liebe

    2. Freude – viele sagten statt dessen Spaß –

    3. Freundschaft

    Warum ich staunte? Weil das genau entscheidende Begriffe in unserem Evangelium heute sind. Probieren wir es aus:

    1. Liebe – Bleibt in meiner Liebe, sagt Jesus.

    2. Freude – Damit eure Freude vollkommen wird, heißt es im Evangelium

    3. Freundschaft – Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage, ruft uns Jesus zu.

    Natürlich müsste man jetzt darüber diskutieren, was genau man versteht unter Liebe, Freude und Freundschaft. Klar. Aber immerhin lässt sich feststellen: Die Sehnsucht vieler Menschen und die Botschaft Jesu haben direkt miteinander zu tun.



    Alexander Görke sagt in dem schönen Artikel in der Kirchenzeitung: Die Liebe Gottes zu den Menschen, das ist die Überschrift über allem.



    Man könnte auch sagen: Die Liebe Gottes zu den Menschen, die ist es, die auch Freude und Freundschaft bewirkt.



    Die Liebe Gottes zu den Menschen ist das Entscheidende? Wirklich? Mit so einem steilen Satz kommen natürlich auch Fragen. Was ist mit der Liebe Gottes, wenn ich Leid erfahre? Leid hat so viele Gesichter. Leid kann so furchtbar sein. Wo bleibt dann die Liebe Gottes?



    Wir haben unseren Gottesdienst mit dem Kreuzzeichen begonnen. Das soll uns daran erinnern: Kreuz und Leid sind nicht ein Gegensatz zur Liebe Gottes. Sondern umgekehrt ist es wahr. Die Liebe Gottes hilft mir, auch Kreuz und Leid anzuneh-men und nicht daran zu zerbrechen. Haben wir Erfahrungen damit? Sprechen wir über diese Erfahrungen?



    Unsere Gesellschaft in Deutschland legt viel Wert auf Machen, Organisieren und Funktionieren. Das ist gut. Aber das ist nicht alles. Denn Liebe kann man nicht machen, Freundschaft kann man nicht organisieren, und Freude schafft man nicht durch Funktionieren.



    Unverzichtbar für Liebe, Freude und Freundschaft sind Hingabe und Vertrauen. Das gilt auch und besonders für unser Verhältnis zu Gott. Die Gebete großer geistlicher Menschen haben alle mit Hingabe und Vertrauen zu tun.



    „Mein Vater, ich überlasse mich dir, mach mit mir, was dir gefällt“, betet Charles de Foucauld in der Einsamkeit der Wüste.



    „Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir“, betet Nikolaus von der Flüe in seiner Klause.



    Und am nächsten ist uns Eduard Müller, einer unserer vier Lübecker Märtyrer. Er betet: „Herr, hier sind meine Hände, leg darauf, was du willst, nimm weg, was du willst, führe mich wohin du willst, in allem geschehe dein Wille.“



    Welche Praxis, welche tägliche Einübung der Hingabe und des Vertrauens an Gott beherzige ich oder möchte ich stärker praktizieren? Für die Erfahrung von Liebe, Freude und Freundschaft, wie Jesus sie im Evangelium heute meint, ist solche Praxis von Hingabe und Vertrauen unverzichtbar.



    Wenn Alexander Görke gleich die Priesterweihe empfängt, dann sind drei Elemente besonders wichtig.

    Erstes Element: Die Handauflegung, eine archetypische Geste. Sie meint Beauftra-gung, aber auch Segen und Schutz.

    Zweites Element: Die Handauflegung geschieht in Stille. Es gibt dabei nichts zu kommentieren, nichts zu erklären, nichts zu reden, wenn Gott seine Hand auf einen Menschen legt und ihn sendet.

    Drittes Element: Die ausführliche Preisung Gottes in der Weihepräfation.



    Diese drei Elemente, die Geste, die Stille und die Preisung, in denen die Weihe sich vollzieht, sind auch wichtige Einübungsformen in Hingabe und Vertrauen. Die Gesten am Morgen und Abend vor allem, etwa die ausgebreiteten Arme oder das Kreuzzeichen oder die Gebärde des Empfangens. Die Preisung in den Psalmen, oder in anderen Gebetsformen oder in Liedern. Und die Zeit der Stille. Die Weihehandlung, die wir jetzt miterleben, kann uns anregen, auch unsere eigene geistliche Praxis durch Gesten, Preisung und Stille zu intensivieren. So lässt sich im eigenen Glaubensleben Liebe, Freude und Freundschaft erfahren.



    In Hingabe und Vertrauen halte ich mich nicht selber fest. In Hingabe und Vertrauen lassen wir uns los auf Gott hin. Oder, wie es Papst Benedikt formuliert hat, in Hingabe und Vertrauen werden wir leicht. Wir werden so leicht, dass wir fliegen können, weil wir uns selber nicht mehr schwer nehmen.



    Diese Leichtigkeit, die durch das Kreuzzeichen oder eine andere Geste, durch Stille und Lobpreis eingeübt wird, vermittelt die Erfahrung von Liebe, Freude und Freundschaft. Je weniger das Theorie ist, je mehr das Praxis ist, desto mehr können wir die Botschaft der Liebe, der Freude und der Freundschaft an uns selbst erfahren und anderen vermitteln. Amen.
  • Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen im ökumenischen Gottesdienst des evangelischen Kirchentages / Fischmarkt, Hamburg / 02. 05. 2013
    Wer ist Christus für mich?



    Liebe Schwestern und Brüder,



    als ich vor 10 Jahren nach Hamburg kam, wurde ich oft gefragt: Mögen Sie Fisch? Wenn ich dann antwortete: Ja, gern, dann kam spontan der Hinweis: Dann gehören Sie nach Hamburg.



    Ich hätte dazu bemerken können: Wer den Fisch liebt, ist Christ. Denn der Fisch ist ein Christussymbol, so wie Bischof Ulrich es vorhin anschaulich erklärt hat.



    Aber Fisch mögen und Christus mögen – da gibt es doch Unterschiede – nicht nur in Hamburg.



    Wer Fisch mag, der achtet auf Cholesterinwerte. Wer Christus mag, der achtet noch auf ganz andere Werte.



    Was hat es für einen Wert, Christus, dich zu mögen, sich auf dich einzulassen?



    Früher hat man oft gesagt: Christus ist wichtig für ein Leben nach dem Tod. Das gilt auch weiterhin. Aber Christus ist auch wichtig für ein Leben vor dem Tod. Und beides – Leben vor und nach dem Tod – hängt ja zusammen.



    Madeleine Delbrel, die Arbeitermissionarin in Paris, spricht von einem doppelten Mangel an Hoffnung. Mangel an Hoffnung für diese Zeit und Mangel an Hoffnung für die Ewigkeit.



    Diesem Mangel will Christus abhelfen. Er will dir Hoffnung geben, so viel du brauchst, Hoffnung für Zeit und Ewigkeit.



    Und wie geht das, werden Sie fragen.



    Das geht, indem ich eine Beziehung aufbaue zu Christus. Denn er ist meine Hoff-nung in Person.



    Zur Gestaltung einer Beziehung gehören Zeichen. Sie haben doch alle ein Zeichen in Ihrem Zimmer von einem Menschen, der Ihnen viel bedeutet. Welches Zeichen von Christus ist Ihnen ans Herz gewachsen? Wie gehen Sie mit diesem Zeichen um?



    Beziehung braucht aber auch Worte. Worte Jesu an mich liegen täglich im Evangelium bereit. Wie sieht es aus mit meinen täglichen Worten an Jesus Christus? Martin Luther schreibt: „Es ist gut, dass man das Gebet morgens früh das erste und abends das letzte Werk sein lasse“. Er könnte hinzufügen: Denn so entwickelt sich Beziehung.



    Beziehung ruft nach Konsequenzen. Auch die Beziehung zu Christus. Woran kann jemand erkennen, dass ich Christ bin? Wenn ich sage, dass ich Fisch mag, ihn aber beim Kauf oder im Restaurant immer liegen lasse, dann stimmt was nicht. Wenn ich sage, dass ich Christus mag, ihn aber immer links liegen lasse, nicht beachte, dann stimmt etwas nicht.



    Und schließlich, Beziehung muss ich auch wollen. Das gilt auch für die Beziehung zu Christus. Blaise Pascal sagt: „Das Licht – gemeint ist das Licht der Erkenntnis – reicht gerade aus für diejenigen, die glauben wollen, nicht aber für jene, die gleich-gültig sind.“



    Jede Beziehung kennt Höhen und Tiefen. Wenn ich bei jedem Tief die Beziehung abbreche, kann sich nichts entwickeln. Das gilt auch für die Beziehung zu Christus.



    „Wer bist, Herr, für mich“, fragt leidenschaftlich der Kirchenvater Augustinus. „Sag mir um deiner Barmherzigkeit wllen, wer du für mich bist. Sprich zu meiner Seele: Ich bin dein Heil.“



    Verliebte geben sich Namen. Welchen Namen, welches Bekenntnis, sage ich zu Christus. Wie nenne ich ihn am liebsten?



    Wie drücke ich aus, dass ich nicht nur Fisch mag? Wie drücke ich aus, dass ich Jesus Christus mag? In der geistlichen Tradition gibt es viele Namen für Christus: Retter, Erlöser, Freund, Bruder, Wegbegleiter … Es geht um mein Bekenntnis, um meine Hoffnung, hier auf dem Fischmarkt und auf meinem Pilgerweg durch die Zeit bis hin zur Ewigkeit. Amen

  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen im Anschluss an den Eröffnungsgottesdienst des 34. Deutschen Evangelischen Kirchentags / HafenCity, Hamburg / 01. 05. 2013
    Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck,

    sehr geehrter Herr Bürgermeister Scholz,

    verehrte Bischöfin, verehrte Bischöfe,

    sehr geehrte Damen und Herren,

    liebe Schwestern und Brüder,



    herzlich Willkommen zum Kirchentag in Hamburg!



    Ich freue mich sehr, dass es nun soweit ist. Dass wir hier in der HafenCity Hamburgs gemeinsam Gottesdienst feiern durften. Dass wir mit dieser Liturgie das große Glaubensfest des Kirchentags eröffnen konnten.

    HafenCity – das ist ein Ort der gelebten Ökumene. Denn nur wenige Schritte von hier befindet sich die "Brücke", das Ökumenische Forum HafenCity. Neunzehn Konfessionen haben sich darin zusammengefunden, um in diesem neuen und faszinierenden Stadtteil christliches Leben auf besondere Weise sichtbar zu machen.



    Der bauliche Beginn des Forums bestand in einem kleinen Holzhaus, das vor einigen Jahren inmitten der Baustellen aufgestellt wurde. Dort trafen wir uns regelmäßig zum Gebet und zur Begegnung. Bis wir im vergangenen Jahr das Forum an der Shanghaiallee eröffnet haben.



    Der kleine Holzbau ist mittlerweile nach Nordfriesland umgezogen. Doch für mich besteht er auch hier in Hamburg im Geist weiter als ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass wir in der Ökumene vor vielen Jahrzehnten klein begonnen haben. Ein Zeichen dafür, dass Gebet und Begegnung uns immer mehr zusammenwachsen lassen. Ein Zeichen aber auch dafür, dass wir das Vorläufige und Kleine irgendwann hinter uns lassen können, um es in feste Vereinbarungen, repräsentative Orte und gemeinsame Feiern zu überführen.



    "Soviel du brauchst" – das gilt auch für die Ökumene. Wir brauchen für die Ökumene Orte, in denen wir gemeinsam beten, feiern und uns begegnen können. Für diese Orte gebrauchen Maurer ihre Kellen, Juristen ihre Paragraphen und Ökonomen ihre Zahlen. Diese Orte leben aber vor allem davon, dass wir sie uns schenken lassen. Von Gott, in Christus, durch den Heiligen Geist, der uns im Gebet, in der Begegnung und in Werken der Nächstenliebe zusammenführt.



    Als Christ fühle ich mich dort wohl, wo mein Zuhause ist. Unter der Kanzel, wenn ich evangelisch bin. In der Nähe des Altars, wenn ich katholisch bin. Im Schein der Ikonen, wenn ich orthodox bin. Jede und jeder braucht so ein Zuhause des Glaubens. Hier schlägt man Wurzeln. Man wächst im Vertrauen zu Gott und in der Liebe zu den Menschen.



    Doch wir brauchen auch Orte, wo wir das Gemeinsame feiern können. Wo Kanzel, Altar und Ikonen in eine vielgestaltige Einheit zusammenwachsen können. Sichtbar für die Menschen, für unsere Stadt Hamburg, für unser Land. Ich wünsche mir von uns allen mehr Mut, Glaubensorte der gelebten Ökumene in unseren Städten und Kommunen gemeinsam zu verwirklichen.



    "Welch Freude, Katholik zu sein!" So drückte es vor 160 Jahren ein Redner bei einem der ersten Katholikentage aus. Auch ich freue mich, katholisch zu sein. So wie ich mir wünsche, dass Sie, liebe evangelische Schwestern und Brüder, von sich sagen: Welch Freude, evangelisch zu sein. Das hat nichts zu tun mit Profilökumene, aber umso mehr mit der Einsicht: Mit meinem Denken, Beten und Tun fühle ich mich tief mit meiner Kirche verbunden. Doch gerade das erlaubt es mir, "Selbstgenügsamkeit zu überwinden und Vorurteile zu beseitigen, die Begegnung miteinander zu suchen und füreinander da zu sein", wie es die Charta Oecumenica ausdrückt.



    Zu dieser Begegnung im Gebet und in der Nächstenliebe wird auch dieser Evangelische Kirchentag reichlich Gelegenheit bieten. Dafür bin ich sehr dankbar. Und ich bin auch dankbar, dass schon im Vorfeld sehr viel gemeinsames Tun und Beten möglich war.



    So wünsche ich allen Gästen und Mitwirkenden beim Evangelischen Kirchentag hier in Hamburg von Herzen Gottes Segen. Und wer weiß: Vielleicht wird der nächste Kirchentag, der hier in Hamburg stattfinden wird, ja ein Ökumenischer Kirchentag sein!
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur Einführung des Dompfarrers / St. Marien-Dom Hamburg / 28. 04. 2013
    Liebe Gemeinde,



    viele von Ihnen werden sich auch gefreut haben, als Ihnen gestern auf der ersten Seite des Hamburger Abendblatts das Portrait von Peter Mies entgegenblickte. Auch wenn dann nicht alles, was im Text darunter stand, richtig ist, ich finde es gut, dass unser neuer Dompfarrer und unser Mariendom in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Dazu dient auch die neu eingeführte Anschrift "Am Mariendom".



    Es war eine eigenartige Fügung, dass am vergangenen Mittwoch, als unser neuer Dompfarrer in seine Wohnung am Dom hier umzog, ich in Maria Grün die Heilige Messe mit der Gemeinde der Militärseelsorger feierte. Dort sah ich dann auch das schöne Transparent zum Abschied von Pfarrer Mies. Nicht wenige haben mir gesagt, wie sehr sie es bedauern, dass ich Ihren Pfarrer von dort weg an den Dom berufen habe. Ja, das kann ich gut verstehen. Aber gerade deshalb finde ich es beachtlich, dass hier heute Abend so viele aus Maria Grün dabei sind. Und ich kann allen in Blankenese versichern, dass sie wieder einen sehr guten Pfarrer bekommen, auch wenn es bis zu dessen Dienstantritt noch einige Monate dauert.



    "Gott ist in unserer Gesellschaft wie ein Obdachloser", las ich kürzlich in einem Artikel. Wie ein Obdachloser? Gemeint ist: Niemand will Gott aufnehmen. Manchen ist er sogar lästig. Viele beachten ihn überhaupt nicht. Können unsere Kirchen, kann unser Mariendom denn Gott aufnehmen? Nein, das Kirchengebäude für sich allein kann Gott nicht aufnehmen. Nur wenn Menschen da sind, die Gott annehmen und aufnehmen, dann kann Gott auch ein Obdach in unseren Kirchen haben. Nur wenn Menschen da sind, die Gottes Botschaft hören und darauf antworten und sein Wort befolgen, nur dann kann Gott in unserer Mitte sein.



    Wenn ich tagsüber außerhalb der Gottesdienstzeiten zu einem kurzen Gebet unseren Mariendom betrete, dann freue ich mich oft, weil auch andere da sind. Manchmal nur zum Besichtigen. Aber oft auch zum stillen Beten. Der Glaube braucht die Stille Vor Gott. Der Glaube braucht das Schweigen vor Gott.



    "An wie viel Tagen der Woche ist der Dom in Funktion", fragt mich jemand. "An jedem Tag des Jahres", habe ich geantwortet. Aber damit war der andere nicht zu-frieden. Er wollte offenbar genau wissen, wie unser Dom ausgelastet ist. Deshalb fragte er weiter: "Und wie viele Stunden am Tag"? "Von morgens bis abends". Und dann habe ich ihm erklärt, dass der Dom täglich nicht nur zum Gottesdienst einlädt, sondern auch zu Stille, Besinnung und privatem Gebet. Wenn wir dieser Einladung folgen, dann geben weniger wir Gott ein Obdach, sondern Gott holt uns aus unserer Obdachlosigkeit heraus. Denn ohne Gott sind wir unbehaust, ungeborgen, ungetröstet.



    Unser Glaube lebt von zwei Spannungspolen: von Gemeinschaftlichem und Privatem. Unsere Gottesdienste, mal in kleiner, mal in großer Gemeinschaft, sind unverzichtbar. Aber ebenso unverzichtbar ist, dass ich als Einzelner, ganz privat, unvertretbar vor Gott bin. Auch dazu lädt unser Dom ein. Deshalb liegt mir so sehr daran, dass unsere Kirchen geöffnet sind, soweit das nur irgendwie möglich ist. Wenn beide Spannungspole beachtet werden, gemeinschaftliches und privates Verweilen vor Gott, dann verwirklicht sich ein Stück von dem, was wir vorhin in der Lesung aus der Offenbarung des Johannes hörten: "Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen."



    Unser Mariendom hat unter allen Kirchen im Erzbistum eine Sonderstellung. Er ist Pfarrkirche und zugleich Bistumskirche. Für den Dom als Pfarrkirche ist der Dompfarrer zuständig. Für den Dom als Bistumskirche ist der Dompropst zuständig, der Leiter unseres Domkapitels. Im Dom als Pfarrkirche findet all das statt, wie in jeder großen Pfarrei. Im Dom als Bistumskirche halten wir die Weihegottesdienste, die Sendungsgottesdienste und all die vielen anderen Feiern, zu denen das ganze Bistum eingeladen ist wie Erwachsenenfirmung, Aufnahme der Taufbewerber, Segnungsfeiern und viele andere Gottesdienste, die einer von uns Bischöfen leitet.



    Eine weitere wichtige Aufgabe hat der Dom als Kirche für die Gemeinden anderer Muttersprache. Zur Zeit vor allem für die portugiesische, koreanische und kroatische Gemeinde. Dadurch erleben wir im Mariendom immer wieder Weltkirche. Ferner gehören viele Einrichtungen, Verbände und Institutionen zum Dombereich. Auch für diese ist der Mariendom ein Stück Heimat, damit Gott nicht obdachlos wird und damit wir nicht Gott-los werden.



    Ab Mittwoch wird unserer Mariendom und auch seine Umgebung mitgeprägt sein vom evangelischen Kirchentag. Ich freue mich sehr über dieses wichtige ökumenische Signal.



    Schließlich gehört zum Dom auch eine große Begräbnisstätte. Inspiriert von früh-christlicher Tradition haben wir in der Krypta des Domes neben der Grablege der Bischöfe eine Urnenbegräbnisstätte angelegt. Die Verbindung zwischen Lebenden und Verstorbenen, die im Gebet in jeder Eucharistiefeier zum Ausdruck kommt, ist hier auch räumlich erfahrbar.



    Das Evangelium, mit dem unser Dompfarrer eingeführt wird, leitet die erste Abschiedsrede Jesu im Johannesevangelium ein. "Liebt einander", trägt Jesus uns auf. Wir müssen es uns immer wieder neu von Jesus sagen lassen.



    Kürzlich las ich die Abschiedsworte Lenins. Lenin sagt unmittelbar vor seinem Tod: "Wenn er nur einem einzigen Christen begegnet wäre, der so gewesen wäre wie Paulus, so wäre er auch ein Christ geworden".



    Wir leben in Hamburg als Christen in der Minderheit. Aber wenn andere in der Begegnung mit uns wahrnehmen, dass wir den Auftrag Jesu "Liebt einander" immer wieder neu zu verwirklichen versuchen, dann lassen sich Menschen anstecken vom Glauben. Die Sehnsucht nach Sinn und Geborgenheit ist ja doch in unserer Gesellschaft überdeutlich.



    Ab heute ist unser neuer Dompfarrer nicht nur mit seinem Portrait in der Zeitung hier bei uns präsent, sondern er ist lebendig präsent bei uns. Lieber Dompfarrer, wir freuen uns darüber, versprechen dir auch weiterhin unser Gebet und heißen dich herzlich willkommen. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur Eröffnung der Internationalen Gartenschau in Hamburg / Internationale Gartenschau Hamburg / 26. 04. 2013
    (Evangelium Lk 24,13-35)



    Liebe Schwestern und Brüder,



    da sind zwei auf dem Weg nach Emmaus. Egal, ob Sie den Emmaustext zum ersten Mal gerade gehört haben oder zum hundertsten Mal, Sie werden sagen: Das kenne ich auch: Enttäuscht irgendwo weggehen.



    Aber die Jünger sind zu zweit. Und sie reden über ihre Enttäuschung.



    Das wünsche ich mir auch: Dass ich auf meinem Weg der Enttäuschung nicht allein bin. Dass jemand da ist, mit dem ich reden kann über meine Enttäuschung. Dann kann auch mein Weg der Enttäuschung zum Weg des Aufbruchs werden, zum Aufbruch mit brennendem Herzen. Wie bei den Emmausjüngern.



    Am besten probieren wir das jetzt sofort aus.



    1. Weg der Enttäuschung: Ich bin enttäuscht, weil die Christenheit immer noch gespalten ist. Zum Beispiel gespalten in katholisch und evangelisch.

    Wer ist mit mir auf dem Weg der Enttäuschung? Vielleicht Bischöfin Fehrs oder Bischof Ulrich oder ein anderer engagierter Christ. Wir reden über unsere Enttäuschung. Dass wir immer noch nicht geeinte Kirchen sind. Dass wir die Spaltung des 16. Jahrhunderts immer noch nicht überwunden haben.

    Wohl sind wir nicht ganz ohne Hoffnung. Denn wir haben gemeinsam die Bibel, das Wort Gottes. Wir haben gemeinsam die Taufe, das entscheidende Sakrament der Christwerdung. Aber die volle Einheit haben wir noch nicht.



    Und während wir auf dem Weg diese Enttäuschung benennen, kommt einer hinzu. Der sagt uns: Begreift ihr denn nicht? Ihr müsst den Weg weitergehen. Je intensiver ihr den Weg zur Einheit weitergeht, desto mehr bin ich bei euch, sagt Jesus.

    Lasst uns also aufbrechen mit brennendem Herzen.



    2. Weg der Enttäuschung: Ich bin enttäuscht über die ungerechte Verteilung der Güter in der Welt. Enttäuscht darüber, dass wir im Norden der Erde krank werden, weil wir viel zu viel zu essen haben. Und dass im Süden der Erde die Menschen krank werden, weil sie viel zu wenig zu essen haben.

    Wer ist mit mir auf dem Weg der Enttäuschung? Vielleicht ein Afrikaner, den ich in seinem Heimatland Äthiopien kennengelernt habe. Wir reden über unsere Enttäuschung. Dass wir die landwirtschaftliche Entwicklung in Afrika noch viel wirksamer voranbringen könnten, wenn noch mehr Menschen mithelfen. Mithelfen über unsere Hilfswerke. Zum Beispiel Misereor. Oder Brot für die Welt.

    Wohl sind wir nicht ganz ohne Hoffnung. Denn es gibt schon viele, die sich engagieren. Aber es müssen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern noch viel mehr sein, ja in ganz Deutschland und allen anderen reichen Ländern Europas.



    Und während wir auf dem Weg diese Enttäuschung benennen, kommt einer hinzu: Der sagt uns: Begreift ihr denn nicht? Ihr müsst den Weg der Entwicklungszusammenarbeit weitergehen. Je mehr ihr für gerechte Verteilung der Nahrung auf der Erde sorgt, desto mehr bin ich bei euch, sagt Jesus.

    Lasst uns also aufbrechen mit brennendem Herzen.



    Noch ein letzter Weg der Enttäuschung. Ich bin enttäuscht darüber, dass wir unsere Erde ausplündern und verkommen lassen. Enttäuscht darüber, dass wir durch ungebremsten Kohlendioxidausstoß die Erderwärmung beschleunigen. Dadurch steigt der Meeresspiegel und überflutet Wohngebiete. Das habe ich auf den Philippinen selbst erlebt. Enttäuscht darüber, dass wir einen Lebensstil pflegen, an dem die Erde langsam kaputt geht.

    Mein Begleiter auf diesem Weg der Enttäuschung ist ein Philippino, der sagt: Wir wollen bei uns in Asien auch Wohlstand für alle.

    Wohl sind wir nicht ohne Hoffnung. Denn auch bei uns bemühen wir uns um Sparsamkeit bei den Ressourcen. Aber Europa und Nordamerika müssten viel intensiver mit gutem Beispiel vorangehen.



    Und während wir auf dem Weg diese Enttäuschung benennen, kommt einer hinzu. Der sagt: Begreift ihr denn nicht? Ihr müsst den Weg eines anderen Lebensstils weitergehen. Je mehr ihr euch einsetzt für die Bewahrung der Schöpfung, desto mehr bin ich bei euch, sagt Jesus.

    Lasst uns also aufbrechen mit brennendem Herzen.



    Wer durch unsere Gartenschau hier geht, kann viel Schönes entdecken. Ich wünsche Ihnen, Schwestern und Brüder, dass Sie auf dieser Gartenschau in den wunderbaren Beispielen der Schöpfung auch an den Schöpfer denken. Und dass Sie Ihren Beitrag leisten für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Mit brennendem Herzen. Wie bei den Emmausjüngern. Amen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum 50jährigen Jubiläum der katholischen Militärseelsorge an der Führungsakademie der Bundeswehr / Maria Grün, Hamburg-Blankenese / 24. 04. 2013
    Sehr geehrter, lieber Herr Militärdekan,

    verehrte, liebe Mitbrüder, liebe Gemeinde,



    Licht und Finsternis – das sind die beiden Pole des Evangeliums heute. Licht und Finsternis – jeder Mensch hat die Aufgabe, dem Licht zu dienen und die Finsternis abzuwehren. Licht und Finsternis – auch Institutionen wie Bundeswehr allgemein und Führungsakademie im Besonderen müssen Licht verbreiten und Finsternis verbannen.



    Wir sind in Hamburg stolz darauf, dass die Führungsakademie zu unserer Stadt gehört. Denn als höchste Bildungseinrichtung für Stabsoffiziere, Generäle und Admirale hat sie wesentlichen Anteil daran, dass durch die Deutsche Bundeswehr nicht Finsternis, sondern Licht verbreitet wird.



    Vor fünfzig Jahren wurde die katholische Militärseelsorge an der Führungsakademie gegründet. Und zwar im April. Mir fällt auf, dass ebenfalls vor fünfzig Jahren im April Papst Johannes XXIII. seine Friedensenzyklika „Pacem in terris“ veröffentlicht hat. Beide Ereignisse sind unabhängig voneinander entwickelt worden. Aber katholische Militärseelsorge und Friedensenzyklika haben viel miteinander zu tun. Beide wollen Licht verbreiten und die Finsternis abwehren.



    Die Enzyklika ist damals von Papst Johannes XXIII. unter dem Eindruck der Kubakrise geschrieben worden. Die Welt stand am Rand eines Atomkriegs. Papst Johannes wandte sich mit einem dramatischen Friedensappell an den amerikanischen Präsidenten Kennedy und an den sowjetischen Staatschef Chruschtschow. In der Enzyklika forderte der Papst im Namen von Gerechtigkeit und Menschenwürde, dass der allgemeine Rüstungswettlauf aufhört. Gerechtigkeit und Menschenwürde verbreiten Licht. Rüstungswettlauf verbreitet Finsternis.



    Deshalb ist es unerlässlich, sich für Rüstungskontrolle und Abrüstung auch heute einzusetzen. Ebenso ist es notwendig, dass weltweit Rüstungsexporte verringert werden.



    Zugleich ist es aber auch notwendig, dass es Soldatinnen und Soldaten gibt, welche die Sicherung des Friedens zu ihrem Beruf gemacht haben. Ich rufe alle dazu auf, dass diejenigen, die als Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst versehen, Wertschätzung und Anerkennung erfahren. Soldaten sollen sich als Diener der Sicherheit und Freiheit der Völker betrachten. In der Erfüllung dieses Dienstes tragen sie zur Festigung des Friedens bei, heißt es sinngemäß im Zweiten Vatikanischen Konzil, das ebenfalls vor fünfzig Jahren begann.



    In der ans Konzil sich anschließenden Synode der Bistümer Deutschlands haben wir formuliert: „Diejenigen, die sich verantwortlich für den Dienst (in der Bundeswehr) entscheiden und damit ihren Auftrag zur Sicherung des Friedens … erfüllen wollen, haben Anspruch auf Achtung und Solidarität.“ Im Sinne unseres Evangeliums heute kann man als Begründung hinzufügen: Denn sie verbreiten Licht und wehren der Finsternis.



    Als ich zuletzt die Führungsakademie besuchte, haben wir über Befehl und Gehor-sam diskutiert. Es hat mich beeindruckt, wie wir mit vielen Beispielen zu dem Ergebnis kamen, dass Befehl und Gehorsam nicht uneingeschränkte Gültigkeit haben. Sondern dass bei beiden ethische Maßstäbe und Gewissensbildung eine wichtige Rolle spielen. Denn sonst verbreiten wir Finsternis und verhindern das Licht.



    Bei all diesen Fragen ist die Arbeit der Militärseelsorge von hohem Belang. Ich denke dabei an den Unterricht, der viel zur Gewissensbildung beitragen soll. Ich denke aber auch daran, dass jeder und jede mit eigenen Fragen und Sorgen in den Mitarbeitern der Militärseelsorge einen Ansprechpartner hat. Denn Gewissenschulung und Gewissensentscheidung brauchen persönliche Gespräche. Durch das Mitgehen in die Krisengebiete der Welt haben die Militärseelsorger noch einmal ganz neues Ansehen erfahren.



    „Der lässt uns nicht allein. Der geht mit uns in die brisanten Konfliktgebiete“, sagte mir jemand aus der Truppe und zeigte auf den Militärpfarrer. Wir müssen wahrnehmen, was solch ein Dienst bedeutet. An Unterstützungen für die Soldaten. Und an Herausforderung für die Seelsorger. Aber so wird Licht verbreitet und Finsternis abgewehrt.



    Fünfzig Jahre Militärseelsorge an der Führungsakademie der Bundeswehr – ich habe hohe Achtung vor den Seelsorgern und Pfarrhelfern, die dort tätig waren und sind. Denn sie haben durch ihren Dienst Licht verbreitet und Finsternis abgewehrt.



    Christlicher Glaube führt zum Licht, das Jesus Christus selber ist. Wer glaubt, wer sich verbindet mit Jesus Christus in Gebet, Gottesdienst und Nächstenliebe, der lässt sich von der Finsternis der Krisen, Konflikte und Katastrophen nicht mutlos machen. Wer sein Leben vom Licht Christi erhellen lässt, der kann selbst Licht werden. Deshalb stellen wir uns in dieser Feier erneut in das Licht Christi. Amen
  • Laudatio von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass der Verleihung der päpstlichen Auszeichnung "Pro Ecclesia et Pontifice" an Rainer Prachtl / Schwerin / 11. 04. 2013
    Sehr geehrter Herr Prachtl,

    sehr geehrte Damen und Herren,

    liebe Schwestern und Brüder,



    "Kirche in säkularer Gesellschaft" – so ist der heutige Abend überschrieben. Gemeinsam wollen wir darüber diskutieren, wie der Auftrag der Christen in der heutigen Zeit aussehen kann. Welche Initiativen und Anregungen können wir als Christen in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur einbringen? Da könnte es sich kaum passender ergeben, dass wir diesen Abend mit einer Ehrung für Sie, lieber Herr Prachtl, beginnen. Denn mit Ihnen ehren wir einen Bürger dieses Landes, bei dem christlicher Glaube und engagierter Einsatz in der Öffentlichkeit zusammenkommen.



    Geehrt werden Sie in erster Linie aber nicht von uns. Geehrt werden Sie von Papst Benedikt, in dessen Namen die Urkunde, die ich Ihnen in wenigen Minuten überreichen werde, Ende des vergangenen Jahres ausgestellt wurde. Die Ehrung hat aber auch unter unserem jetzigen Papst Franziskus weiterhin Bestand!



    Vor gerade einmal einem Monat – am 14. März – war ich bei Ihnen, Herr Prachtl, zu Besuch. Es war ein denkwürdiger Abend in Neubrandenburg. Zum einen, weil wir in den Räumen des Lessinggymnasiums die zwanzigste Verleihung des Siemerling-Sozialpreises feierten. In diesem Jahr ging der Preis an Sr. Gratia Kukla von den Missionsschwestern vom heiligen Namen Mariens. Zum anderen, weil am Abend zuvor Kardinal Bergoglio zum neuen Papst Franziskus gewählt wurde.



    Lieber Herr Prachtl! Ich freue mich sehr, dass heute Abend Sie derjenige sind, der ausgezeichnet wird. Die Auszeichnung "Pro Ecclesia et Pontifice" wird Frauen und Männern verliehen, die sich auf besondere Weise für den Glauben und die Kirche in unserer heutigen Welt einsetzen.



    In unserer Bistumsregion Mecklenburg sind Sie als bekennender Katholik, sozial engagierter Politiker und menschenfreundlicher Organisator in allen gesellschaftlichen Schichten hoch geschätzt.



    Ihr gesellschaftliches Engagement reicht weit zurück. Schon vor 1989/90 waren Sie in Ihrer Heimatgemeinde und bei der Caritas aktiv. Aber auch das kirchliche und politische Engagement über den eigenen Tellerrand hinaus war für Sie selbstverständlich. Dies zu einer Zeit, als solch ein Engagement nicht mit Gegenliebe seitens der politischen Öffentlichkeit rechnen konnte. So beteiligten Sie sich Ende der 1980er Jahre am konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung in der DDR. Der konziliare Prozess gab in der damaligen DDR einen klaren gesellschaftspolitischen Anstoß.



    Nach der Vereinigung wurden Sie in den Rat der Stadt Neubrandenburg gewählt und waren dort Vorsitzender der CDU-Fraktion. Von 1990 bis 2006 waren Sie zudem Mitglied des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern. Davon waren Sie von 1990 bis 1998 auch Präsident des Landtags und prägten so die Geschicke des Landes in der entscheidenden Phase nach der Wiedervereinigung.



    Von Ihnen, Herr Prachtl, können wir lernen, dass eine Demokratie tief in der Gesellschaft verwurzelt sein muss. Demokratie wird von den vielen einzelnen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes getragen, nicht nur von hauptamtlichen Politikern. Das leben Sie uns exemplarisch vor. Denn Sie waren nicht nur in politischen Ämtern aktiv. Im Jahr 1991 gründeten Sie den Dreikönigsverein mit Sitz in Neubrandenburg.



    Der Dreikönigsverein und die dazu gehörende Stiftung haben eine überkonfessionelle, aber dezidiert christliche Prägung. Der Verein wirkt sozial-caritativ – in der Unterstützung von Jugendlichen und durch die Arbeit im Hospizbereich – und sendet damit zugleich eine starke gesellschaftspolitische Botschaft aus. Die Dreikönigsstiftung verleiht zudem den Siemerling-Sozialpreis und lädt am 6. Januar eines jeden Jahres zu einer großen Benefizveranstaltung mit Gästen aus Politik und Gesellschaft ein. Sowohl der Sozialpreis als auch der Dreikönigstag sind inzwischen zu einer Institution in Mecklenburg-Vorpommern geworden.



    Auch als Autor verschiedener Bücher haben Sie sich hervorgetan: "Zwischen Koch- und Staatskunst" heißt eine Ihrer Publikationen. Der Titel verweist auf Ihre spannende – oder soll ich sagen: spannungsreiche – Biografie. Denn zum Politiker wurden Sie erst nach der Wende. Davor wurden Ihre Lebenswege zum Teil arg beschnitten durch das sozialistische Regime, weshalb Sie Ende der 1960er Jahre Ihre berufliche Laufbahn mit einer Ausbildung zum Koch begonnen haben.



    Dieser Blick in Ihre Biografie macht Ihre weitläufigen Interessen und Neigungen deutlich. Weitläufig ist dabei ein anderes Wort für katholisch. Und so sind Sie, lieber Herr Prachtl, ein hervorragendes Beispiel für zutiefst katholisches, umfassendes Engagement in unserer Gesellschaft. In einer Region, in der nur 4% der Menschen Katholiken sind und überhaupt nur eine Minderheit eine kirchliche Bindung aufweist, ist das ein wichtiges Signal für den Auftrag der Kirchen in unserer Zeit.



    Für das Land Mecklenburg-Vorpommern und das Erzbistum Hamburg sind Sie eine treibende Kraft und ein unermüdlicher Motor. Die Energie für all Ihr Engagement schöpfen Sie aus Ihrem Glauben, Ihrer Beheimatung in der Kirche und der Überzeugung, dass mit dem Glauben an Jesus Christus ein politischer Auftrag für Gerechtigkeit und Frieden einhergeht.



    Lieber Herr Prachtl! Zur Verleihung der päpstlichen Auszeichnung "Pro Ecclesia et Pontifice" gratuliere ich Ihnen sehr herzlich. Gleichzeitig wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie auch weiterhin von Herzen Gottes Segen.
  • Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass des Wechsels im Dienst des Generalvikars von Franz-Peter Spiza zu Ansgar Thim / Hamburg / 08. 04. 2013
    Verehrte liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

    liebe Mitbrüder,

    sehr geehrte Gäste,

    meine Damen und Herren,



    Es ist gut, dass wir heute in so großer Zahl zusammen sind, denn der heutige Tag bedeutet für die noch junge Geschichte unseres Erzbistums eine wichtige Zäsur. Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und heiße Sie herzlich willkommen.



    Einen besonderen Willkommensgruß richte ich an diejenigen, die durch Musik – und Redebeiträge die Bedeutung dieser Stunde unterstreichen. Namentlich nennen möchte ich den Generalvikar des Bischofs von Osnabrück, Theo Paul.



    Ein besonderer Gruß gilt natürlich den beiden um die es heute Morgen vor allem geht, unserem bisherigen Generalvikar und neuen Dompropst Franz-Peter Spiza und unserem neuen Generalvikar Ansgar Thim.



    Gestern Abend haben wir im Mariendom in der Eucharistiefeier den Wechsel vom Dienst des Dompropstes vollzogen. Unseren bisherigen Dompropst Nestor Kuckhoff möchte ich auch hier noch einmal herzlich danken für seinen Einsatz für unseren Dom. In seine Dienstzeit fiel die Renovierung des Domes sowie die Erstellung des Kolumbariums, die Aufstellung des Ansgarreliquiars und die Kunstinstallation der Lübecker Märtyrer, um nur einige herausragende Ereignisse zu nennen.



    Auch an dieser Stelle, lieber Dompropst Kuckhoff, nochmals herzlichen Dank.



    Vor uns liegt die Aufgabe, unseren Mariendom in Stadt und Erzbistum noch mehr zu einem einladenden geistlichen Zentrum zu machen. Unser neuer Dompropst Franz Peter Spiza wird da mit Sicherheit Akzente setzen.



    Heute früh habe ich in Konzelebration mit dem bisherigen und dem neuen Generalvikar in der Ansgar-Kapelle die Eucharistie gefeiert. So haben wir den Dank für die bisherige Zeit und die Segensbitte für die kommende Zeit miteinander verbunden.



    Meine Damen und Herren, der Dienst des Generalvikars ist neben dem bischöflichen Dienst für alle Belange eines Bistums von entscheidender Bedeutung. Vier Dimensionen dieses Dienstes möchte ich besonders herausstellen.



    Als Erstes nenne ich die Leitung der diözesanen Verwaltung. Dazu gehören neben unserem Generalvikariat in Hamburg die Erzbischöflichen Ämter in Schwerin und Kiel und mehrere wichtige Gremien, von denen ich den Kirchensteuerrat, den Diözesanvermögensverwaltungsrat und die Abteilungsleiterkonferenz eigens nenne sowie die Verantwortung für den Priesterrat und die Mitarbeit im Diözesanpastoralrat.



    Chef einer solchen Verwaltung zu sein ist in sich schon eine gewaltige Aufgabe: Eine kirchliche Verwaltung steht aber zu Recht unter dem besonderen Anspruch in Mitarbeiterführung, Bearbeitungs- und Entscheidungsvorgängen und bei allem zielorientierten Gestalten das Evangelium zum Maßstab zu haben.



    Ich habe selbst 13 Jahre den Dienst des Generalvikars ausgeübt um zu wissen, dass ein solcher Anspruch nie vollends einzulösen ist. Einer Verwirklichung dieses Auftrags kann sich der Generalvikar überhaupt nur deshalb annähern, weil er kompetente, kooperative und kommunikative Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat. Deshalb ist mein Dank heute an unseren langjährigen Generalvikar Franz-Peter Spiza zugleich auch ein Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.



    Ein zweites Wirkungsfeld heißt: Verantwortlich zu sein für Priester und Diakone sowie hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gemeinden, Verbänden und Einrichtungen, soweit es deren dienstliche Belange betrifft. Und diese Belange reichen von persönlichen Dienstobligenheiten bis hin zu Planung und Realisierung diverser Vorhaben. Natürlich ist jeder Mitarbeiter zunächst selbst verantwortlich für sein Tun und Lassen. Aber der Generalvikar ist letztlich der Dienstvorgesetzte in den meisten Bereichen.



    Ein dritter Verantwortungsbereich, der den Generalvikar betrifft, sind überdiözesane Aufgaben in unserer Metropolie, im Verband der 27 Diözesen Deutschlands und unseren überdiözesanen Gremien. Auch hier ist die verwaltungsmäßige, politische und kirchliche Kompetenz des Generalvikars gefragt. Dabei hat es sich so ergeben, dass unser Generalvikar als einer der Erfahrendsten immer stärker zu Aufgaben des Verbandes herangezogen wurde.



    Schließlich komme ich in einem vierten Punkt zur entscheidenden, wichtigsten und unverzichtbaren Aufgabe des Generalvikars. Sie besteht darin, dass er die Vertrauensperson des Diözesanbischofs ist in allen Belangen, Fragen und Initiativen, die es in einem Bistum gibt.



    Als ich vor gut zehn Jahren zu Ihnen in den Norden kam, war eine der ersten und wichtigsten Fragen: Wen ernenne ich zum neuen Generalvikar?



    Hilfreich war für mich, dass mir aus unserer gemeinsamen Zeit in der Konferenz der Generalvikare Franz-Peter Spiza bekannt war. Wir hatten zwar nicht besonders viel Kontakt, aber doch so viel, das mir bewusst war: hier hat ein Mitbruder aus östlicher Erfahrung heraus, die Verwaltung eines Bistums mit Gebieten in Ost und West aufgebaut. Einzelheiten dazu habe ich erst erfahren, als ich selbst hier im Erzbistum tätig war.



    Zu diesen Einzelheiten gehört, dass die verantwortliche Tätigkeit von Franz-Peter Spiza für unsere Bistumsverwaltung ja nicht erst mit der Gründung des Erzbistums vor 18 Jahren begann.



    Schon vorher hatte er bereits an den Verhandlungen zur Errichtung des Erzbistums mitgewirkt. Da er ja schon seit 1988 die Verwaltung der apostolischen Administratur Schwerin leitete, hatte er bereits im Zuge der Bistumsgründung wichtige Aufgaben zu übernehmen.



    Vorher hatte er nach der Wende die kirchliche Administration in Schwerin den gesamtdeutschen Gegebenheiten anzupassen. Dadurch war er auf die Aufgaben eines Generalvikars bereits ein gutes Stück vorbereitet. Das galt auch für seine Arbeit als Vorsitzender des Caritasverbands Mecklenburg und als Leiter des Katholischen Büros in Schwerin, der Verbindungsstelle zwischen Kirche und Staat. Sie merken, meine Damen und Herren, unser Gründerbischof Erzbischof Ludwig wusste, wem er die ernorme Aufgabe eines ersten Generalvikars im neu zu errichtenden Erzbistum Hamburg zumuten und zutrauen durfte. Denn dass auch die Zusammenführung von drei Verwaltungseinheiten in Kiel, Schwerin und Hamburg unter Einbeziehung der südelbischen Pfarreien, die zum Bistum Hildesheim gehört hatten, ein besonderer Kraftakt war, brauche ich nicht besonders zu betonen.



    Wie das immer so ist, gab es in jeder Region Ansprüche, Gewohnheitsrechte und Vorlieben, mit denen der neue Generalvikar umzugehen hatte. Als ich nach Hamburg kam, hat mir Franz-Peter Spiza das deutlich vor Augen gestellt, in dem er den damaligen Nuntius Kadar, der von Seiten des Vatikans die Bistumsgründung verantwortete, zitierte. Der Nuntius machte damals die Bemerkung: "In einem an Katholikenzahlen so kleinen Bistum drei Verwaltungsorte – wie soll das nur gut gehen!"



    Die berechtigten regionalen Ansprüche und die Notwendigkeit der Einheit des Bistums aufeinander abzustimmen, das hat dem ersten Generalvikar unseres Erzbistums viel abverlangt. Und das alles auch unter der Perspektive des Zusammenwachsens von Ost und West mit völlig unterschiedlicher politischer, kirchlicher und sozialer Erfahrung. Unser Erzbistum hatte wie kein anderes Bistum die deutsche Einheit auf Bistumsebene zu bewältigen. Da war es ein Glückfall, dass der Generalvikar aus dem Osten kam und im Westen seinen Dienstsitz hat. Allerdings musste er es manchmal auch leidvoll ertragen, dass er im Westen als Ostler und im Osten als Westler angesehen wurde.



    Als unser Erzbistum vor 18 Jahren gegründet wurde, orientierte man sich im finanziellen Bereich ganz selbstverständlich an den bis dahin reichlichen Kirchensteuereinnahmen des Westens. Allerdings muss ich mit Hochachtung sagen, dass die behutsame, kritische und mit Augenmaß vorgenommene Finanzplanung des Generalvikars und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter uns vor so bitteren Erfahrungen wie im Erzbistum Berlin bewahrt hat. Dennoch war auch bei uns ein Restrukturierungsprozess zehn Jahre nach Bistumsgründung unvermeidbar.



    Wenn es um Einschränkungen geht, ist der Generalvikar immer der Erste, der dafür gerade stehen muss. Ihn trifft die Kritik als erstes und am härtesten. Dass du das auf dich genommen hast, lieber Dompropst, und dich nicht von den gebotenen Maßnahmen hast abbringen lassen, das gehört zu den ganz großen Verdiensten, die du um unser Erzbistum hast.



    Du hast dann mit Hilfe tatkräftiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Finanzwesen so umgestellt, dass es transparenter und aussagefähiger ist und wirtschaftliche Risiken wie auch Chancen zeitnah erkennbar macht. Die Chancen haben wir vor allem genutzt in der Steigerung unseres Engagements für Schulen in unserer Trägerschaft, für Jugendarbeit und Erwachsenenbildung.



    Wenn ich die Zeiten in denen Herr Generalvikar Spiza kirchliche Verwaltungsarbeit zu organisieren und durchzuführen hatte, zusammenrechne, dann sind das seit Beginn der Tätigkeit als Leiter der Verwaltung in Schwerin zu Zeiten der DDR 25 Jahre. Dabei hast du immer auch mit großer Selbstverständlichkeit priesterliche Dienste übernommen. Du hast dabei die Erfahrung gemacht, dass deine Gottesdienste und Predigten in den Gemeinden sehr geschätzt sind und dass du diese geistlichen Dienste, für die du ja Priester geworden bist, auch selbst brauchst.



    So war dir klar, dass mit dem Ende meiner Dienstzeit als Erzbischof auch dein Dienst als Generalvikar nicht nur zu Ende gehen sollte, um mit einem neuen Erzbischof wieder aufzuleben, sondern dass etwas anderes für dich dran sein sollte.



    Da bot sich die freiwerdende Aufgabe des Dompropstes wie von selbst an. Ich habe mich gefreut, dass unser Domkapitel dich dafür vorgeschlagen hat und habe dir gern diese Stelle gestern Abend übertragen. Ich bin sicher, dass viele dich in diesem neuen Dienst noch einmal von einer ganz neuen Seite kennen- und schätzen lernen werden. Du wirst als Dompropst Akzente setzen, die unseren Mariendom vor allem mit seiner Liturgie, aber auch mit seinen geistlichen Angeboten und seinen Möglichkeiten an kirchlichen Veranstaltungen vielen Menschen zu einem noch größeren Anziehungspunkt werden lassen.



    Darüber hinaus ist mit deinem Nachfolger vereinbart, dass du Aufgaben weiter führst, die dir als Generalvikar zugewachsen sind, weil niemand anderer dafür zur Verfügung stand, die aber nicht eigene Sachgebiete eines Generalvikars sind. Ich nenne die Schulen in katholischer Trägerschaft, die Neuordnung unseres diözesanen Caritasverbandes und die Vertretung des Erzbistums in der Holding unseres Krankenhausverbundes. Natürlich muss der Letztverantwortliche dafür immer der Erzbischof mit seinem Generalvikar sein, aber deine Erfahrung und deine Sachkenntnis sind mir dabei eine unverzichtbare Hilfe.



    In den vergangenen zehn Wochen, seit der Wechsel für dich fest steht, hatte ich den Eindruck, dass du mal befreit und mal bedrückt bist, wegen der Veränderung deiner dienstlichen Aufgaben. Ich stelle mir vor, dass dich dabei Gedanken und Emotionen beschäftigen, die auch mir vertraut sind. Ich weiß nicht, ob ich jetzt mehr von dir oder mehr von mir spreche, wahrscheinlich mehr oder weniger von uns beiden. Denn auch mir geht es ja so, dass ich mich vertraut machen muss mit dem Abschied nehmen von einer mir lieb gewordenen Aufgabe. Natürlich ist es noch einmal etwas ganz anders, wenn man mit 75 in den Ruhestand geht. Aber das Grundmuster gleicht sich: da ist der Verstand, der einem sagt, es ist richtig so. Und da ist das Herz, das an Liebgewonnenem hängt. Du wirst souverän mit diesem Zwiespalt umgehen, und ich werde versuchen, dir darin in einigen Monaten nachzueifern.



    Meine Damen und Herren, liebe Mitbrüder, verehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,



    das wichtigste Stichwort, das ich heute mitzuteilen habe, heißt „Dank“.



    Lieber Franz-Peter, alle hier versammelten und alle im Erzbistum schulden dir aus ganz unterschiedlichen Gründen diesen großen Dank. Wie ich das bereits bei der Zusammenkunft der Diakone und Priester im Anschluss an die Missa Chrismatis zum Ausdruck gebracht habe: du bist und bleibst für unser Bistum zusammen mit Erzbischof em Ludwig und den Weihbischöfen Norbert Werbs und Dr. Hans-Jochen Jaschke einer der wichtigsten Gründungsbaumeister. Du hast mit ganzem persönlichem Einsatz und unter Vernachlässigung des eigenen Wohlergehens unserem Erzbistum, seinen Bischöfen und uns allen in großer Treue gedient.



    Ich möchte dir dafür im Namen aller ein Zeichen des Dankes überreichen. Auf der Suche nach einem solchen Zeichen bin ich auf eine Kostbarkeit gestoßen, die aus weiter Vergangenheit kommt, und dennoch ganz zur Gegenwart unseres Dienstes gehört. Das Original dieses Bernwardkreuzes steht in der Schatzkammer des Bistums Hildesheim, gehört also zu unserer Metropolie. Aber eine originalgetreue Kopie soll ab heute bei dir stehen.



    Mit diesem Zeichen sage ich dir auch im Namen von Erzbischof Ludwig und im Namen des ganzen Erzbistums und vor allem ganz persönlich herzlichen Dank.







    Lieber Herr Generalvikar Ansgar Thim,



    ab heute lenkst du die Geschicke unseres Erzbistums an besonders verantwortlicher Stelle. Du hast durch deine Arbeit als Personalreferent und als Missbrauchsbeauftragter gezeigt, dass du mit Verantwortung umgehen kannst.



    Du hast tüchtige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserer Verwaltung sowie in den Pfarreien, Einrichtungen und Verbänden. Diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bitte ich, dir mit Vertrauen und Zustimmung zu begegnen.



    Katholische Kirche ist zu allen Zeiten ein umstrittenes Unternehmen. Das liegt in der Dynamik des Evangeliums begründet. In unserer Zeit kommt als Schwierigkeit und auch als Chance hinzu, dass in Deutschland viele Menschen gar nicht mehr wissen, was es mit der Lebensqualität des Glaubens auf sich hat. Weil wir anfragbar sein müssen, sind wir als Generalvikariat eben doch mehr als eine Verwaltung, wie jede andere. Wir sind ein Dienstleister nicht nur mit Zahlen, Konten und Rechtsvorschriften. Wir stehen alle im Dienste des Evangeliums, das durch unsere Arbeit bei den Menschen ankommen soll.



    Als Ermutigung und als Freude zum Start überreiche ich dir eine bebilderte Kirchengeschichte. Jetzt, wo du selbst ein Stück Kirchengeschichte mitgestaltest, kann dir der Blick auf andere Zeiten der Kirche das Gesichtsfeld weiten.



    Gottes Segen zum Start in die neue Aufgabe!
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen in der Feier der Osternacht / St. Marien-Dom / 31. 03. 2013
    Wachsender Glaube



    Liebe Schwestern und Brüder,



    im Anschluss an eine Osternachtfeier sagte mir jemand: So viel aus der Bibel habe ich lange nicht mehr gehört wie in dieser Nacht. Wenn das alles wahr ist, was mir die Bibel sagt …



    Ist es wahr?



    Der emeritierte evangelische Bischof von Lübeck Ulrich Wilkens, ist ein großer Bibelgelehrter. Ich diskutiere gern mit ihm. Kürzlich hat er ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Kritik der Bibelkritik“.



    Bibelkritik



    Wissenschaftliche Bibelkritik gibt es seit der Aufklärung. Bibelkritik bedeutet: Die Bibel muss kritisch gelesen werden, man darf nicht jeden Satz für den Bericht eines Augenzeugen halten. Die literarischen Gattungen müssen beachtet werden. Bischof Wilkens Kritik an der Bibelkritik sagt: Man darf aber die biblischen Texte nicht so lange zerlegen, bis nur noch ein paar Trümmer als Wahrheitsgehalt übrig bleiben. Da ist er sich mit Papst Benedikt einig, der in seinen drei Jesusbüchern zu ähnlichen Ergebnissen kommt.



    Das vorausgeschickt schauen wir jetzt auf das Evangelium dieser Osternacht.



    Keine Spur von Glauben



    Da sind die Frauen mit den wohlriechenden Salben. Das gehörte zur Zeit Jesu zum pietätvollen Umgang mit einem Leichnam: dass er gesalbt wird. Die Frauen wollen das in aller Frühe nachholen, sobald das nach der vorgeschriebenen Sabbatruhe möglich ist. Und dann sehen sie: Das Grab ist ja offen, der Leichnam fehlt.



    Was nun? Ratlos stehen sie da, sagt die Bibel. Da werden sie angesprochen von zwei Männern: Erinnert euch doch, was Jesus gesagt hat. Er wird gekreuzigt und am dritten Tage auferstehen. Ja, sie erinnern sich. Dann gehen sie zu den Jüngern und berichten ihnen.



    Von Glauben an die Auferstehung keine Spur bei den Frauen. Nur von Ratlosigkeit und Schrecken ist die Rede.



    Aber es kommt noch schlimmer. Die Apostel halten den Bericht der Frauen für Geschwätz. Sie glauben ihnen nicht, sagt die Bibel.



    Aber Petrus bequemt sich dann doch, zum Grab zu gehen. Tatsächlich, es stimmt, was die Frauen sagen. Aber auch bei Petrus kein Glaube. Nur Verwunderung. Und dann geht er nach Hause.



    Was für ein Text! Weniger Glaube als die Frauen, die Apostel und Petrus am Ostermorgen kann kaum ein Mensch haben.



    Wachsen oder verkümmern des Glaubens?



    Und jetzt die entscheidende Frage: Wie ist das mit unserem Glauben an diesem Ostermorgen?



    Nun ist Glaube ja nicht wie ein Stein in meiner Hand. Entweder habe ich ihn oder ich habe ihn nicht. Nein, Glaube ist etwas Lebendiges. Der Glaube kann wachsen und groß werden. Er kann auch schrumpfen bis ich ihn kaum noch bemerke.



    Erinnern sie sich an eine Zeit, in denen ihr Glaube groß war? Oder an eine Zeit, wo er schrumpfte? Lebendiges wandelt sich. Das ist auch beim Glauben so. Das gehört zur Not des Glaubens. Und zur Chance des Glaubens.



    Meine Glaubensgeschichte



    Wie bin ich zum Osterglauben gekommen? Hat es Gott bei mir auch so schwer gehabt, mich zum Glauben zu führen wie bei den Frauen, den Aposteln und Petrus? Und was ist dann aus meinem Glauben geworden? Welche Menschen gehören zu meinem Glauben? Welche Erlebnisse, schöne und schmerzliche? Es tut uns gut, in dieser Osternacht unsere Glaubensgeschichte in den Blick zu nehmen. Dazu gehört auch unsere Unglaubensgeschichte.



    Wie kann mein Osterglaube wachsen? Mir hilft es, wenn ich mich frage: Was will ich eigentlich? Die Antwort ist klar: Leben will ich. Dieser Sehnsucht nach Leben lasse ich freien Lauf. Meiner Sehnsucht nach vollem, prallem Leben. Dazu gehört auch die Balance von Einsamkeit und Gemeinsamkeit, von solitaire und solidaire, wie es der französische Schriftsteller Albert Camus auf den Punkt gebracht hat. Auch das Verlangen nach Dauer in aller wünschenswerten Veränderung. Nach Ge-nuss und Freude.



    Das Angebot des Lebens



    Und siehe da: Das bietet Gott mir an. Wir haben es beim Propheten Jesaja vorhin gehört: Auf, ihr Durstigen, kommt zum Wasser. Gott bietet mir für meinen Lebensdurst Lebenswasser an. Und wem das zu spirituell klingt, auch von Wein und Milch ist die Rede. Und zwar gratis, umsonst, ohne Verdienst.



    Von einem Bund ist da die Rede, von Gemeinschaft, von Vergebung. Das wünsche ich mir doch!



    Freilich ist im Jesajatext auch vom Suchen die Rede. Suchen ist unverzichtbar. Der Glaube ist kein Schlaraffenland. Zum Suchen kommt das Rufen nach Gott. Ja, so kann mein Osterglaube wachsen.



    Dabei muss ich nicht einmal die letzte und schwerste Frage ausklammern, die Frage nach dem Tod. Sie gehört ja zum Kern des Osterglaubens: Auferstehung, Leben. Diese Botschaft des Lebens für jetzt und für immer wird mir angeboten. Ich habe mich entschieden, sie anzunehmen. Sie auch immer wieder neu stärken zu lassendurch Wort und Sakrament. Und ich merke, das gibt meinem Leben Weite.



    Mir geht es dann manchmal, wie wenn sich ein Stopfen löst, der meine Lebensquellen unter Verschluss gehalten hat. So wie wir gleich nach der Erneuerung des Taufversprechens singen: Alle meine Quellen entspringen in dir, Gott.



    Dann habe ich einen neuen Blick auf die Menschen. Dann weiß ich, wo mein Einsatz gefragt ist. Dann entwickelt sich eine positive Grundstimmung. Dann werfen mich auch Niederlagen nicht um, jedenfalls nicht auf Dauer. Dann entdecke ich bei allem Mühsamen immer auch die Schönheit des Glaubens, die Lebensqualität des Glaubens, den Reiz des Glaubens. Dann hat mein Glaube, mein Verhältnis zum dreifaltigen Gott, starke Ähnlichkeit mit einer Liebesbeziehung.



    Und manchmal geht es mir dann auch so wie den Emmausjüngern, von denen die Bibel direkt nach diesem Osterevangelium erzählt. Dass auch ich mich frage: Brannte mir nicht das Herz, als ich mich auf die Osterbotschaft eingelassen habe!

    Amen
  • Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen / Lübecker Kreuzweg / 29. 03. 2013


    Was soll ich denn mit Jesus tun? So fragt Pilatus. Mit seiner Antwort richtet sich Pilatus nach denen, die am lautesten schreien.



    In Lübeck hat man sich auch einmal nach denen gerichtet, die am lautesten schreien. Nach Hitler und seinem braunen Gefolge. Deshalb kommen seine geistigen Nachfahren so gern nach Lübeck. Aber sie täuschen sich. Die heutigen Lübecker sind wachsam. Als in den vergangenen Jahren Hitlers Erben in Lübeck aufmarschierten, sind wir auch auf die Straße gegangen. Auch im letzten Jahr. Mit dem Erfolg, dass Hitlers Anhänger in diesem Jahr ihre Demonstration abgesagt haben. Herzlichen Glückwunsch, Lübecker Bürgerinnen und Bürger. Das ist ein schönes Beispiel für „gemeinsam glauben – gemeinsam handeln“.



    Viele Lübecker sind auf die Straße gegangen gegen Rechts, gegen etwas. Heute gehen wir hinter dem Kreuz Jesu her für etwas: für Hilfsbereitschaft, für Menschenwürde, für Ge-meinschaftssinn. Vielleicht ist gegen etwas zu sein leichter als für etwas zu sein. Aber wichtig ist beides, wenn wir „gemeinsam glauben – gemeinsam handeln“ wollen.



    Was soll ich denn mit Jesus tun? So fragt Pilatus. So können aber auch wir fragen. Wir stehen nicht in den Schuhen des Pilatus. Aber auch wir stehen immer wieder neu vor Entscheidungen. Was müssen wir mit dir tun, Jesus, angesichts von Not und Ungerechtigkeit in Lübeck und weltweit?





    Mit unsrem Kreuzweg stellen wir uns hinter das Kreuz, hinter Jesus. So wie unsere vier Lübecker Märtyrer. So wie die achtzehn Mitgefangenen. So wie Johanna Rechtin, die mutige Haushälterin, die Hostien und Wein ins Gefängnis schmuggelte für die Feier der Eucharistie. Was für ein Beispiel für „gemeinsam glauben – gemeinsam handeln“.



    Was soll ich denn mit Jesus tun? Die Frage des Pilatus lässt sich auch umdrehen: Was soll Jesus mit uns tun? Erfülle uns mit deinem Geist, Jesus, damit wir wachsam durch unsere Zeit gehen. Hellhörig für die oft stummen Schreie derer, die unsere Hilfe brauchen. Aufmerk-sam für die, die keine Lobby haben. Zugewandt zu denen, die so leicht übersehen werden.



    So eröffnet sich ein weites Feld für „gemeinsam glauben – gemeinsam handeln“.



    Unser Kreuzweg durch unsere Stadt ist ein Hoffnungszeichen: Für alle Menschen, egal in wel-chem Alter, egal welcher Konfession oder Religion, egal welcher Herkunft.



    Wer hinter dem Kreuz Christi hergeht, für den ist kein Mensch egal. Dafür setzen wir uns ein. Das wollen wir mit Jesus tun.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen bei der Feier der Missa Chrismatis / St. Marien-Dom Hamburg / 25. 03. 2013
    Liebe Mitbrüder im diakonalen, priesterlichen und bischöflichen Dienst,

    liebe Gemeinde,



    fünf Worte Jesu und ein Fragezeichen. Das kann einen verrückt machen. Oder traurig. Oder unsicher. Ich meine den letzten Satz des Evangeliums: Versteht ihr immer noch nicht, fragt Jesus seine Jünger. Versteht ihr immer noch nicht, fragt Jesus uns.



    Verstehen wir Jesus? Wir, jeder einzelne von uns, du und ich, verstehen wir Jesus? Wir, als Kirche im Norden, überall eine kleine Minderheit, verstehen wir Jesus? Wir als Weltkirche mit 1,2 Milliarden Katholiken, mit Papst Franziskus aus Argentinien, der den Schuhputzerblick hat, den Blick von unten nach oben, den Blick aus der Perspektive der Armen, verstehen wir das?



    Verstehen wir, was sich in unserer Kirche abgespielt hat mit dem Rücktritt des einen Papstes und der Wahl des anderen? Papst Benedikt, das war Glaube und Vernunft. Papst Franziskus, das ist Glaube und Gerechtigkeit, Glaube und Barmherzigkeit. Dass wir in unserer Zeit zwei so herausragende unterschiedliche Päpste erleben wie Benedikt und Franziskus, verstehen wir das? Zwei Päpste, die sich beide nach Ordensgründern nennen, völlig unterschiedlichen Ordensgründern, welche aber auf je eigene Weise Entscheidendes von Jesus verstanden haben und damit ihre Orden und die Kirche prägten. Verstehen wir, in welche Dynamik uns das hineinreißt?



    Eine Dynamik, die selbst gängige Rätselwitze außer Kraft setzt. Sie kennen das ja: Treffen sich zwei Angler. Wie grüßen die sich? Petri Heil. Zwei Jäger – Weidmanns-heil. Und so weiter. Und dann. Treffen sich zwei Päpste, wie grüßen die sich? Das gibt es nicht, zwei Päpste, hieß bisher die Antwort. Aber jetzt gibt es das. Selbst solch ein Rätselwitz kann uns helfen, das unerhört Neue in unserer Kirche wahrzu-nehmen. Damit wir auf die Frage Jesu, versteht ihr immer noch nicht, antworten können: Doch, wir beginnen zu verstehen.



    Vor zwei Wochen waren wir zusammen zum Einkehrtag in Nütschau. Mich hat be-eindruckt, wie Pater Elmar Salmann uns historische Schichtungen und Übergänge vermittelt hat. Wie er vom schweifenden Gott in der Geschichte sprach, der nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Er erwähnte den Übergang vom Judentum zum Christentum, von der Urkirche zur Staatskirche, von Konstantin bis zu Adenauer. Lauter Schichten, lauter Geschichten, die sich in unsere Seelen eingegraben haben.



    Was ich verstanden habe ist, dass wir die Zeit der Kirche, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, nicht als alleinigen Maßstab nehmen können, nicht absolut setzen können. Maßstab ist allein Jesus Christus und seine Botschaft. Der Wagen, auf dem die Botschaft des Evangeliums durch die jeweilige Zeit transportiert wird, sieht sehr unterschiedlich aus. Mal ist das eine glänzende Staatskarosse und mal eine primitive Karre mit einem quitschenden Rad.



    Vielleicht kann uns dieser Tag heute dafür die Augen öffnen. Heute ist der 25. März. Normalerweise ein Hochfest. Verkündigung des Herrn. Neue Initiative Gottes. Freude und Dankbarkeit. Aber von alledem merken wir liturgisch heute nichts. Stattdessen Karwoche, Leidenswoche, Kreuzweg. Und die Karwoche verdrängt das Hochfest. Aber die Initiative Gottes gilt. Auch wenn wir das Fest der Verkündigung, das auf den heutigen Tag fällt, erst am Montag nach Weißen Sonntag nachholen.



    Ist das nicht so auch mit der Kirche? Die Initiative Gottes gilt. Auch wenn der Weg dunkel und mühsam ist. Weil sich so vieles verändert. Weil wir Verluste erleiden: Machtverlust, Ansehensverlust, Glaubwürdigkeitsverlust. Aber das Geheimnis des Glaubens, das wir verkünden, steht nicht auf der Verlustliste. Auch wenn wir Freude und Feier vielleicht nicht jetzt, sondern erst später deutlicher wahrnehmen. Versteht ihr immer noch nicht?



    Dazu passt gut, was der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief sagt: Nicht glänzende Rede, nicht gelehrte Weisheit, nicht menschliche Klugheit. Aber Kraft Gottes.



    Wie leben wir damit? Wir, die wir feststellen, dass eine bestimme historische Gestalt der Kirche vergeht? Eine Gestalt, die wir gewohnt waren, die wir lieb gewonnen hatten, die wir schätzen gelernt hatten, so sehr, dass wir uns ihr mit Haut und Haar verschrieben haben?



    Wir erfahren alle, dass die bisherige Gestalt unserer Pfarrgemeinden sich drama-tisch verändert. Stichwort Pastoraler Raum. Nicht mehr in der Mitte der Priester oder Diakon und darum herum die Gläubigen. Sondern in der Mitte Getaufte und Gefirmte und darum herum dienend die Seelsorger. Das wird ein Epochenwechsel. Und auch wenn wir das sorgfältig vorbereiten und planen – das ist unsere Pflicht und das tun wir auch – wir sind dabei vor Überraschungen nicht sicher. Wie das Volk Israel auf der Wüstenwanderung vor Überraschungen nicht sicher war. Mal ermutigende Überraschungen, mal frustrierende Überraschungen. Aber wir gewöh-nen uns in der Kirche an Überraschungen. Siehe Wahl von Papst Franziskus. Siehe Rücktritt von Papst Benedikt.



    Wie wir mit einer solchen Zeit der Überraschungen umzugehen haben, dazu abschließend noch ein Hinweis aus dem Buch Ezechiel, aus der ersten Lesung. Zuerst die gewaltige Theophanie mit dem Thron Gottes in Feuerkranz und Regenbogen, die geballte Kabot Jahwe. Und dann heißt es: Mensch, ich will mit dir reden. Und dann der Auftrag: Geh und verkünde. Und weiter: Hab keine Angst, erschrick nicht. Sie wollen dich nicht hören. Aber du musst ihnen die Botschaft sagen. Sie ist lebenswichtig.



    Und dann wird uns bei Ezechiel das Bild vor Augen gestellt, das uns fordert, das uns aber auch Mut macht und das uns Kraft gibt. Der Bote Gottes muss die Buch-rolle essen. Fülle dein Inneres mit der Buchrolle, wird er aufgefordert. Das gilt auch uns. Dass wir uns sättigen mit Gottes Wort. Dass wir uns Gottes Wort einverleiben. Dass wir selbst davon leben. Deshalb Brevier, Schriftlesung, Schriftbetrachtung – all die vielen Formen geistlichen Tuns, die uns angeboten sind. Letztlich zielen sie ja alle darauf, dass Gottes Wort in uns ist.



    Mensch, ich will mit dir reden, sagt Gott zu mir und zu dir. Täglich will er mit uns reden. Er hat das entscheidende Wort. Und wartet auf unsere Antwort. Versteht ihr immer noch nicht? Herr, gib uns Mut zum Hören. Amen

  • Brief von Erzbischof Dr. Werner Thissen an die Gemeinden im Erzbistum Hamburg aus Anlass der Wahl von Papst Franziskus / Hamburg / 15. 03. 2013
    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg,



    in großer Freude schreibe ich Ihnen aus Anlass der Wahl unseres Papstes Franziskus diesen Brief. Ich tue das nicht, ohne zuvor in herzlicher Dankbarkeit an das segensreiche Wirken von Papst Benedikt zu denken.



    In aller Eile möchte ich Ihnen fünf Punkte nennen, die ich mit der Wahl von Papst Franziskus verbinde.



    __________________________________



    1. „Geht hinaus in die ganze Welt“, hat Jesus uns aufgetragen. Dass dieser neue Papst erstmals nicht aus Europa kommt, sondern aus Lateinamerika, empfinde ich als ein starkes Signal. Er wirkte bisher in dem Kontinent mit den meisten Katholiken. Durch diesen neuen Papst werden wir noch mehr als bisher die Weltkirche im Blick haben. Denn Papst Franziskus wird die Perspektive des Südens der Erde in alle kirchlichen Überlegungen stärker einbringen.



    In dem Teil der Welt, der Lateinamerika umfasst, hat es in den vergangenen Jahrzehnten starke Aufbrüche gegeben in geistlicher und sozialer Hinsicht. Dieser Papst aus einem Land mit so vielen Armen wird uns wichtige Impulse geben, was es bedeutet, wenn Jesus uns sagt, wir sollen den Armen das Evangelium verkünden. Wir wollen als Kirche mit Papst Franziskus an der Seite der Armen stehen und uns für eine gerechte Verteilung der Güter dieser Erde einsetzen.



    2. Dazu passt gut, dass wir unsere erste Sonntagsmesse in Gemeinschaft mit Papst Franziskus am Misereorsonntag feiern. Seit über fünfzig Jahren spielen wir mit unserem Hilfswerk Misereor eine wichtige Rolle im Kampf gegen Hunger und Krankheit in der Welt.



    Ich bin bei der Arbeit für Misereor in Lateinamerika unserem neuen Papst nicht begegnet. Aber meine Mitarbeiter bei Misereor berichteten mir begeistert vom Erzbischof von Buenos Aires. Wie er selbst aktiv ist im Kampf gegen die Armut und wie sehr er die Arbeit von Misereor unterstützt. In seiner bisherigen Diözese gibt es mehrere Misereorprojekte, vor allem für die Bildung Jugendlicher und für die Verbesserung der Wohnsituation armer Bevölkerungsgruppen. Die heutige Misereorkollekte soll ein besonderes Zeichen der Verbundenheit mit unserem Papst Franziskus sein.



    3. Dass sich der Papst den Namen Franziskus gewählt hat, sagt viel aus über sein Verständnis des Evangeliums. Dort wird uns Jesus als Armer verkündet, der in die-se Welt gekommen ist, um uns den Reichtum der Gemeinschaft mit Gott zu bringen.



    „Dem armen Jesus in Armut nachfolgen“ – das war das Lebensprogramm des Heiligen Franz von Assisi. In den Franziskanischen Orden und Gemeinschaften ist es bis heute lebendig.



    Was Jesus, Franziskus und unseren Papst besonders verbindet, lässt sich auf die schlichte Formel bringen: Sie haben ein Herz für die Armen.



    Zum Heiligen Franziskus gehört in gleicher Weise die Liebe zur Schöpfung. „Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester Erde“. So betet Franziskus in seinem berühmten Sonnengesang. Unser Papst mit dem Namen Franziskus weist uns darauf hin, wie wichtig die Bewahrung der Schöpfung ist.



    Franz von Assisi lebte eine intensive Christusfrömmigkeit. Er konnte die Armen lieben und die Schöpfung Gottes lieben, weil er Christus liebte. Diese Liebe zu Christus hat er in seinem Beten, Singen und Handeln immer wieder neu zum Ausdruck gebracht.



    Der Papst kommt aus der Gemeinschaft der Jesuiten. Er hat sich aber nicht nach deren Ordensgründer Ignatius genannt. Das Ignatianische mit der Weisung, in allem Gott zu suchen, wird dieses Pontifikat aber prägen.



    Mich beschäftigt der Gedanke, ob nicht gerade die Verbindung von ignatianischer und franziskanischer Spiritualität besonders gut in unsere Zeit hineinpasst.



    4. Die Heimat Argentinien von Papst Franziskus lässt mich an unser Partnerbistum Iguazu in Argentinien denken. Ich habe Bischof Martorell sofort einen Glückwunsch geschickt. Nun weiß ich nicht, ob die Schwestern und Brüder in Argentinien jetzt auch sagen „Wir sind Papst“. Aber sie werden in ihrer überschäumenden Fröh-lichkeit zum Ausdruck bringen, wie sehr sie sich über Papst Franziskus freuen. Unsere Partnerschaft mit dem Bistum Iguazu in Argentinien soll durch unseren Papst aus Argentinien noch mehr Schwung bekommen.



    5. Am Morgen des Tages der Papstwahl hatte ich in der Heiligen Messe darauf hingewiesen, dass der 13. März 2013 der 76. Jahrestag der Priesterweihe des seligen Johannes Prassek ist. Wir haben dann unsere Lübecker Märtyrer besonders um ihre Fürsprache für eine gute Papstwahl angerufen.



    Papst Franziskus hat Erfahrung damit, was Martyrium bedeutet. Vor wenigen Jahrzehnten wurden auch in Argentinien Christen eingesperrt und ermordet. Es spannt sich ein weiter Bogen von den Lübecker Märtyrern über die Opfer in Argentinien bis hin zu den Christenverfolgungen heute in Teilen Afrikas und Asiens. Ich finde wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass Christen die am meisten verfolgte Gruppe in unserer Zeit sind.



    _____________________________________



    Liebe Schwestern und Brüder,

    eine Fülle von Erwartungen richtet sich an Papst Franziskus. Aber sollen wir dem neuen Papst nicht auch sagen, was er von uns erwarten darf? Was kann Papst Franziskus von mir erwarten, von meinem Glauben, von meiner Hoffnung, von meiner Liebe?



    Verbunden im Gebet mit Papst Franziskus und der ganzen Kirche grüße ich Sie alle herzlich in unseren drei Bistumsregionen Hamburg, Mecklenburg und Schleswig-Holstein.



    Ihr + Werner

    Erzbischof
  • Laudatio für Schwester Gratia Kukla aus Anlass der 20. Verleihung des Siemerling-Sozialpreises durch die Dreikönigs-Stiftung / Neubrandenburg / 14. 03. 2013
    Sehr geehrte Schwester Generaloberin Andrea mit allen hier versammelten Ordensfrauen,

    sehr geehrter Herr Modemann als Vertreter der Stadt Neubrandenburg,

    liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst,

    sehr geehrter, lieber Herr Prachtl,

    sehr geehrte Damen und Herren des Kuratoriums der Dreikönigs-Stiftung,

    verehrte Damen und Herren,

    verehrte, liebe Schwester Gratia,



    es ist mir eine große Freude, Sie, liebe Schwester Gratia, in dieser Feier zu ehren. Graal-Müritz ist in unserem Erzbistum eine besondere Oase des Glaubens und der Menschenfreundlichkeit. Mit Ihrem Einsatz und Ihrem Charisma haben Sie und Ihre Mitschwestern dafür gesorgt, dass Ihr Haus weit über den Norden hinaus bekannt ist.

    Von daher war es nur eine Frage der Zeit, bis Herr Prachtl und das Kuratorium der Dreikönigs-Stiftung auf Sie aufmerksam wurden. Dass die Ehrung nun im Jubiläumsjahr des Siemerling-Sozialpreises stattfindet, ist ein besonders schönes Zeichen der Anerkennung.



    Es gehört fast schon zur Natur von Ordensschwestern, dass sie nicht im Vordergrund stehen möchten. Sie tun ihren Dienst in großer Treue und überwältigendem Einsatz. Der Ruhm für das Werk soll aber nicht ihnen gehören, auch nicht ihrem Orden. Der Ruhm gehört Gott. Mit Teresa von Avila könnte man sagen: Solo Dios, basta. Gott allein genügt. Mit dieser Grundüberzeugung tun auch die „Missionsschwestern vom heiligen Namen Mariens“ seit über neunzig Jahren ihren Dienst in Mecklenburg-Vorpommern.

    Doch ab und an geben sich die Zeitgenossen solcher Ordensschwestern mit diesem Ansatz nicht ganz zufrieden. Ja, der Ruhm gehört ohne Zweifel Gott. Doch die menschlichen Werkzeuge Gottes dürfen auch geehrt werden für all das Gute, das sie wirken.



    Zu Beginn der 1920er Jahre entstand in Graal-Müritz der erste mecklenburgische Konvent der „Missionsschwestern vom heiligen Namen Mariens“, die ihr Mutterhaus in Osnabrück haben. Sie bauten an der Ostsee ein Erholungsheim auf. Von Beginn an waren viele Kinder aus ganz Deutschland zu Besuch in Graal-Müritz. Der Name St. Ursula verweist auf die Patronin der Stadt Köln, woher besonders viele Kinder zur Erholung kamen. Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg führten zu tiefen Einschnitten im Leben der Schwestern und im Betrieb des Hauses.



    Ich erinnere mich an ein Rundfunkinterview aus dem Jahr 2011. Darin berichten Sie, liebe Schwester Gratia, von Ihrer Zeit in Graal-Müritz während der DDR-Herrschaft. „In mir ist eine ganz tiefe Dankbarkeit.“ So beginnen Sie das Gespräch, das die Redakteurin mit Ihnen und Ihren Mitschwestern führte. Warum Dankbarkeit, fragen wir uns heute? Sie verschweigen in dem Gespräch nicht die großen Schwierigkeiten, unter denen Sie zur Zeit des DDR-Regimes gelitten haben. Doch die tiefer liegende und noch heute anhaltende Empfindung bei Ihnen ist die Dankbarkeit. Und zwar deshalb vor allem, weil Sie über viele Jahre intensive Unterstützung von Ihren Mitschwestern, auch aus dem Westen, erhalten haben: Unterstützung im Materiellen, Unterstützung aber auch im Geistigen, im Gebet.



    Diese tiefe, innere Dankbarkeit kommt aus dem Wissen um das Mit-Glauben und Mit-Leben von anderen Menschen. Die Dankbarkeit wurzelt aber vor allem in Ihrem fest gegründeten Vertrauen auf Gott. Ein Gott, der unser Leben durch das Auf und Ab der Geschichte geheimnisvoll begleitet, der mitgeht durch alle Höhen und Tiefen hindurch.



    Dieses Vertrauen verbindet Sie mit Ihren Mitschwestern in ganz Mecklenburg und darüber hinaus. Durch ihre Gegenwart in unseren Kirchengemeinden und Einrichtungen prägen die „Missionsschwestern vom heiligen Namen Mariens“ das Leben in unseren Kirchengemeinden und Kommunen. Sie stehen, wie in Graal-Müritz so auch in Neubrandenburg und anderswo, für Herzenswärme und Dienst an den Menschen. Sie drängen sich nicht vor. Doch ihre Präsenz ist stets so bereichernd, dass wir uns oft nicht vorstellen können, wie es weitergehen soll, wenn ein Konvent aufgelöst wird.



    Liebe Schwester Gratia, die vielen kleinen und großen Besucher des früheren Kinderheims und der heutigen Familienferienstätte erfahren bei ihren Aufenthalten immer etwas von Ihrem dankbaren Glauben an Gott. Familien, die bei Ihnen zu Gast sind, kommen gerne wieder. Das belegen die Zahlen: 1995 hatten Sie 1.400 Gäste. Bis 2011 hatte sich diese Zahl auf 3.000 mehr als verdoppelt. Solche Zuwächse wünsche ich mir überall in der Kirche.



    Seit über vierzig Jahren sind Sie, liebe Schwester Gratia, nun in Graal-Müritz. Sie haben viele Menschen in diesen Jahren vor und nach der Wende begleitet. Menschen, die nur einmal in Ihrem Haus Urlaub machen. Aber auch Familien, die so von Ihnen und der Ferienstätte angetan sind, dass sie immer wieder den Weg nach Graal-Müritz finden. Ihre Gäste können bei Ihnen stets erfahren, was Gastfreundschaft bedeutet. Die kleinen und großen Menschen kommen zur Ruhe, können sich auf vielfältige Weise erholen und dadurch wieder Kraft für ihren Alltag schöpfen. Unser Land Mecklenburg-Vorpommern zieht einen enormen Gewinn aus Orten wie Graal-Müritz. Es sind Stätten intensiver Familiengastfreundschaft.



    Unser gesellschaftlicher Alltag ist noch immer alles andere als familienfreundlich. Mütter und Väter, die sich viel Zeit für ihre Kinder nehmen wollen, haben es im beruflichen Vorankommen schwer. Sie werden am Arbeitsplatz oft mit Erwartungen konfrontiert, die ihrer Familie nicht gut tun. Familienfreundlichkeit darf aber nicht nur eine Worthülse bleiben. Familienfreundlichkeit muss in den Köpfen aller Menschen in unserem Land ankommen.



    Bei Ihnen und Ihren Mitschwestern, liebe Schwester Gratia, ist Familienfreundlichkeit Programm. Von daher ist Ihre grundlegende Dankbarkeit, die Sie in allen Phasen Ihres Lebens begleitet hat, uns heute Anlass, auch Ihnen gegenüber dankbar zu sein.



    Wir sind Ihnen dankbar dafür, dass Sie über viele Jahre hinweg und durch viele äußere Turbulenzen hindurch das Haus St. Ursula geprägt und weitergebracht haben. Wir sind dankbar, dass Sie Ihren Gästen nicht nur ein Dach über dem Kopf und einen Strand zum Baden anbieten. Ihnen ist es ein großes Anliegen, „den Familien ein äußeres und inneres Zuhause auf Zeit zu geben“, wie Sie es einmal gesagt haben. Sie geben den Menschen wertvolle Impulse für ihr Leben mit auf den Weg in den Alltag. Dadurch sind Sie ein großes Vorbild für viele Bürgerinnen und Bürger in Mecklenburg-Vorpommern. Ein Vorbild im Glauben, ein Vorbild im Leben, ein Vorbild in Menschenfreundlichkeit.



    Zur Verleihung des Siemerling-Sozialpreises gratuliere ich Ihnen sehr herzlich! Auf Ihrem weiteren Weg wünsche ich Ihnen und Ihren Mitschwestern von Herzen Gottes Segen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum 40jährigen Bischofsjubiläum von Erzbischof Dr. Ludwig Averkamp / St. Marien-Dom Hamburg / 02. 03. 2013
    Lieber Erzbischof Ludwig,

    verehrte Angehörige unseres Erzbischofs Ludwig, die Geschwister und Schwägerin-nen mit Ihren Kindern, die ja auch schon längst Erwachsene sind,

    liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst,

    liebe Gemeinde,



    „Ich ziehe mich nun zurück, um der Kirche allein im Gebet zu dienen“, dieser Satz gehört zu den Abschiedsworten von Papst Benedikt.



    Der Kirche im Gebet dienen – dieser Aufgabe stellt sich auch Erzbischof Ludwig seit seiner Priesterweihe im Jahre 1954 in Rom. Der Kirche im Gebet dienen – diese Aufgabe intensivierte sich noch mit der Bischofsweihe vor vierzig Jahren in Müns-ter. Denn der Bischof soll ja der erste Beter in seinem Bistum sein, so wie Priester und Diakon erste Beter in ihren Gemeinden sind. Der Kirche im Gebet dienen – das tut Erzbischof Ludwig bis auf den heutigen Tag.



    Bis vor einigen Monaten konnten wir das mehrmals in der Woche gemeinsam tun. Im Stundengebet und in der Eucharistiefeier in unserer Ansgarkapelle, gemeinsam mit den Schwestern, den Gästen und Besuchern. Aber auch nach dem Schlagan-fall, der das Leben unseres Erzbischofs Ludwig so drastisch verändert hat, gibt es immer wieder kürzere oder längere Möglichkeiten zum gemeinsamen Gebet. Lieber Ludwig, mit unserem ganzen Erzbistum danke ich dir für den treuen Dienst deines Gebetes.



    Am vergangenen Sonntag, dem eigentlichen Weihetag vor vierzig Jahren, konntest du, lieber Erzbischof Ludwig wegen deiner Krankheit nicht dabei sein, als am Ort der Bischofsweihe vor vierzig Jahren im Paulusdom zu Münster deiner und der beiden anderen Bischöfe Weihe festlich gedacht wurde. Aber ich konnte darauf hinweisen, dass du zur selben Zeit hier im Mariendom konzelebriertest, im Rollstuhl zwar, so wie auch jetzt, aber in voller Teilnahme.



    Als ich im vergangenen Sonntag im Dom zu Münster sagte, es gibt eine geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Paulusdom in Münster und dem Mariendom in Hamburg, und diese Verbindung ist das Gebet in der Heiligen Messe, da gab es großen Beifall. Das wurde offenbar von allen gut verstanden, dass das Gebet eine Verbindung ist, die stärker ist als die Trennung von ein paar hundert Kilometern.



    Auch unsere Kirchstandorte im Erzbistum sind oft hunderte von Kilometern von Erzbischof Ludwig entfernt. Aber egal, wie klein oder groß die Entfernung ist, sie wird durch Gebet überwunden. Wer morgens oder abends das Brevier aufschlägt, oder auf andere Weise betet, der kann wissen: Auch Erzbischof Ludwig widmet sich dem Gebet. Denn was Papst Benedikt ins Wort gebracht hat, das gilt auch für dich, lieber Ludwig: Du leistest der Kirche insgesamt und unserem Erzbistum im Beson-deren einen überaus kostbaren Dienst durch dein treues Beten.



    Mir fällt auf, dass in allen drei biblischen Texten heute vom Gebet die Rede ist. Im Evangelium ist es das Beten Jesu selbst, wenn er ausruft: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde.



    Diesem Lobpreis Jesu schließen wir uns heute an. Wir preisen Gott, dass er durch den Dienst unseres Erzbischofs Ludwig viele Menschen in das Geheimnis des drei-faltigen Gottes eingeführt hat. Wir preisen Gott, dass er uns in Erzbischof Ludwig einen Hirten gegeben hat, der um die Kraft des Gebetes weiß, nicht theoretisch nur, sondern auch praktisch. Wir preisen Gott, dass Erzbischof Ludwig auch in Alter und Krankheit sich der Preisung Gottes widmet, so wie diese im Benediktus und im Magnifikat zum Ausdruck kommt: Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels – meine Seele preist die Größe des Herrn. Diese Preisung bringen wir heute gemeinsam vor Gott für das bischöfliche Wirken von Erzbischof Ludwig durch vierzig Jahre hin-durch.



    In der alttestamentlichen Lesung aus dem Buch der Könige ist es der König Salo-mon, der vor das Volk Israel hintritt und ausruft: Gepriesen sei der Herr!



    Jetzt könnte jemand einwenden, ob denn nicht angesichts der Krankheit von Erzbischof Ludwig weniger der Lobpreis und vielmehr das Bittgebet angebracht sei.



    Ja, auch Bittgebet. Aber Bittgebet und Lobpreis schließen sich nicht aus. Sondern sie bedingen einander. Wir preisen Gott ja auch deshalb, weil wir mit all unseren Bitten zu ihm kommen dürfen. Weil wir in ihm in jeder Lebenssituation einen Ansprechpartner haben, auch in der Not der Krankheit. Weil er uns zugesagt hat, dass er auf unsere Bitten achtet.



    Auch in der zweiten Lesung aus dem Kolosserbrief des Apostels Paulus ist vom Ge-bet die Rede. Paulus ruft uns zu: Hört nicht auf zu danken.



    Dieser Dank hat heute für uns eine doppelte Richtung. Er gilt immer und in erster Linie dem Dreifaltigen Gott. Aber Gott wirkt durch Menschen. Gott hat durch vier-zig Jahre hindurch durch den Menschen und Bischof Ludwig Averkamp gewirkt.



    Als Ludwig Averkamp vor vierzig Jahren zum Bischof geweiht wurde, da konnte er nicht wissen, dass sein Bischofsstab zum Wanderstab werden würde: zuerst an den Niederrhein nach Xanten, dann nach Osnabrück und schließlich vor achtzehn Jah-ren nach Hamburg. Und überall hat er in seiner zugleich bescheidenen und konsequenten Art das verkündet, was Paulus uns heute in der Lesung sagt: Haltet fest am Glauben! Bleibt in Christus verwurzelt! Hört nicht auf zu danken.



    Wir danken heute auch all jenen, die Erzbischof Ludwig in seinem Dienst unter-stützt haben. Da ist vor allem seine Schwester Josefa zu nennen, die vor wenigen Monaten gestorben ist. Zu nennen sind aber auch alle Angehörigen. Ich habe es immer bewundert, wie sehr sich Erzbischof Ludwig in seiner Herkunftsfamilie in Velen beheimatet fühlt. Ich möchte aber auch Frau Hellbernd nennen, die sich mit so viel Aufmerksamkeit um Erzbischof Ludwig sorgt, und ebenfalls die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter im Wohnheim St. Bernard.



    Lieber Erzbischof Ludwig, du bist hier im Norden der zweite Ansgar. So wie Bischof Ansgar im 9. Jahrhundert unser Bistum gegründet hat, so hast du es wieder ge-gründet im 20. Jahrhundert. Es ist für mich eine Freude und Ehre, dein Nachfolger zu sein. Und für viele unserer Diakone und Priester, die jetzt hier sind, ist es eine Freude und Ehre, von dir durch die Auflegung deiner Hände in den geistlichen Dienst genommen worden zu sein. Und für uns alle hier im Mariendom und im ganzen Erzbistum ist es eine Ehre und Freude, dass du uns so überzeugend das Wort Gottes vorgelebt und verkündet hast.



    Wenn du es wie Papst Benedikt machst, dass du der Kirche im Gebet dienst, dann sollst du wissen, dass wir alle, Geistliche und Laien, uns mit dir im Gebet verbun-den fühlen. Was wir jetzt in der Eucharistie gemeinsam feiern, das verbindet uns mit dem ganzen Presbyterium und mit allen Gemeindemitgliedern auch weiterhin, auch wenn wir es in der Regel weit entfernt voneinander feiern. Darin drückt sich aus, was die biblischen Texte heute verkünden: Lobpreis, Freude und Dank. Amen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass des Rücktritts von Papst Benedikt XVI. / St. Marien-Dom Hamburg / 28. 02. 2013
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,





    dieser Abend ist einmalig. Wir begehen die letzen zwei Stunden des Pontifikates eines Papstes. Wir wollen sie mit der Feier dieser Heiligen Messe und mit einer anschließenden Besinnungsstunde mit Texten, Bildern und Musik bewusst erleben.



    Ich erinnere mich gut an die letzten Stunden des Pontifikates von Johannes Paul II. Wir alle wussten: Sein Leben geht zu Ende. Aber wann genau? Dass es die letzten zwei Stunden waren, wusste ich erst als die dunkle Glocke vom Dom ertönte.



    Ich bin dann sofort hierher in den Dom gegangen. Meine Vorstellung war, dass sich vielleicht einige einfinden zum Gebet, und dass ich dann bald wieder in meine Wohnung gehe. Aber es kam ganz anders. Immer wieder, Stunde um Stunde, kamen Menschen in unseren hell erleuchteten Dom. Wir haben die ganze Nacht hindurch bis in den frühen Morgen hinein gebetet und gesungen und Stille gehalten. Manche blieben einige Minuten, manche Stunden. Es wurde für mich und viele andere eine Nacht der Trauer, des Dankes und der Frage: Wie geht es jetzt weiter? Wer wird der nächste Papst?



    Die Stimmung heute Abend ist anders. Wir hatten über zwei Wochen Zeit, uns an das Unvorstellbare zu gewöhnen, dass ein Papst zurücktritt. Bei mir mischen sich Gefühle der Wehmut, des Respekts und der dankbaren Bewunderung.



    Wehmut, weil Benedikt XVI. doch in besonderer Weise unser Papst war. Wir Deutsche konnten das sicher nicht so zeigen wie die Polen bei Papst Johannes Paul II. Aber die Tatsache, dass wir dieselbe Muttersprache haben, dieselbe Staatsangehörigkeit, von seiner Theologie seit Jahrzehnten geprägt sind und viele seiner Bücher kennen, das alles hatte etwas Vertrautes, Verbindendes.



    Aber zu dieser Wehmut kommt auch das Gefühl des Respekts, der Hochachtung. Der Hochachtung dafür, dass Papst Benedikt die Sorge um die Kirche an die erste Stelle gesetzt hat. Und nicht die Tradition, dass ein Papst nicht zurücktritt. Und nicht die Aufrechterhaltung eines Apparats, der seine Kräfte überforderte. Ich bin mir sicher, dass er im Gebet intensiv darum gerungen hat.



    Zu Wehmut und Hochachtung kommt bei mir das Gefühl dankbarer Bewunderung. Gründe gibt es dafür viele. Ich erinnere mich, wie der erste Band seiner Jesusbücher erschien. Mir waren die ungebundenen Druckseiten vom Verlag zur Verfügung gestellt worden. So konnte ich es am Erscheinungstag einer Gruppe Journalisten sofort vorstellen. Einige Abschnitte habe ich vorgelesen, andere erläutert. Reaktion eines Journalisten: Wenn so Theologie ist, dann möchte ich mehr von der Theologie erfahren.



    Ich brauche kein Prophet zu sein, um folgendes festzustellen: So wie wir heute die Schriften der Kirchenväter lesen, etwa eines Augustinus oder Irenäus, so werden spätere Generationen die Schriften von Joseph Ratzinger lesen. Sie werden nicht mehr unterscheiden, was er als Professor, als Bischof oder als Papst geschrieben hat. Aber sie werden schätzen, wie lebendig und einfühlsam er Jesus Christus vermitteln kann.



    Dankbare Bewunderung. Dazu möchte ich Ihnen eine kleine Episode erzählen. Papst Benedikt ist ja sehr angefeindet worden wegen seiner Geduld mit den Piusbrüdern. Als ihm das kritisch vorgetragen wurde, gab er zur Antwort: Wenn meine Vorgänger im Papstamt ebenso geduldig gewesen wären mit Martin Luther, wäre es wahrscheinlich nicht zur Spaltung der abendländischen Christenheit gekommen.



    Leider, das sage ich jetzt, haben die Piusbrüder nicht das Format von Martin Luther.



    Zum letzten Mal wird es gleich im Hochgebet der Heiligen Messe heißen: In Gemeinschaft mit unserem Papst Benedikt. Ab morgen ist an dieser Stelle eine Lücke. Wer wird sie im nächsten Monat ausfüllen? Die Lücke erinnert uns daran, wie wichtig es ist, um eine gute Papstwahl zu beten. Denn nicht nur die Kardinäle in der Sixtinischen Kapelle in Rom sind zuständig für die Papstwahl. Jeder Getaufte und jede Gefirmte steht hier mit in der Verantwortung.



    Abschließend muss ich gestehen, dass ich Ihnen viele Worte von Papst Benedikt in dieser Predigt sagen wollte. Worte wie Lichtsignale in der Dunkelheit. Aus zwei Gründen habe ich das jetzt nicht getan. Zum einen, weil ich viel zu viele Worte von ihm herausgesucht hatte, aus seinen Büchern, aus seinen päpstlichen Lehrschreiben, aus seinen Predigten. Das wäre viel zu lang geworden.



    Zum anderen, weil ja gleich nach dieser Heiligen Messe, in der letzten Stunde seines Pontifikates manche seiner Worte vorgetragen werden.



    Aber zwei Originaltöne von Papst Benedikt möchte ich Ihnen doch geben. Der erste ist theologisch. Papst Benedikt sagt: Wenn wir den Maßstab der Ewigkeit aus den Augen verlieren, dann bleibt nur noch der Egoismus übrig. Dann wird jeder versuchen, so viel aus diesem Leben herauszuholen wie es eben möglich ist. Wenn wir die Ewigkeit aus den Augen verlieren …



    Der zweite Hinweis. Papst Benedikt sagt: Glauben heißt, dass wir wie Engel werden. Wir können fliegen, weil wir uns selbst nicht mehr schwer nehmen. Amen.
  • Aschermittwoch der Künstler: "Über das Lachen" / Hamburger Kunsthalle / 13. 02. 2013
    Zwei Arten des Lachens

    "Wer gut vorsorgt, hat gut Lachen!" So lautet der Titel einer Informationsbroschüre einer großen deutschen Krankenkasse. Auf der Titelseite ist ein lachender Mund mit – selbstverständlich – rundum gesunden Zähnen abgebildet. In der Broschüre kann der aufmerksame Leser Hinweise finden zu Themen wie: "Wie entsteht eine Zahlfleischentzündung?" oder "Zahnbürste, Zahnpasta und Co." Sie können sich vorstellen, dass ich mich besonders für den Abschnitt "Strahlendes Lachen bis ins hohe Alter" interessiert habe!



    Wer lacht, der zeigt seine Zähne. Das ist buchstäblich so. Das ist aber auch im übertragenen Sinne eine Wahrheit. Denn mit dem Lachen geht manchmal auch eine Haltung einher, die auf bissige Distanz setzt. Ich lache über die Mächtigen – und setze mich gleichzeitig von ihren Machtspielen und Intrigen ab. Ich lache über die Schönen – und stelle damit die gesellschaftlichen Moden in Frage. Ich lache über die Meinungsführer – und unterstreiche damit, dass auch sie nur eine Meinung vertreten und nicht die Wahrheit gepachtet haben. Und ganz wichtig: Ich lache über mich selbst und mache damit deutlich, dass ich nicht der Nabel der Welt bin.



    Sie sehen: Über die Starken und über einen selbst darf schon einmal kräftig gelacht werden. Das haben uns die Menschen im Rheinland in diesen Tagen wieder einmal vorgeführt. In Häme und Bösartigkeit sollte das aber nicht ausarten. Denn dann mache ich mich denen gleich, von denen ich mich mit meinem Lachen absetzen möchte. Das Lachen darf sich auch nicht gegen die richten, die zu den Schwachen gehören: gesellschaftliche Minderheiten, behinderte Menschen, Arme und Kranke. Wer auf Kosten solcher Menschen lacht, der verbündet sich gerade mit den Unterdrückern, Ausgrenzern und Verleumdern in unserer Welt.



    Und weshalb lache ich gerne? Weil es der Heiterkeit des Daseins entspricht. Dabei bin ich alles andere als naiv. In unserer Geschichte und in jeder menschlichen Biographie gibt es dunkle und bedrückende Zeiten. Von Theodor W. Adorno stammt der Satz, dass nach Auschwitz jede Dichtung barbarisch sei. Trifft das nicht noch mehr auf unser Lachen zu?

    Gerade aber weil es diese Zeiten von Tod und Verderben gibt, versuche ich zu jeder Stunde mir die grundlegende Heiterkeit des Lebens zu vergegenwärtigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die uns vorausgehende Wirklichkeit in Wahrheit hell und heiter ist. Es ist eine Heiterkeit, die von Gottes grundlegendem Willen zum Guten her stammt. Diese Heiterkeit ist also nicht erzwungen und aufgetragen, sondern ein Geschenk des Schöpfers. Sie spiegelt sich auch in den vielen Gemälden um uns herum wieder, die den für das Mittelalter so charakteristischen Goldgrund als Basis haben.

    Es gibt also Lachen verschiedener Art: ein befreiendes Lachen, ein finsteres Lachen und ein heiteres Lachen. Lachen der Seligen und Lachen, das aus der Hölle kommt. So könnte man es in Anlehnung an eine Ausstellung im Dommuseum Mainz sagen.(1) Dort wurden im vergangenen Jahr Motive des Lachens aus dem Mittelalter gezeigt.



    Lachen und Mäßigung

    Das Wissen um diese verschiedenen Arten des Lachens findet sich auch in der Bibel. Bei Jesus Sirach, einem Buch der jüdischen Weisheit aus dem 2. Jahrhundert vor Christus, heißt es an einer Stelle (21, 20) prägnant: "Der Tor lacht mit lauter Stimme, der Kluge aber lächelt kaum leise." Dieser Vers passt zu der traditionellen Hochschätzung einer der christlichen Kardinaltugenden: der Mäßigung.



    Mäßigung: Das sollte man nicht so verstehen, als ginge es dabei vorrangig um den Verzicht des Lachens und der Freude. Mäßigung ist ein durch und durch positiver Wert. Mäßigung heißt "in sich selbst Ordnung verwirklichen", wie es der Philosoph Josef Pieper einmal ausdrückte.(2) Diese Ordnung verwirkliche ich, indem ich mich einer Sache, einem Hobby, einer Aufgabe nicht im Übermaß hingebe; indem ich meine Interessen und Aktivitäten ausgewogen wähle und für Ausgleich sorge; auch indem mein Lachen nicht zu einem Gelächter ausartet.



    Sie werden jetzt vielleicht fragen: Und was ist mit denen, die leidenschaftlich für ihre Kunst oder ihre Musik leben? Was ist mit denen, die aufgrund eines inneren Überschwangs Großartiges geschaffen haben? Was ist mit den Frauen und Männern, deren Kreativität und Geisteskraft etwas Verzehrendes an sich hat? Was ist mit den Genies? Was mit den Heiligen? Welche Beispiele fallen mir hier ein: Franziskus und Therese von Liseux; Frederic Chopin und Gustav Mahler; oder auch Friedrich Nietzsche. Auf diese Frage habe ich keine fertige Antwort. Wir werden heute Abend sicherlich Gelegenheit haben, dieses Thema zu vertiefen.



    Abraham und Sarah

    Zurück zum Lachen. Eine Geschichte der Bibel ist in besonderer Weise mit dem Lachen verbunden. Es ist die Geschichte, die das Ehepaar Abraham und Sarah mit Gott hat. Seit vielen Jahren warten die beiden auf Nachwuchs. Im Alter von hundert bzw. neunzig Jahren haben sie jedoch alle Hoffnung verloren. Dennoch spricht Gott eines Tages zu Abraham: "Ich will dir einen Sohn geben." Und wie reagiert Abraham darauf? Er "fiel auf sein Gesicht nieder und lachte. Er dachte: Können einem Hundertjährigen noch Kinder geboren werden und kann Sara als Neunzigjährige noch gebären?" (Gen 17, 17)



    Die Szene ist unerhört, fast schon blasphemisch. Abraham lacht über Gott. Da ist das Lachen seiner Frau Sara fast schon unschuldig. Denn diese kann nicht mehr an sich halten, als Gott einige Zeit später zu Gast bei Abraham ist. In Gestalt von drei Männern kehrt er im Zelt des Erzvaters ein und wiederholt beim Essen das Versprechen auf Nachkommenschaft. Sarah bekommt dies hinter den Kulissen mit und "lacht daher still in sich hinein" (Gen 18, 12). Während Gott das Lachen Abrahams zuvor unkommentiert ließ, reagiert er dieses Mal. Er spricht zu Abraham: "Warum lacht Sara und sagt: Soll ich wirklich noch Kinder bekommen, obwohl ich so alt bin? Ist dem Herrn etwas unmöglich?" (Gen 18, 13f.)



    Nein, Gott ist kein Ding unmöglich. Einige Kapitel später (vgl. Gen. 21) ist es dann so weit: Abrahams und Sarahs Sohn wird geboren. Sie nennen ihn Isaak, was soviel heißt wie "Gott lacht". Von Sarah ist nach der Geburt ihres Sohnes die Äußerung überliefert: "Gott ließ mich lachen; jeder, der davon hört, wird mit mir lachen." (Gen 21, 6)



    Gott lacht

    Am Schluss der Erzählung haben alle zu lachen. Das ungläubige Lachen des Ehepaars hat sich in ein freudiges Lachen verwandelt. Mich beeindruckt aber vor allem die Vorstellung, dass Gott selbst lacht, wie es am Namen Isaak deutlich wird. Im Alten Testament ist es ja nicht unüblich, Gott Emotionen zuzuschreiben: den Zorn oder die Liebe. Aber ein lachender Gott?



    Der eine oder andere mag sich dabei an einen Satz von Friedrich Nietzsche erinnern: "Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen."(3) Und es gibt tatsächlich Passagen in der Bibel, in denen ein spottlustiger Gott dargestellt wird: "Die Könige der Erde stehen auf, die Großen haben sich verbündet gegen den Herrn und seinen Gesalbten. Doch er, der im Himmel thront, lacht, der Herr verspottet sie." (Ps 2, 2 & 4)



    Das bringt mich zurück zum Anfang meiner Ausführungen. Gott lacht und schafft dadurch Distanz: zu den Königen der Erde und zu den Großen. Das Lachen Gottes räumt mit den weltlichen Machtgelüsten auf und sorgt für Gerechtigkeit unter den Menschen. Und er lacht, wenn er im Leben der Menschen das Unmögliche möglich macht und somit die Dinge zum Guten wendet.



    Das Lachen Gottes erwartet die Gläubigen auch am Ende der Geschichte. Hier erscheint das himmlische Lachen als der Gegenpart zum irdischen Weinen. Es wird in der Bibel nicht ausdrücklich erwähnt, darf aber erwartet und erhofft werden. Von diesem Ende heißt es im Buch der Offenbarung (21, 3f.): Gott "wird in ihrer (d.h. der Menschen) Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal."



    Was bleibt da am Ende der Zeit übrig, als das Lachen Gottes und das Lächeln der Seligen?! Etwa so, wie es oft im Tympanon mittelalterlicher Kirchen in den Mienen der Erlösten zum Ausdruck kommt.





    (1) Vgl. Winfried Wilhelmy (Hrsg.): Seliges Lächeln und Höllisches Gelächter. Das Lachen in Kunst und Kultur des Mittelalters, Mainz/Regensburg.

    (2) Josef Pieper 1940: Zucht und Mass. Über die vierte Kardinaltugend, Leipzig, S. 13.

    (3) Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, § 294.
  • Hirtenbrief von Erzbischof Werner zur österlichen Bußzeit 2013 im Jahr des Glaubens / St. Marien-Dom Hamburg / 13. 02. 2013
    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg,



    im Oktober vergangenen Jahres habe ich Ihnen einen Brief geschrieben zum Jahr des Glaubens. Dieses begann mit dem Konzilsjubiläum und dauert noch bis zum letzten Sonntag des Kirchenjahres Ende November. Über die vielen Rückäußerungen zu meinem Brief habe ich mich gefreut. Gern greife ich einige davon in diesem Fastenbrief auf.



    1. Glaube und Zweifel

    Einer schrieb mir: "Entweder man hat seinen Glauben oder man hat ihn nicht."

    Daraus spricht die richtige Überzeugung, dass Glaube mit Entschiedenheit zu tun hat. Entweder – oder.

    Mir geht dabei aber auch durch den Sinn, dass jemand anders äußerte, er komme sich manchmal sehr gläubig vor und dann aber auch wieder ziemlich ungläubig.

    Dieser Erfahrung begegne ich häufiger: Dass manche ihres Glaubens gar nicht so sicher sind. Dass zum Glauben auch der Zweifel gehören kann.

    Der Zweifel ist der dunkle Bruder des Glaubens. Er kann vom Glauben abhalten. Er kann aber auch ein tieferes Eindringen in den Glauben anstoßen. Zweifel sind oft Wachstumskrisen des Glaubens.

    In früheren Zeiten wurden Unsicherheiten oder Zweifel oft überbrückt durch die Glaubenspraxis der anderen. Die ganze Familie und manche Freunde und Bekannte machten in der Kirche mit. Da schloss man sich nicht so schnell aus. Und irgendwann war die Unsicherheit überwunden.

    Heute steht jeder ganz persönlich vor der Frage, ob und wie er seinen Glauben leben will. Ohne beständiges Einüben bekommt der Glaube zu wenig Nahrung. Dann kann er leicht verkümmern. Das ist ähnlich wie im Sport. Ohne Training kein Weiterkommen.



    2. Glaube braucht Riten

    "Und was kann ich tun?" fragt in diesem Zusammenhang jemand.

    Einer schreibt: "Ich habe Ihre Anregung aufgegriffen, jeden Tag mit dem Kreuzzeichen zu beginnen." Und er fährt fort: "Das ist für mich ebenso selbstverständlich geworden wie der Abschiedskuss für meine Frau, bevor wir uns auf dem Weg zur Arbeit trennen."

    Darin steckt die Einsicht, dass wir Menschen Riten brauchen, gute Gewohnheiten, an die wir uns halten, ohne sie ständig infrage zu stellen.

    Das gilt auch für unsere Beziehung zu Gott. Morgengebet, Abend- und Tischgebet sowie die Sonntagsmesse waren als Riten einmal selbstverständlich. Ohne solche guten Gewohnheiten zerrinnt unser religiöses Leben. Dabei lässt sich dann die Erfahrung machen, dass praktizierte gute Gewohnheiten das Wachsen des Glaubens fördern. Auch wenn sie nicht immer mit letzter persönlicher Anteilnahme vollzogen werden können. Im Rückblick sagt dann jemand: "Auch wenn ich dabei manchmal gelangweilt oder gedankenlos bin, ich spüre jetzt: So ist es richtig."

    Darin zeigt sich die Einsicht: Nicht die Erfahrung führt direkt zum Glauben. Aber der Glaubende macht Erfahrungen. Es sind ermutigende Erfahrungen, die dann zu der Aussage führen: So ist es richtig, so kommt mein religiöses Leben in Schwung.



    3. Glaube ist Beziehung

    Der Glaube ist Beziehung zu Gott. Er braucht, wie auch jede menschliche Beziehung, Ausdrucksformen, um lebendig zu sein und um sich weiter entfalten zu können.

    Welche Ausdrucksformen des Glaubens praktiziere ich? Welche möchte ich praktizieren? Das kann eine wichtige Frage sein im Jahr des Glaubens.

    Der Heilige Augustinus sagt: "Der Mensch ist ein großes Rätsel und ein tiefer Abgrund" (1). Viele Rätsel des Menschen lassen sich lösen. Aber der Abgrund, die Tiefe des Menschen, bleibt Geheimnis.

    Denn die Tiefe des Menschen hat mit Gott zu tun. Wenn ich vor dieser abgründigen Tiefe immer nur weglaufe, indem ich mich entweder in Arbeit stürze oder in Zerstreuung flüchte, komme ich nicht zum Kern meines Lebens.

    Wenn ich nach dem Geheimnis frage, das ich in der Tiefe meines Wesens mir selbst bin, dann kommt die Frage nach Gott wie von selbst ins Spiel. Der Glaube sucht und findet Antworten auf diese Frage.

    Wir können uns in Deutschland ohne gewaltsame Bedrohung solchen Fragen stellen. Das ist nicht überall auf der Welt so. Im Nahen und Mittleren Osten und in Nigeria müssen Christen um ihr Leben bangen. Und zwar nur deshalb, weil sie praktizierende Christen sind.

    Mich beschäftigt die Frage: Wie würdest du zu deinem Glauben stehen, wenn er dich in Lebensgefahr brächte?

    Ich denke dabei an unsere vier Lübecker Märtyrer oder an den Märtyrer Erzbischof Romero und viele andere Glaubenszeugen aus der jüngeren Kirchengeschichte.



    4. Glaube ist Lebensqualität

    Einer schreibt mir sinngemäß: "Der Glaube ist für mich zu einer Lebensqualität geworden, auf die ich nicht mehr verzichten möchte."

    Dazu erklärt er: "Diese Lebensqualität hat für mich zu tun mit Freude an der Schöpfung, auch wenn sie immer wieder gefährdet ist. Mit Dankbarkeit für das eigene Leben und das Leben meiner Familie und Freunde, auch wenn ich mir manches anders wünsche. Mit Zustimmung zum Alltag, auch wenn er oft nervt.

    Und vor allem sehe ich als gläubiger Mensch, dass mein Leben ein Ziel hat, dass die jetzige Gemeinschaft mit Gott einmündet in die ewige Gemeinschaft mit ihm."



    5. Glaube und Beten

    Mehrere Rückäußerungen gab es zum Thema Beten.

    Der Heilige Augustinus sagt: "Das Gebet ist die Übung der Sehnsucht" (2). Und dann legt er dar, dass das Herz des Menschen oft zu eng ist für die Gaben Gottes. Deshalb muss das Herz geweitet werden. Indem Gott die Gabe, die er selbst ist, aufschiebt, verstärkt er unser Verlangen. Er weitet dadurch unser Herz und macht es aufnahmefähig für Gott.

    Können wir über unser persönliches Beten offen miteinander sprechen?

    Bei dieser Frage muss ich an meinen lieben Vorgänger, Erzbischof Ludwig Averkamp, denken. Am 24. Februar sind es vierzig Jahre her, seit er die Bischofsweihe empfing3. Zurzeit kämpft er mit den Folgen eines Schlaganfalls. Er ist dabei ein Vorbild an Geduld und Zuversicht.

    Erzbischof Ludwig erzählt gern folgende Begebenheit. In seiner Gebetsschule, die er an verschiedenen Orten unseres Erzbistums durchführte, hielt er mit allen, die teilnahmen, Einzelgespräche.

    Eine Frau erklärt: "Ich würde so gern mit meinem Mann gemeinsam beten, aber mein Mann betet leider nicht." Später kommt der Mann dieser Frau zum

    Gespräch. Er sagt: "Ich würde so gerne mit meiner Frau beten, aber sie betet nicht. Deshalb muss ich das immer still für mich alleine tun."

    Da leben zwei Menschen in guter Partnerschaft zusammen. Aber über die Frage ihres Betens haben sie nie miteinander gesprochen.

    Es tut gut, sich darüber auszutauschen, wie wir beten. Nicht nur unter Eheleuten, auch in den Gruppen unserer Gemeinden, in Gesprächskreisen und vielleicht auch einfach so unter Freundinnen und Freunden.

    Natürlich erfordert das ein hohes Maß an Diskretion und eine vertrauensvolle Atmosphäre. Aber dann kann es sich ereignen, was ein russischer Dichter in die Worte kleidet: "Und Seelen sind wie Kerzen, die

    sich einander anzünden" (4).



    6. Glaube und Fastenopfer

    Zum Schluss lege ich Ihnen noch unser Hilfswerk Misereor ans Herz. Die Fastenzeit ist ja Misereorzeit. Bei Besuchen in Südamerika, Afrika und Asien erlebe ich, wie groß die Not ist und dass wirksame Hilfe möglich ist.

    Helfen Sie mit in der Fastenaktion, damit Hunger und Krankheit eingedämmt werden können. Solche Hilfe, die aus dem Glauben an die Menschenfreundlichkeit Gottes heraus geschieht, stärkt auch den eigenen Glauben. Und Ihre Hilfe kommt an. Das kann ich versichern.



    Liebe Schwestern, liebe Brüder, im Jahr des Glaubens wünsche ich Ihnen gute Erfahrungen mit der Intensivierung Ihrer Glaubenspraxis. Der Glaube ist wie ein immer neues Samenkorn im Menschen. Es entfaltet sich, wenn wir gute Wachstumsbedingungen bereit stellen.



    Mit herzlichen Segenswünschen

    Hamburg, am Fest der Erscheinung des Herrn 2013



    Ihr † Werner

    Erzbischof von Hamburg



    (1) Augustinus, Bekenntnisse, IV. 4,9 und 14,22

    (2) Augustinus, Predigt zum 1. Johannesbrief; vgl. Benedikt XVI., Leidenschaft für die Wahrheit, Augsburg 2009, 115

    (3) Zur Zeit der Abfassung dieses Briefes ist noch ungewiss, ob zum 40jährigen Bischofsjubiläum von Erzbischof Ludwig eine größere Feier stattfinden kann.

    (4) Gennadij Ajgi, Immer anders auf der Erde, Gedichte, Leipzig 2009, 129
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass der Erweiterung des Wohnhauses für Frauen des Sozialdienstes katholischer Frauen / Hamburg-Altona / 28. 01. 2013
    Sehr geehrte Damen und Herren,

    liebe Schwestern und Brüder,



    in Hamburg herrscht Wohnungsnot. Im Dezember meldete der Mieterbund, dass in Deutschland 250.000 und allein in Hamburg 15.000 Wohnungen fehlten. Ohne die Zahlen im Einzelnen bestätigen zu können, weiß ich doch aus vielen Gesprächen: Hamburg macht es seinen Bürgerinnen und Bürgern bei der Wohnungssuche nicht leicht; besonders jenen, deren finanzielle Mittel begrenzt sind. Wer dann noch zwei oder drei Kinder hat oder alleinerziehend ist oder auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen ist, der findet nur schwer eine bezahlbare Wohnung.



    Ganz besonders kritisch ist es für Menschen, die in einer Notlage sind. An dem Ort, an dem wir uns hier befinden, stehen besonders junge Frauen im Vordergrund, die psychische und seelische Wunden mit sich tragen. Wohnungsnot trifft hier auf eine aufreibende innere Not. Diese Frauen benötigen nicht nur bezahlbaren Wohnraum. Sie brauchen auch eine engagierte und kompetente Begleitung, um ihren Alltag meistern zu können. Beides – Wohnraum und Begleitung – bietet das „Wohnhaus für Frauen“ unseres Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF).



    In der Ankündigung für diesen Termin ist von einem „wachsenden Bedarf“ für diese Art des Wohnangebots die Rede. Ich freue mich sehr, dass unser Sozialdienst auf diesen Bedarf eingehen kann und dieses Haus mit Hilfe kräftiger Unterstützung erweitert werden kann. Herzlichen Dank an unser Bonifatiuswerk – heute hier vertreten durch seinen Generalsekretär Msgr. Austen – für seinen finanziellen Einsatz für die Frauen in Hamburg.

    Das „Wohnhaus für Frauen“ des SkF steht heute stellvertretend für all die Hilfe, die katholische Einrichtungen in Not geratenen Frauen anbieten. In jeder Neuaufnahme und durch jedes Beratungsgespräch wird hier der Geist der Seligpreisungen Jesu konkret erfahrbar: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden“ (Mt 5, 7).



    Von daher halte ich es für besonders tragisch, wenn kirchliche Einrichtungen Frauen in ihrer Not nicht helfen. Diese Not kann akut sein. Sie kann einen Menschen aber auch schon lange im Griff haben. Schnelle Lösungen sind dann nicht zu erwarten. Das „Wohnhaus“ lässt seinen Bewohnerinnen auch Zeit zum Ankommen und zur Neuorientierung im Leben.

    Ich bin ehrlich: Eigentlich wünsche ich mir, dass es so etwas wie einen „wachsenden Bedarf“ nicht geben würde; dass es in unseren Familien, in unserer Gesellschaft ausreichend Ressourcen geben würde, um diese Frauen in ihrem Alltag zu unterstützen. Doch die Wirklichkeit vieler Frauen sieht leider anders aus. Und manche Not ist so groß, dass sie jede Familie und jede Freundschaft überfordert.



    So bin ich dem Sozialdienst katholischer Frauen sehr dankbar, dass er kompetent, professionell und im Geiste unseres Glaubens Hilfe anbietet. Frauen setzen sich hier in Altona für Frauen ein. Wenn ich von großer Not höre oder sie mit meinen eigenen Augen sehe – hier oder in der weiten Welt – dann machen mir Einrichtungen wie dieses Wohnhaus für Frauen Mut. Vielen Dank!

  • Silvesterpredigt 2012 / St. Marien Dom Hamburg / 31. 12. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    letzter Tag, letzte Stunden dieses zu Ende gehenden Jahres. Wir schauen zurück. Was hat das Jahr gebracht? Was war gut? Was war schwierig? Was bleibt dan-kenswert?



    Mir geht es so, dass ich vieles nennen möchte. Vieles, was ich erlebt habe bei mei-nen Besuchen in den Gemeinden, in Einzel- und Gruppengesprächen, bei den vie-len Aktionen im sozialen und politischen Bereich. Ich denke an die zahlreichen gro-ßen Gottesdienste in unseren schönen Kirchen und manche auch draußen in der Natur, an Vorträge und Diskussionen zu Glaube und Kirche. Dazu die Maßnah-men, welche notwendig sind für die Leitung des Erzbistums.



    Dankbar blicke ich auf das Jahr zurück. Nicht, weil alles gut war und gelungen ist. Sondern weil alle Tage für mich mit dem Kreuzzeichen begannen und so unter dem Segen Gottes standen.



    Auf eine Erfahrung möchte ich besonders zu sprechen kommen. Sie haben viel-leicht in der Zeitung davon gelesen. Kurz vor Weihnachten trafen sich bei mir in meiner Wohnung der jüdische Landesrabbiner, der Vorsitzende der Muslime und die evangelische Bischöfin. Es war ein höfliches Gespräch, getragen von gegenseiti-ger Wertschätzung. Aber auch geprägt vom Einstehen für den je eigenen Glauben.



    Wenn ich von diesem Gespräch Bekannten in Ägypten erzähle, dann sagen sie mit Sicherheit: Das wäre bei uns unmöglich. Und sie würden an das Weihnachtsfest 2010 erinnern. Damals wurden Christen, die aus dem Weihnachtsgottesdienst ka-men, von Muslimen erschossen.



    Wenn ich von diesem Zusammentreffen in meiner Wohnung Freunden im Kinder-krankenhaus in Bethlehem erzähle, dann sagen sie mit Sicherheit: Bei uns wäre das unmöglich. Und sie würden an die Mauer erinnern, welche israelische und pa-lästinensische Gebiete trennt.



    Wenn ich das dem Erzbischof von Aleppo in Syrien erzähle, dann sagt er mit Si-cherheit: Wenn doch bei uns erst einmal das Blutvergießen aufhörte, wenn hier doch endlich elementare Menschenrechte beachtet würden.



    Ein elementares Menschenrecht ist die Religionsfreiheit. Ja, „Religionsfreiheit ist der Gipfel aller Freiheiten“, sagt Papst Benedikt. Und er fügt hinzu: „Religionsfrei-heit ist in der Menschenwürde verwurzelt“ (Ecclesia in medio oriente). Wir als Christen haben das ja auch im Laufe der Jahrhunderte mühsam lernen müssen. Aber haben wir es wirklich gelernt?



    Natürlich, wir sprechen niemandem das Recht ab, seinen Glauben so zu leben, wie er es für richtig hält, so lange Menschenwürde und Menschenrecht nicht verletzt werden.



    Aber Religionsfreiheit darf für uns als Christen nicht nur diese Seite bedeuten, dass wir niemanden in seiner Religionsausübung behindern. Religionsfreiheit im positi-ven Sinn bedeutet, dass wir diese Freiheit, die wir haben, auch wirklich praktizie-ren. Dass wir von unserer Religionsfreiheit aktiv Gebrauch machen, indem wir den Sonntag heiligen, indem wir jeden Tag unter den Segen Gottes stellen, indem wir dem bedürftigen Nächsten in unserer Umgebung und weltweit helfen. Wir sind so frei. Praktizieren wir auch die Freiheit?



    Religionsfreiheit ist dem Gemeinwohl verpflichtet. Wir haben viele Institutionen, die sich um das Gemeinwohl sorgen, staatliche, private und kirchliche. Das ist sehr dankenswert. Aber immer wieder muss ich erleben, dass Menschen durch das Netz solcher Hilfsmaßnahmen fallen. Das lässt sich auch gar nicht vermeiden. Es braucht die Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit von uns allen, damit alle bei uns menschenwürdig leben können.



    Religionsfreiheit und Menschenwürde soll für alle gelten, weltweit. Aber können wir da als einzelne etwas tun? Ja, wir können. Die kirchlichen Hilfswerke bahnen uns den Weg zu weltweiter Solidarität. Gerade hatten wir zu Weihnachten die Adveniat-kollekte für Menschen in Lateinamerika. In der Fastenzeit in sieben Wochen geht es um Entwicklungszusammenarbeit durch unser Hilfswerk Misereor. Unsere Hilfs-werke nehmen uns jede Ausrede, wir könnten nichts tun. Tatkräftige Hilfe bei uns und weltweit – auch das ist praktizierte Religionsfreiheit.



    Aber muss man bei aller Betonung der Religionsfreiheit nicht doch fragen, welche Religion die wahre ist? Diese Frage haben wir bei unserem Vierertreffen in meiner Wohnung nicht gestellt. Aber die Antwort ist eindeutig. Ich nenne sie Ihnen mit den Worten von Papst Benedikt. Er sagt: „Nur wenn wir einander in Liebe begegnen, enthüllt sich die Wahrheit“ (Ecclesia in medio oriente).



    Liebe Schwestern, liebe Brüder, viele dieser Fragen werden wir mit in das neue Jahr nehmen. Je mehr wir von der Religionsfreiheit Gebrauch machen, das heißt: Je mehr wir unseren Glauben praktizieren, desto mehr kommen wir der Wahrheit nä-her. Der Wahrheit unseres Lebens. Der Wahrheit unserer Welt. Jesus sagt: Die Wahrheit wird euch frei machen (Joh 8,32).
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen in der Christmette 2012 / St. Marien Dom Hamburg / 24. 12. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht.“ So begann vorhin die bibli-sche Weihnachtsverkündigung. Jetzt sind wir dieses Volk im Dunkel der Nacht. Dunkelheit irritiert. Dunkelheit macht Angst. Ich meine nicht so sehr die Dunkel-heit draußen. Dafür gibt es Straßenlaternen. Ich meine das Dunkel drinnen, im Menschen, und auch das Dunkel in uns.



    Die Dunkelheit gehört zu Weihnachten. In den biblischen Texten vorhin war die Rede von Gewalt. Denken Sie an den Soldatenstiefel, der dröhnend daherstampft. Oder an den Mantel, der mit Blut befleckt ist. Das gibt es auch heute: Gewalt und Blutvergießen. Nicht nur in Syrien, Ägypten oder Afghanistan. Nicht nur in der amerikanischen Grundschule in Newtown im Staat Connecticut. Unsere Welt ist voll von Gewalt. Und wir in Deutschland tragen dazu bei. Panzer und weiteres Kriegsmaterial verkaufen wir zum Fest des Friedens in den Süden. Zum Fest des Lebens wird organisierte Sterbehilfe propagiert. All das gehört zu Weihnachten 2012. Es passt, dass die Dunkelheit, die Nacht, schon im Namen „Weihnacht“ vor-kommt.



    „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht.“ Wenn ich die Dunkelheit nicht verdränge, wenn ich den Mut habe, die Dunkelheit anzuschauen, auch die Dunkelheit in mir selbst, dann kann ich auch das Licht wahrnehmen. So wie die Hirten auf den Feldern Bethlehems in der Dunkelheit der Nacht das Licht erfahren. „Der Glanz des Herrn umstrahlte sie“, hörten wir im Weihnachtsevangelium. Kann uns hier im Mariendom auch der Glanz des Herrn umleuchten, erleuchten? Kann uns ein Licht aufgehen, das Licht der Weihnacht?



    Drei Hinweise können dafür hilfreich sein.



    Als erstes finde ich wichtig, dass wir vor der Dunkelheit in unserer Welt, in unserer Gesellschaft und vor der Dunkelheit in uns selbst nicht die Augen verschließen. Dass wir nicht wegschauen, sondern hinschauen. Die Dunkelheit anschauen, wahrnehmen.



    Als zweiter Hinweis, damit mir das Licht der Weihnacht aufgehen kann, hilft mir, dass ich in mich hineinhorche. Was sagt mir mein Gefühl, mein Gewissen, meine innere Stimme? Was wollte ich vielleicht schon längst tun und habe es bis jetzt auf-geschoben? Zu welchem Handeln drängt mich das Licht der Weihnacht, zu wel-chem Aufbrechen, so wie die Hirten zum Stall mit dem Jesuskind aufbrechen?



    Und ein letzter Hinweis schließlich noch, damit mir das Licht der Weihnacht auf-geht: Ich sage das, was mir in dieser Nacht durch den Kopf geht und durchs Herz geht, dem Kind in der Krippe. Gott hört mich an in der Gestalt dieses Kindes. Er fällt mir nicht ins Wort. Er beurteilt mich nicht. Er verurteilt mich nicht. Wenn ich mich in Stille Gott zuwende, dann lässt er mich erfahren, was für mich dran ist, was ich zu tun habe und zu lassen, was sein Auftrag für mich ist, was der Sinn meines Daseins ist.



    Vom Sinn spricht auch Papst Benedikt in seinem neuen Buch zu den Kindheitsge-schichten Jesu. Er weist darauf hin, dass die biblische Aussage „das Wort ist Fleisch geworden“ auch übersetzt werden kann mit „der Sinn ist Fleisch geworden“. Das bedeutet: Jesus Christus, das Wort Gottes, ist in die Welt gekommen, damit ich den Sinn meines Lebens erkennen kann. In Verbindung mit Jesus Christus be-kommt mein Leben Sinn, und ich kann den Sinn besser erkenne, auch in Krisen, auch in Dunkelheiten, auch in dem, was mich bedrückt und quält. In die Dunkel-heit fällt Licht.



    Dann wird es hell in mir. Dann sehe ich eine Perspektive für mein Leben. Dann hält mich nicht die Dunkelheit in der Welt und auch nicht die Dunkelheit in mir selbst davon ab, Sinnvolles zu tun, Gutes zu tun. Denn der Sinn meines Lebens ist für mich greifbar, begreifbar geworden, hat Hand und Fuß bekommen durch das Kind von Bethlehem, in welchem Gott selbst zu uns kommt.



    Schwestern und Brüder, wir brauchen vor der Dunkelheit nicht zu verzagen und nicht zu resignieren. Wir können mutig Schritte durch unsere Dunkelheit hindurch gehen und sie überwinden. Denn das Licht von Bethlehem leuchtet uns. Es gibt uns Sinn und Ziel auf unserem irdischen Pilgerweg. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am 3. Adventssonntag / St. Marien Dom Hamburg / 16. 12. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    dieser Sonntag hat eine markante Überschrift: Gaudete – Freut euch. Gibt es Gründe, uns zu freuen?



    Oft fallen uns eher Gründe ein, uns zu ärgern, uns zu beschweren, uns zu grämen. Oft nehmen wir das, was uns froh machen kann als selbstverständlich. Das Beklagenswerte drängt sich uns oft stärker auf als das Frohmachende. Ist das nicht so?



    Hier setzt dieser dritte Adventssonntag einen deutlichen Gegenakzent. Gaudete, freut euch.



    Es passt gut zu diesem Sonntag, dass wir heute an zwei fünfundsiebzigste Geburtstage denken, den fünfundsiebzigsten Geburtstag unseres Dompropstes Nestor Kuckhoff und den fünfundsiebzigsten Geburtstag unseres Dompfarrers Georg von Oppenkowski. Nicht, dass die beiden Zwillinge sind. Aber ihre Geburtstage liegen so nahe beieinander, dass wir in diesem Gottesdienst für beider Wirken danken und für beide beten.



    Dompropst und Dompfarrer sorgen sich beide um den Dom. Aber aus unterschiedlicher Perspektive. Der Dompropst aus der Perspektive des Erzbistums mit all den Gottesdiensten, die das ganze Bistum betreffen, die Weihen der Diakone und der Priester, die Aufnahme der Taufbewerber, die Segnungsgottesdienste, die großen kirchenmusikalischen Aufführungen, die Bistumstage und vieles andere. Dem Dompfarrer liegt unser Dom am Herzen aus der Perspektive der Domgemeinde mit dem täglichen Gottesdienst und der Gestaltung des Kirchenjahres mit Taufen, Trauungen und Beerdigungen und all den Ereignissen, die es in einer Pfarrei gibt. So ergänzen sich beide in der Sorge um den Dom. Vielleicht sind sie dann doch vergleichbar mit Zwillingen, jedenfalls von der Aufgabenstellung her. Wir danken unserem Dompropst und unserem Dompfarrer aus Anlass ihres Gedenktages, dass sie ihre Aufgaben mit so viel Hingabe und Einsatz erfüllen. Gaudete, freut euch, ja, das ist wahrhaftig Grund zur Freude.



    Unsere Freude über unsere beiden Geburtstagskinder verbindet sich mit der Freude, welche die Liturgie dieses dritten Adventssonntages uns vermitteln will.



    Freut euch – und dann kommt im Brief des Apostels Paulus die Begründung: Der Herr ist nahe.



    Bist du wirklich nahe, Herr Jesus Christus? Oder sagen wir das nur so, weil es auf Weihnachten zugeht? Es gibt die Versuchung, unseren Glauben sich verflüchtigen zu lassen, indem wir unsere eigenen Begriffe nicht ernst nehmen, sie umdeuten oder sie symbolisch verstehen.



    Der Herr ist nahe – das ist für den Apostel Paulus, der uns dieses Wort heute zuruft, Realität. Der Herr ist nahe, weil Paulus mit Jesus Christus lebendigen Umgang pflegt. Je mehr wir das auch tun, desto mehr machen wir die Erfahrung, dass der Herr wirklich nahe ist, bei uns ist auf unserem Lebensweg, bei uns ist in allen Situationen unseres Daseins, den frohen und den beklagenswerten.



    Und wie geht das: Lebendige Beziehung zu Jesus Christus? Nun, das unterscheidet sich nicht sehr von der Art der Beziehung, die wir Mensche miteinander pflegen.



    Unsere menschlichen Beziehungen entfalten sich, indem wir aufeinander hören und miteinander sprechen. Unsere Beziehungen zu Gott entfalten sich, indem wir hören auf Gottes Wort, auf die Regungen unseres Gewissens, auf die Ereignisse unseres Lebens und darauf antworten im Gebet.



    Unsere menschlichen Beziehungen entfalten sich, indem wir einander aufsuchen und begegnen. Unsere Beziehung zu Gott entfaltet sich in der Begegnung mit ihm im Gottesdienst, in den Sakramenten und in der Sorge um andere, vor allem um die Armen, und im Teilen. Zum Verhalten anderen gegenüber gibt das Evangelium heute ja konkrete Hinweise, die sich leicht in die Gegenwart übertragen lassen.



    Der Herr ist nahe, das erfahren wir, wenn wir keine Beziehungsmuffel sind, wenn wir uns öffnen für seine Gegenwart, wenn wir die Beziehungsarbeit nicht dem Herrn allein überlassen.



    Der Herr ist nahe – das ist das bischöfliche Leitwort unseres Erzbischofs Ludwig. Es ist schön, dass er trotz seiner Behinderung diesen Gottesdienst mit uns feiern kann.



    Gaudete, freut euch: In diesem Gottdienst verbindet sich die Freude über unsere Geburtstagsjubilare mit der Freude über die Nähe des Herrn. Beziehungsfähigkeit zu Menschen und Beziehungsfähigkeit zu Gott haben miteinander zu tun. Sie können sich gegenseitig fördern. Weil das so ist: Gaudete, freut euch. Amen
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass des Festaktes 5 Jahre Malteser-Migranten-Medizin / Hamburg / 28. 11. 2012
    Sehr geehrte Damen und Herren,

    „Gott liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung. Auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“ (Deut. 10, 18f.).

    Ich beginne mit diesem Vers aus dem Alten Testament, um eines deutlich zu machen: Was wir hier feiern – den medizinischen Dienst an Menschen in der Illegalität und in der größten Not – berührt das Mark unseres Glaubens.

    Zur Zeit des Alten Testaments war es nicht üblich, die Fremden zu lieben. Und auch heute ist es keineswegs überall üblich, die Fremden zu lieben. Erst vor wenigen Tagen gedachten wir der schrecklichen Brandanschläge in Mölln vor 20 Jahren. Ebenfalls vor zwei Jahrzehnten brannten in Rostock die Wohnhäuser von Flüchtlingen und Migranten. Wir wissen, dass unter uns auch heute noch viel Ressentiment und Hass gegenüber fremden Menschen und Flüchtlingen existiert.

    Die biblische Überlieferung ist zu dieser Fremdenfeindlichkeit das entschiedene Kontrastprogramm: „Gott liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung. Auch ihr sollt die Fremden lieben.“ Die Botschaft ist klar: Ihr ward in Ägypten selbst Fremde, also behandelt die Fremden unter euch wie euresgleichen. Ihr ward Flüchtlinge und Migranten, also schottet euch nicht ab, wenn heute Flüchtlinge und Migranten zu euch kommen.



    Kern der biblischen Botschaft ist: Fremdenliebe ist ein Gebot der Mitmenschlichkeit. Es ist aber noch viel mehr. Gott liebt die Fremden. Wer sich dem Ruf zur Fremdenliebe widersetzt, der widersetzt sich damit auch Gott. Das kann uns nicht egal sein. Am Umgang mit unseren Mitmenschen aus anderen Ländern zeigt sich, ob wir verstanden haben, was das Leben unter Menschen ausmacht. Was das Leben überhaupt ausmacht.



    Die Malteser-Migranten-Medizin ist in ihrer zupackenden Art ebenfalls ein entschiedenes Kontrastprogramm zu den Ressentiments und dem Hass gegenüber Migranten. Ich bin allen Personen sehr dankbar, die sich bei der MMM engagieren: den Medizinern, auch jenen im angeschlossenen Netzwerk, den vielen Spendern und den Maltesern hier in Hamburg. Sie setzen Zeit und Geld ein, um den Fremden und Armen unter uns einen dringenden Liebesdienst zu erweisen. Nicht in erster Linie aus emotionaler Verbundenheit, aber aus der Erkenntnis heraus: Das bin ich meinem Mitmenschen schuldig. Das bin ich dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft schuldig. Und auch: Das bin ich Gott schuldig.



    Erlauben Sie mir eine kleine Theologie der Malteser-Migranten-Medizin: Gott beschenkt uns mit seiner Liebe. Im Advent und an Weihnachten wird uns dies wieder sehr deutlich. Und Gott beschenkt uns einfach so, ohne zuerst Forderungen zu stellen. Ohne zuerst nach unserem Namen, nach unserer Identität und nach unserer Versichertenkarte zu fragen.

    Die MMM tut es Gott nach. Sie beschenkt die Menschen damit, dass sie in der ärgsten Not der Menschen nicht viele Fragen stellt. Ich bin auch der Stadt Hamburg sehr dankbar, dass sie uns gegenüber nicht zu viele Fragen stellt.



    Zum Ende ein etwas ungewöhnlicher Wunsch: Ich wünsche der MMM für die kommenden Jahre möglichst wenig Wachstum! Ich wünsche mir nämlich, dass auf politischer Ebene Wege gefunden werden, dass Menschen aus der Illegalität heraustreten können und Menschen ohne Krankenversicherung einen Basisschutz erhalten.

    Bis dahin wünsche ich allen, die sich für die Malteser-Migranten-Medizin einsetzen, von Herzen Gottes Segen!
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im ökumenischen Gottesdienst im Gedenken an die vier Lübecker Märtyrer / Lutherkirche Lübeck / 10. 11. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    schon oft habe ich auf einer Kanzel gestanden. Auch wenn bei uns seit dem Konzil meistens vom Altarraum aus gepredigt wird. Schon oft habe ich auf einer Kanzel gestanden. Aber dies ist die Kanzel, auf der Pastor Karl-Friedrich Stellbrink stand. Und als er nach der Predigt am Palmsonntag diese Kanzel verließ, wurde er einige Tage später verhaftet. Wenn ich gleich die Kanzel wieder verlasse, verhaftet mich niemand. Und doch steht das Wort Gottes immer im Widerspruch zum Zeitgeist und zu modischen Meinungen. Auch heute. Wehe uns, wenn wir das Wort Gottes so verkünden, dass niemand mehr daran Anstoß nimmt.



    „Ihr seid vor aller Welt beschimpft und gequält worden“, sagt uns heute der Hebräerbrief. Da denken Sie bestimmt auch sofort an unsere vier Lübecker Märtyrer. Beschimpft und gequält worden sind sie bis in ihre Todesstunde hinein jetzt vor neunundsechzig Jahren.



    Und wie ist das bei uns heute? Wir leben anders als zur Zeit der Lübecker Märtyrer in einer freiheitlichen Gesellschaft. Gott sei Dank. Aber ich frage mich oft: Wie hättest du dich damals verhalten?



    Aus heutiger Sicht beurteilen wir Christen die Hitlerzeit eindeutig: Hitlers und seiner Anhänger Verhalten war böse. Wer dagegen war, war gut. Aber so einfach war das nicht. Es kostete unsere vier Märtyrer harte Gewissensprüfungen, bevor sie sich gegen das Handeln der Nationalsozialisten wandten. Umso bewundernswerter ist, dass sie auch andere davon überzeugen konnten. Auch die achtzehn mitverhafteten Laien und deren Familien wollen wir nicht vergessen. Denn auch sie sind, in der Sprache des Hebräerbriefes, beschimpft und gequält worden, wenn auch auf andere Weise.



    Wie hätte ich mich damals verhalten? Noch weitaus wichtiger ist die Frage: Wie verhalte ich mich heute? Denn auch heute gibt es Praktiken, mit denen sich ein Christ nicht abfinden kann. Es passt zur Aussage unserer Lesung aus dem Hebräerbrief, wenn wir uns beschimpfen lassen, weil wir uns für den Schutz des Lebens einsetzen. Vor allem an Beginn und am Ende ist das Leben enorm gefährdet bei uns. Oder, um einen ganz andere Bereich zu nennen, wenn wir uns einsetzen für den Schutz des Sonntags. Weil der Mensch mehr ist als kaufen und verkaufen. Oder wenn wir es nicht tatenlos hinnehmen, dass im Süden der Erde täglich Menschen vor Hunger sterben. Oder wenn wir uns gegen nationalsozialistische Propaganda und Agitation wehren. Oder wenn wir beschimpft werden, weil wir unseren Glauben in der Öffentlichkeit bekennen.



    Was können wir denn schon tun? So fragten sich damals viele in der Hitlerdiktatur. Und sie taten nichts. Die vier Lübecker Märtyrer aber haben etwas getan. Das verpflichtet auch uns.



    Das verpflichtet uns auch zum weiteren Zusammenwachsen in der Ökumene. Vor wenigen Tagen war ich Gast bei zwei Synoden der evangelischen Kirche. Auf beiden Synoden sprachen mich Mitglieder an auf die Lübecker Märtyrer und wie sehr diese uns verbinden im Glauben an den Dreifaltigen Gott.



    Gestern erhielt ich einen Brief von Waltraut Kienitz, der Tochter von Pastor Stellbrink. Sie kann diesmal leider nicht bei uns sein. Aber in Gedanken ist sie jetzt bestimmt bei uns.



    Sie schreibt sinngemäß: So wird also alles Gedenken diesmal in unserer Lutherkirche stattfinden – kein schlechtes Omen, wie ich finde. Hat doch Luther seine Kirche von geistigem Unrat säubern wollen.



    Mich erinnert das an die Aussage von Kardinal Koch auf der Synode: Die Reform-bemühungen Luthers sind erst dann am Ziel, wenn die Trennung unserer Kirchen Vergangenheit ist.



    Was sollen wir also tun?



    „Was Ihr braucht, ist Ausdauer“, ruft uns heute der Hebräerbrief zu. Und: „Werft eure Zuversicht nicht weg!“



    Ausdauer und Zuversicht waren Eigenschaften unserer vier Märtyrer. Ausdauer und Zuversicht dürfen wir aus diesem Gottesdienst mitnehmen. Dann sind uns Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl-Friedrich Stellbrink gute Begleiter auf unserem Weg.



    Stellvertretend für alle vier nenne ich dafür einen Satz aus Pastor Stellbrinks Abschiedsbrief an seine Frau Hildegard. Er schreibt: „Alle Zeit werde ich vor Gottes Angesicht stehen mit meiner Fürbitte für Euch.“



    Das Gedenken an die Lübecker Märtyrer und Ihre Fürbitte schenken uns Ausdauer und Zuversicht. Amen
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland / Timmendorfer Strand / 05. 11. 2012
    Sehr geehrte Präses der Synode Frau Göring-Eckhardt,

    sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender Präses Schneider,

    verehrte Synodale,

    liebe Schwestern und Brüder,



    für die Einladung, vor Ihnen sprechen zu dürfen, danke ich Ihnen sehr herzlich. Ich tue dies auch im Namen meiner Mitbrüder in der Deutschen Bischofskonferenz. Es ist ein schönes Zeichen gelebter Ökumene, dass die Deutsche Bischofskonferenz in jedem Jahr von der Evangelischen Kirche in Deutschland zu diesem Grußwort eingeladen wird. Ich spreche zu Ihnen auch im Namen aller Gläubigen aus unserem Erzbistum Hamburg. Wir freuen uns, dass Sie hier bei uns im Norden mit Ihrer Synode zu Gast sind.

    Auf Ihrem Programm steht das 500-jährige Jubiläum der Reformation. In der Vorbereitung darauf kommen Sie hier zusammen. Dabei stellen Sie einen Vers aus dem Johannesevangelium besonders in den Mittelpunkt Ihrer Synode: „Am Anfang war das Wort“. Sie machen damit klar, auf welchem Fundament Sie stehen: auf Christus, dem Wort Gottes, dem Anfang und Ende von all dem, was wir im Glauben denken, sprechen und tun.



    Das erinnert mich sofort an das Jubiläum, das wir als katholische Kirche in diesem Jahr feiern. Vor 50 Jahren begann das Zweite Vatikanische Konzil, das bis 1965 dauerte. Das Konzil war von dem Bestreben geprägt, sich intensiv hinzuwenden zu den Quellen des Glaubens, vor allem zur Bibel und zu den Zeugnissen der frühen Kirche. Es war davon geprägt, die Frohe Botschaft neu in Denken und Sprechen unserer Zeit hinein zu tragen.

    Ich habe mir die Frage gestellt, wie sich Reformationsjubiläum und Konzilsjubiläum zueinander verhalten können. Dabei will ich nicht verschweigen, dass ich mich im Hinblick auf 2017 mit dem Begriff „Jubiläum“ schwer tue. Denn wer könnte übersehen, dass das Jahr 1517 wesentlich mit der Spaltung unserer Kirchen zu tun hat. Jubiläum, Jubilare, jubeln – passt das dann?

    Umso mehr liegt mir daran, und das wird Ihnen genauso gehen, dass wir im Zugehen auf das Jahr 2017 nicht die Spaltung, sondern das Miteinander vermehren.



    Ein Schlüsseltext des Konzils ist die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“. Die Konstitution hebt hervor, dass die Heilige Schrift – gemeinsam mit der Liturgie und der kirchlichen Überlieferung – „die höchste Richtschnur des Glaubens“ (DV 21) ist. Das heißt: Unser Blick auf das II. Vatikanum ist immer auch ein Blick über das Konzil hinaus. Es ist ein Blick auf das Wort, das am Anfang war und das auch am Ende sein wird. Ganz im Sinne Ihres Leitsatzes: Im Anfang war das Wort.



    Das Wort Gottes spielte beim Konzil auch eine anschauliche Rolle. Jede offizielle Sitzung des Konzils begann mit der sogenannten Inthronisation des Evangeliars. Dazu wurde ein Buch mit den Evangelien in die Konzilsaula – dem Petersdom – getragen und feierlich in der Mitte der 2500 Konzilsväter aufgestellt. Damit sollte deutlich gemacht werden, welcher Grund uns als Kirche trägt: Christus, das Wort Gottes.

    Ich freue mich, dass der Lutherische Weltbund und der Päpstliche Einheitsrat einen gemeinsamen Text formulieren wollen zur Bedeutung der Reformation.

    Denn das ist ja auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil deutlich geworden, dass dort manche Anliegen Luthers gewürdigt worden sind und auch aufgegriffen worden sind. Ich nenne als Beispiele die Verpflichtung auf das Wort Gottes, die Freiheit der Glaubenszustimmung, die unüberbietbare Instanz des Gewissens.



    Der Vorsitzende unserer Ökumenekommission, Bischof Gerhard Feige von Mag-deburg, hat mich darauf hingewiesen, dass es im Kontaktkreis zwischen unserer Bischofskonferenz und der evangelischen Kirche in Deutschland Überlegungen gibt, einen Versöhnungsprozess anzugehen im Hinblick auf all das, was an Unversöhnlichem zwischen uns seit 1517 sich ereignet hat. Konkret könnte es dabei um Buße und Umkehr gehen. Dabei könnte deutlich werden, dass wir uns weniger gegenseitig etwas vorzuwerfen haben, sondern dass wir uns vielmehr gegenseitig um Vergebung zu bitten haben. Das könnte auch ein wichtiges Zeugnis sein gegenüber den oft so oberflächlichen Entschuldigungsmechanismen unserer Zeit.



    Manche Formulierungen des Zweiten Vatikanischen Konzils machen deutlich, wie viel wir als katholische Kirche auch von Luther gelernt haben. Das hat ja auch Papst Benedikt in Erfurt betont, wie sehr Luther existentiell auf Christus ausgerichtet war. Dazu passt gut der Vorschlag von Ihnen, Herr Präses Schneider, das Jahr 2017 als Christusjubiläum zu feiern.

    Die Zeiten seit Luther und – auf andere Weise – auch die Zeiten seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben sich, was Glaubensbewusstsein und Glaubenspraxis in unserem Land betrifft, dramatisch verändert.

    Damit Menschen in unserer Zeit bereitwilliger an den Dreifaltigen Gott glauben können und glauben wollen, sind wir es ihnen schuldig, das, was uns verbindet, weiter zu entwickeln.



    Als ich darüber nachdachte und darüber betete, kam mir der Konzilstext „Lumen Gentium“ über die Kirche in den Sinn. Da heißt es: „Der Bischof von Rom ist als Nachfolger Petri das immerwährende sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielfalt von Bischöfen und Gläubigen.“ Dem werden Sie nicht so ohne weiteres zustimmen. Aber dann kommt das, was mich nachdenken lässt. Der Text geht weiter: „Die Einzelbischöfe hinwiederum sind sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit in ihren Teilkirchen“ (LG 23).



    Joseph Ratzinger kommentierte das damals als Professor in Münster so: „Die Kirche der Väterzeit … lebte in der Vielheit der verschiedenen Bischofskirchen, die in ihrem gegenseitigen Miteinander die eine Kirche aufbauten.“

    Daraus folgere ich: Je mehr wir als evangelische und katholische Ortskirchen zum Miteinander finden, desto mehr bauen wir an der einen Kirche Jesu Christi.

    Ich habe den Eindruck, dass wir dabei hier im Norden auf einem guten Weg sind. Ich habe aber auch den Eindruck, und sage Ihnen das freimütig, dass es oft gar nicht theologische Gründe sind, die unser Miteinander erschweren, sondern – ich sage mal mangels eines besseren Begriffs – konfessionelle Gefühligkeiten. Als ich davon einmal im Radio sprach, gab es viele Reaktionen darauf, zustimmende und ablehnende. Dabei konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass die ablehnenden Reaktionen meine These fast noch mehr bestätigten als die zustimmenden.



    Liebe Schwestern und Brüder, ich wünsche uns allen, dass wir im Zugehen auf das Jahr 2017 gemeinsam auf Jesus Christus hören und nach seinem Auftrag fragen.



    Für den Verlauf Ihrer Synode wünsche ich Ihnen von Herzen Gottes Segen. Möge das Wort Gottes Ihnen Inspiration und Kraft geben für Ihren Dienst.

  • Grußwort vor der Synode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands / Timmendorfer Strand / 02. 11. 2012
    Lieber Bruder Ulrich,

    für die Einladung zu Ihrer Synode und die Möglichkeit hier ein Grußwort zu sprechen danke ich Ihnen sehr.



    Eminenz, sehr geehrter Herr Kardinal Koch, lieber Mitbruder,

    sehr geehrter Herr Pfarrer Junge,

    sehr geehrte Damen und Herren Synodale,

    liebe Schwestern und Brüder,



    „Lutherische Kirchen auf dem Weg: Sichten auf das Reformationsjubiläum 2017“ – unter diesem Thema versammeln Sie sich hier in Timmendorfer Strand zu Ihrer Synode.



    „Kirchen auf dem Weg“ – diese Formulierung aus Ihrem Synodenthema hat sich mir sofort eingeprägt. Warum? Weil sie mich an eine Wendung erinnert, die im Zuge des 50-jährigen Jubiläums des 2. Vatikanischen Konzils oft zitiert wird: die pilgernde Kirche. Im Dekret über die Ökumene heißt es dazu: „So ist die Kirche (…) wie ein unter den Völkern erhobenes Zeichen. Indem sie dem ganzen Menschengeschlecht den Dienst des Evangeliums des Friedens leistet, pilgert sie in Hoffnung dem Ziel des ewigen Vaterlandes entgegen“ (Oek. 2).



    Pilgern und auf dem Weg sein: Die Konzilsväter vor fünfzig Jahren haben deutlich gemacht, dass dies auch für die Ökumene gilt. Im Ökumene-Dekret heißt es: „Jede Erneuerung der Kirche besteht wesentlich im Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung, und so ist ohne Zweifel hierin der Sinn der Bewegung in Richtung der Einheit zu sehen. Die Kirche wird auf dem Weg ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie allzeit bedarf“ (Oek. 6).



    Wenn die Konzilsväter von der „Treue gegenüber der eigenen Berufung“ sprechen, dann streichen sie etwas Wesentliches unseres gemeinsamen christlichen Glaubens heraus: Wir sind dazu berufen, in alle Welt zu gehen und das Evangelium zu verkünden. Dazu hat uns Christus berufen (vgl. Mt. 28, 18ff.). Der Weg unseres Pilgerns soll uns immer tiefer mit dieser Berufung verbinden. Unser Pilgerweg ist stets ein Weg zu „mehr Christus“, „mehr Einheit“, „mehr Verkündigung“.



    Als lutherische und katholische Gläubige sind wir gemeinsam unterwegs. Das erfahren wir hier im Norden oft und intensiv.



    Ich kann mit Freude sagen, dass wir in vielen Bereichen gemeinsame Schritte gehen. Das gilt für den liturgischen Bereich, für den spirituellen Bereich, das gilt auch im politischen und im sozialen Bereich. Gern nenne ich Ihnen einige Beispiele.



    Liturgisch verbinden uns hier im Norden die Nacht der Kirchen, Taizé-Andachten und ökumenische Gottesdienste, in besonderer Weise die großen Ansgarvespern.



    Spirituell verbindet uns in besonderem Maße die Verehrung der vier Lübecker Märtyrer. Dass drei katholische Kapläne und ein evangelischer Pastor innerhalb weniger Minuten als Zeugen für Christus den Tod erlitten haben, das prägt unser Beten und Handeln. Die Gemeinsamkeit der Lübecker Märtyrer im Sterben verpflichtet uns zur Gemeinsamkeit im Leben.



    Politisch kämpfen wir zu Zeit gemeinsam darum, dass der Sonntag als Weltkulturerbe der Menschheit nicht einem überbordenden wirtschaftlichen Denken zum Opfer fällt. Unser gemeinsamer Einsatz für den Sonntag ist uns wichtig, weil der Mensch mehr ist als Kaufen und Verkaufen.



    Und sozial schließlich bemühen wir uns miteinander in unseren Einrichtungen und Verbänden, für Arme und Kranke da zu sein, wohl wissend, dass wir in ihnen Christus selbst begegnen. Dasselbe gilt für den Arbeitskreis Asyl, für Notfallseelsorge und für vieles andere.



    Wir wissen uns auch den vielen Frauen und Männern anderer Konfessionen verbunden, die sich ebenfalls mit uns auf den Weg gemacht haben. Das Ökumenische Zentrum Hafencity in Hamburg, getragen von neunzehn christlichen Konfessionen, ist dafür ein schönes Zeichen.



    Auf Ihrer Synode gehen Sie gemeinsame Schritte in der Nachfolge Jesu. Von Herzen wünsche ich Ihnen dazu Gottes Segen. Gemeinsam mit den Gläubigen in unserem Erzbistum Hamburg begleite ich Ihren Weg mit meinem Gebet.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am Allerheiligentag / St.Marien-Dom Hamburg / 01. 11. 2012
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    jubelnder geht es nicht: neunmal hintereinander der Ruf „Selig seid ihr“ und als Ausrufezeichen dahinter: Freut euch und jubelt. Was für ein freudestrahlendes Evangelium!

    Ist das Phantasie? Ist das Utopie? Verkennen wir Christen die Wirklichkeit? Die Wirklichkeit des Todes? Die Bitterkeit des Sterbens?



    Sterben ist bitter. Der Tod tut so weh. Aber wer den Durchblick hat, wer weiter blickt als Sterben und Tod, der kann in Freude und Jubel des Evangeliums einstimmen.



    Die Lübecker Märtyrer, die konnten das: „In mir ist die große Freude der Hoffnung auf Gottes Güte“, schreibt Kaplan Prassek am Tag seiner Ermordung an Bischof Berning.

    „Heute kommt die größte Stunde meines Lebens“, schreibt Kaplan Lange an seine Eltern. Er meint die Todesstunde.



    Es passt gut zum Allerheiligentag, dass wir in dieser Feier das Kunstwerk von Frau Ricarda Wyrwol einweihen, das an die Lübecker Märtyrer erinnert.

    Die vier Viertel des Metallbandes machen deutlich: Hier geht es um alle vier Märtyrer, auch wenn drei katholisch und einer evangelisch war. Ihre Gemeinsamkeit im Tod verpflichtet uns zur Gemeinsamkeit im Leben.

    Der Kreis, der auch an eine Hostie erinnert, der Kelch, Symbol für Opfer und Heil zugleich, aber auch für Priester und Seelsorger, weisen auf den Auftrag der vier Geistlichen hin.

    Darüber das Fallbeil, das unten noch die Schärfe des Mordinstrumentes hat, wäh-rend es sich nach oben hin bereits auflöst: Tod, wo ist jetzt dein Stachel, Tod, wo ist jetzt dein Sieg?

    Wer den Durchblick des Evangeliums für sich einüben will, dem empfehle ich das stille Betrachten dieses Kunstwerks zu den vier Lübecker Märtyrern.



    Vor dem Segen am Schluss dieser Feier werden wir auch in die Krypta ziehen zur Segnung der Gräber. Erstmalig nicht nur zur Gräbersegnung unserer Weihbischöfe Johannes von Rudloff und Karl-August Siegel. Erstmalig auch zur Segnung der zwei Urnenbestattungen, die dort seit dem Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel erfolgt sind.

    Unsere Toten sind uns nahe. Sie gehören zu Christus, und wir gehören zu Christus. Christus ist die verbindende Mitte zwischen uns und unseren lieben Toten. Vor allem jetzt in der Feier der Eucharistie.



    Der Allerheiligentag heute und der Allerseelentag morgen richten unseren Blick auf Sterben und Tod. Aber wer mit den Augen des Glaubens schaut, wer den gläubigen Durchblick hat, der sieht hinter dem Vorläufigen das Ewige, hinter dem Sterben das Auferstehen, hinter dem Tod das Leben. Hoffnungsvoller, zuversichtlicher, jubelnder geht es nicht. Amen
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass der Einweihung des Erweiterungsbaus in Wilhelmstift / Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhmstift - Hamburg / 31. 10. 2012
    Sehr geehrte Frau Senatorin Prüfer-Storcks,

    sehr geehrter, lieber Herr Pfarrer Bonekamp -Kerkhoff,

    sehr geehrte Damen und Herren,



    heute weihen wir ein Gebäude ein, das viele Menschen, Eltern mit ihren Kindern, mit zwiespältigen Gefühlen betreten. Wer in den neuen Empfangs- und Notaufnahmebereich unseres Wilhelmstifts eintritt, der kommt mit Sorgen, mit Schmerzen und mit Ängsten: Was wird nun aus mir? Was passiert mit unserem Kind? Geht denn alles gut aus?



    Mit solchen schweren Gedanken kam ich am 1. Weihnachtstag im vergangenen Jahr hierher. Ein Kind hatte bei einer Krippenfeier schwere Brandverletzungen erlitten. Mit klopfendem Herzen und großer Sorge ging ich auf die diensthabende Schwester zu. Deren einfühlsame und professionelle Art half mir sehr dabei, mich innerlich zu beruhigen. Auch im Weiteren durfte ich erfahren, mit wie viel Zuwendung und ärztlicher Kunst für unsere kleine Patientin gesorgt wurde.



    Ich habe es selbst erlebt: Wir befinden uns hier nicht in irgendeinem Gebäude mit irgendeiner beliebigen Funktion. Wir weihen ein Gebäude ein, unter dessen Dach sich Menschen Heilung und Genesung erhoffen, zuerst am Leib, aber auch an ihrer Seele. Für diese Menschen und für alle Frauen und Männer, die hier arbeiten, erbitten wir Gottes Segen. Dieser Segen wird für jeden augenscheinlich durch das Kreuz, das schon heute in diesem Empfangsbereich hängt.



    „Gottes Herz in der Welt sein“ – das ist das Motto der Missionsschwestern aus Münster-Hiltrup, die bis heute das Leben unseres Krankenhauses prägen. „Gottes Herz in der Welt sein“ – das ist auch der Kernsatz des Leitbildes des Wilhelmstifts. „Gottes Herz in der Welt sein“ – die jungen und alten Menschen, die das neue Gebäude betreten, dürfen sicher sein, das hier jemand ein Herz für sie hat. Und dass Gott ein Herz für sie hat.

    Das Wilhelmstift wurde 1925 von Bischof Wilhelm Berning von Osnabrück von der Stadt Hamburg gekauft und unter der Leitung der Schwestern als Säuglingsheim weitergeführt. Mit den Jahren entwickelte sich das Heim zu einem Kinderkrankenhaus für den Hamburger Osten. Durch die mittlerweile erfolgte Spezialisierungen auf den Gebieten der Diabetologie, Handchirurgie, Behandlung von Schwerbrandverletzten, Neonatologie, Dermatologie und Gastroenterologie ist das Wilhelmstift heute auch jenseits der Tore Hamburgs sehr bekannt und anerkannt. Das zeigt sich auch daran, dass sich das Einzugsgebiet des Wilhelmstiftes in den letzten Jahren vergrößert hat und die Fallzahlen gestiegen sind.



    Gerade für ein Kinder- und Jugendkrankenhaus ist der Wettbewerb auf dem Gesundheitsmarkt eine große Herausforderung. Die erfolgte Spezialisierung ist eine Möglichkeit, gerade für diese jungen Menschen umfassende Hilfe und Leistungen anbieten zu können. So hat sich das Haus in den vergangenen Jahren immer weiter entwickelt und vergrößert. Nun ist es angebracht, dass auf diesen „inneren“ Modernisierungsprozess auch die äußere – bauliche – Erneuerung erfolgt. Ich bin Ihnen, Frau Senatorin Prüfer-Storcks, und Ihrer Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz sehr dankbar für Ihre große Unterstützung bei der Bewältigung der großen baulichen Veränderungen.

    „Gottes Herz in der Welt sein“ – ich wünsche unserem Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift auch weiterhin ein gutes Fortschreiten in die Zukunft, innerlich und äußerlich. Mögen alle kleinen und großen Menschen, die mit ihren Nöten hierher kommen und auch alle, die hier arbeiten, von dem großen und weiten Herz Gottes etwas erfahren dürfen. Ihnen allen gilt der Segen Gottes.
  • Morgenandachten von Erzbischof Werner Thissen: Glaube und Welt / Hamburg / 13. 10. 2012
    Der christliche Glaube erscheint oft wie ein Fremdkörper in der Welt. Das sollte sich auch durch das Konzil, dessen Jubiläum wir feiern, nicht ändern.

    Denn der Glaube lebt von einer Botschaft, die allein innerweltlich nicht erklärbar ist. Gott und Schöpfung, Erlösung und ewiges Leben – das alles wird durch Erklärungen zwar verstehbar. Aber es wird nicht plausibel im Sinn von Berechenbarkeit und Beweisbarkeit.

    Wer sich jedoch auf die Botschaft des Glaubens einlässt, wer persönliche Erfahrungen macht mit Gebet, Gottesdienst und Nächstenliebe, für den wird der Glaube kostbar und unverzichtbar. Trotz aller Schwächen und Mängel der Kirche, die diesen Glauben verkündet.



    Ich denke an unsere vier Lübecker Märtyrer. Als katholische und evangelische Seelsorger glaubten sie fest an das ewige Leben, so dass für sie sogar der gewaltsame Tod durch Hitlers Handlanger seinen Schrecken verlor.

    Es gibt Hinweise aus Briefen und Aufzeichnungen der vier Märtyrer auf ihre Weltsicht und Glaubenssicht.

    Als junge Leute liebten sie Natur und Kunst, die Schöpfung Gottes und das schöpferische Wirken der Menschen. Sie konnten sich begeistern für gemeinschaftliche Unternehmungen und wissenschaftliche Entdeckungen. Zugleich fanden sie in all dem Schönen und Erstrebenswerten der Welt aber auch Spuren auf dem Weg, der sie zum ewigen Leben führte.



    Deshalb konnte einer von ihnen wenige Stunden vor seiner Enthauptung in einem Abschiedsbrief schreiben: Ich freue mich auf das Leben nach dem Tod, auf die ewige Gemeinschaft mit Gott.

    Dabei vergaß er aber nicht zu erwähnen, dass ihm gerade noch ein Apfel geschmeckt hat und dass die Wunde an seinem Bein fast verheilt ist.



    Wie verhalten sich Welt und christlicher Glaube zueinander?

    Ich bewundere den technischen Fortschritt in der Welt. Ich sehe aber nicht, dass er den Hungertod von Millionen Menschen im Süden der Erde verhindert.

    Ich bewundere die zahlreichen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Ich sehe aber nicht, dass diese auch zu einem menschlicheren Miteinander führen.



    Mehr noch als Technik und Wissenschaft braucht die Welt den Glauben an die Liebe, welche die Welt verwandelt und zur Menschlichkeit des Menschen beiträgt.
  • Morgenandachten von Erzbischof Werner Thissen: Ortskirche und Weltkirche / Hamburg / 12. 10. 2012
    Beim II. Vatikanischen Konzil, das vor fünfzig Jahren begann, kamen erstmalig in der Geschichte der Kirche Bischöfe aus der ganzen Welt zusammen.

    Die Verteilung der Plätze im Petersdom richtete sich nach dem Datum ihrer Ernennung. So kommt es, dass Bischöfe nebeneinander sitzen, die vorher noch nie miteinander zu tun hatten. Sie kommen ins Gespräch, erzählen sich von ihren Bistümern, vereinbaren Besuche.



    Manche Freundschaften werden geschlossen, über Landesgrenzen und Kontinente hinweg. Und manche Partnerschaft zwischen armen und reichen Gebieten nimmt hier ihren Anfang. Wie nie zuvor entzündet sich auf dem Konzil das Bewusstsein, Kirche in der einen Welt zu sein. Was für eine Bereicherung! Und was für eine Verantwortung!

    Die zeigt sich zunächst ganz praktisch darin, dass Bischöfe aus den wohlhabenderen Ländern sich verpflichten, ihre Brüder und Schwestern in den Elendsgebieten selbstloser und nachhaltiger zu unterstützen.



    Aber auch der geistige Austausch in der Konzilsaula trägt wichtige Früchte. Es wird deutlich, dass es nicht nur eine europäisch geprägte Theologie gibt. Dass afrikanische oder indische Bischöfe Fragen der Gottesdienstgestaltung aus ihrer kulturellen Erfahrung heraus anders behandeln.



    Häufig fällt das Stichwort „Kirche der Armen“. Es soll darauf hinweisen, dass die Kirche an ihrem Ursprung arm war. Dass ihr Gründer ein einfacher Zimmermannssohn war und seine ersten Boten Fischer vom See Genezareth.

    Selbstkritisch kommt zur Sprache, wie stark sich die Kirche in manchen Epochen und Ländern mit den Reichen und Mächtigen verbündet hatte.

    Das Stichwort „Kirche der Armen“ beflügelte auch die Arbeit der kirchlichen Hilfswerke.



    Durch meine Tätigkeit für unser Entwicklungswerk „Misereor“ habe ich immer mal wieder in Ländern des Südens zu tun.

    Einmal passiert folgendes: Am Flughafen eines südamerikanischen Landes, in welchem ich noch nie zuvor gewesen bin, begrüßt mich der dortige Bischof mit den Worten: Lieber Bruder, willkommen zu Hause!



    Diese tatkräftige Verbundenheit über alle Ländergrenzen hinweg hat seit dem Konzil vor fünfzig Jahren einen enormen Aufschwung genommen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am 50. Gedenktag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils und zur Eröffnung des Jahres des Glaubens / St. Marien-Dom Hamburg / 11. 10. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    Bitten, Suchen, Anklopfen – die Aufforderung Jesu im Evangelium ist wie ein Dreiklang. Bitten, Suchen, Anklopfen – der Dreiklang ist zugleich ein Versprechen. Wer bittet, der empfängt. Wer sucht, der findet. Wer anklopft, dem wird geöffnet.



    Bitten, Suchen, Anklopfen – mit diesem Dreiklang lässt sich gut auf das Zweite Vatikanische Konzil schauen, das heute vor fünfzig Jahren in Rom begann.



    Wer bittet, der empfängt. Wenn ich das glaube, dann kann ich gar nicht genug bitten. Gemeinsam mit Ihnen bitte ich heute Abend darum, dass die Kirche noch viel stärker so sich entwickelt, wie das Konzil sie beschreibt.



    Da heißt es im Konzilstext Lumen Gentium über die Kirche: Sie ist Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit (LG 1). Ich sage es mit meinen Worten: Kirche steht für Einheit. Einheit des Menschen mit Gott und Einheit der Menschen untereinander.



    Aber wie schwer tun wir uns mit der Einheit. Mit Einheit in der Familie. Mit Einheit in der Kirche. Mit der Einheit der Christen. Mit der Einheit in Deutschland, in Europa, in der Welt!



    Christus hat der Kirche den Auftrag zur Einheit gegeben. Einheit mit Gott. Einheit mit Menschen. Was tue ich für diese Einheit? Was könnte, was möchte ich tun? Um welche Einheit bitte ich heute Abend besonders? Bittet, sagt Jesus, und ihr werdet empfangen.



    Aber was können wir Christen schon ausrichten, fragt das Konzil weiter. Wir sind doch oft nur wenige in der Kirche. Ja, antwortet das Konzil. Aber wir sind als Kirche Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils (11 LG 9).



    Kirche als Keimzelle – das spricht mich an. Das bedeutet doch: Die Keime der Einheit, die Christus in die Kirche gelegt hat, die können sich entfalten, die können wachsen und sich ausbreiten.



    Können sie das wirklich? Nein. Jedenfalls nicht automatisch. Aber wir als Getaufte und Gefirmte können Träger solcher Keimzellen sein. Wirklich? Ach, wie oft sind wir egoistisch und versündigen uns an der Einheit, weil wir nur an uns selbst denken. Aber wenn wir beseelt sind von der Aussage des Konzils, dass wir als Kirche Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils sind, dann lasst uns heute Abend intensiv darum bitten. Denn wer bittet, der empfängt.



    Wer sucht, der findet. In den Aussagen des Konzils über die Welt von heute lese ich: Es gibt immer mehr Menschen, die zu einer persönlichen Gottesbeziehung kommen. Und es gibt immer mehr Menschen, die das religiöse Leben praktisch aufgegeben haben (GS 7).



    Stimmt das auch heute? Wenn ich auf meine Verwandten und Freunde schaue, da sind in den vergangenen Jahrzehnten manche auf Abstand gegangen zur Kirche. Aber es gibt auch solche, die intensiver mit Christus und der Kirche leben.



    Wir suchen überall in der Kirche nach Möglichkeiten, die anzusprechen, die sich für religiös unbegabt halten. Dass sie ihre Sehnsucht nach Leben, die ja jeder Mensch hat, dort stillen, wo es allein möglich ist: bei Gott.



    Das Jahr des Glaubens, das wir mit Papst Benedikt heute eröffnen, ist die große Einladung: Lebe intensiver mit Gott! Unser Bistumsheft zum Jahr des Glaubens, das am Schriftenstand ausliegt, gibt dazu viele Hinweise.



    Schmerzlich erleben wir: Die Zeit der Volkskirche ist bei uns vorerst vorbei. Aber Gott ist nicht vorbei. Wir können ihn in unserem Leben suchen. Wer sucht, der findet.



    Und wer anklopft, dem wird geöffnet.



    Im Konzilstext über die Kirche lese ich: Durch Taufe und Firmung können und sollen alle Gläubigen wahre Zeugen Christi sein in Wort und Tat (LG 11).



    Dieses Thema findet sich in mehreren Konzilstexten: Die Würde und Aufgabe des Laien in der Kirche. Das Konzil ist da sehr präzise, wenn es formuliert: Es gibt einen wesensmäßigen Unterschied zwischen Priestern und Laien. Aber beide nehmen auf je besondere Weise teil am Priestertum Christi (LG 10).



    Dieses gemeinsame Priestertum aller Gläubigen haben wir in Deutschland bisher noch viel zu wenig praktiziert. Jetzt werden wir dazu gezwungen, weil die Zahl der Priester und Diakone bei weitem nicht mehr ausreicht.



    In den Pastoralen Räumen, von denen immer mehr sich entwickeln, bauen wir darauf, dass immer mehr Laien ihre Berufung erkennen und praktizieren. Klopfen Sie an bei Gott und fragen ihn: Gott, wozu berufst du mich? Wozu willst du mich gebrauchen, in meinem Alter, in meiner Lebenssituation, mit meinen Fähigkeiten? Die Bandbreite solcher Berufungen ist groß: vom Dienst des Gebetes, auch stellvertretend für andere, bis zum Auftrag in den Räten und Verbänden.



    Klopfen Sie an bei Gott. Wer anklopft, dem wird geöffnet. Und vielleicht haben Sie ja längst wahrgenommen, dass Gott auch bei Ihnen anklopft. So steht es doch im letzten Buch der Bibel, der Apokalypse: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“, sagt Gott (Offb. 3,20). Wer anklopft, dem wird geöffnet. Wir erwarten mit Recht, dass Gott uns öffnet. Aber Gott darf auch erwarten, dass wir ihm öffnen und ihn bei uns einlassen.



    Als Papst Johannes XXIII. das Konzil ankündigte, da widersprach er den Unglückspropheten, die immer nur Niedergang und Unheil voraussagen. Und die so tun, als ob in Kirche und Welt alles nur schlechter würde. Diese Unglückspropheten gibt es auch heute. Wir sollten ihnen nicht folgen. Folgen wir Papst Benedikt, der uns bei seinem Besuch vergangenes Jahr in Freiburg zurief: „Ich spüre, dass so viel Lebendiges, so viel gläubige Freude da ist, dass wir getrost sein können und wissen: Die Kirche lebt, und sie hat Zukunft.“



    Sie hat Zukunft, so füge ich hinzu, weil uns Jesus versprochen hat, dass wir empfangen, wenn wir bitten, dass wir finden, wenn wir suchen, dass uns geöffnet wird, wenn wir anklopfen. Amen
  • Morgenandachten von Erzbischof Werner Thissen: Tradition und Erneuerung / Hamburg / 11. 10. 2012
    Das Konzil, das heute vor fünfzig Jahren feierlich eröffnet wurde, stand unter der Überschrift „Erneuerung der Kirche“. In einem Konzilstext heißt es: Die Kirche „soll sich unter der Führung des Heiligen Geistes unaufhörlich erneuern.“

    Unaufhörlich – das bedeutet doch: Auch heute. Und weiter im Text des Konzils: Die Kirche hat „die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten.“

    Damit sind die beiden Spannungspole genannt, die zu jeder Zeit bei Erneuerung der Kirche zu beachten sind: Auf der einen Seite die Zeichen der Zeit. Auf der anderen Seite die Botschaft Jesu.



    Wie spannungsreich das sein kann, dafür gibt es viele Beispiele. Ich nenne die kirchliche Eheschließung. Es gehört zu den Kennzeichen unserer Zeit, dass auch viele kirchlich geschlossene sakramentale Ehen scheitern.

    Die Kirche kann nicht die Unauflöslichkeit der Ehe preisgeben. Denn sie ist biblisch begründet.

    Die Kirche kann aber auch nicht die preisgeben, deren Ehe gescheitert ist und die eine neue Verbindung eingehen. Denn gerade sie brauchen ja die Stärkung durch die Sakramente.



    Der kürzlich verstorbene Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini sagt in einem Interview drei Wochen vor seinem Tod: „Die Frage, ob Geschiedene (und Wiederverheiratete) die Kommunion empfangen können, muss umgedreht werden. Wie kann die Kirche durch und mit den Sakramenten zur Hilfe für schwierige Familiensituationen werden?“

    Wie lassen sich bei solchen und anderen Fragen eine getroffene menschliche Entscheidung und die Botschaft des Glaubens in eine lebbare Praxis bringen?

    Und das unter Beachtung der Mahnung des Apostels Paulus: „Gleicht euch nicht der Welt an“? (Röm 12,2)



    Auch um solche Fragen ringen wir, wenn es um die Erneuerung der Kirche geht.

    Im gegenwärtigen Dialogprozess versuchen wird, diesen Fragen nachzugehen, auf einander zu hören und nach Lösungen zu suchen, die den Menschen unserer Zeit und der Botschaft des Evangeliums gerecht werden.

    Genauso, wie es das Konzil formuliert hat: Die Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten.
  • Morgenandachten von Erzbischof Werner Thissen: Trennung und Einheit / Hamburg / 10. 10. 2012
    Ein wichtiges Thema vor fünfzig Jahren auf dem ökumenischen Konzil in Rom galt der Einheit der Christen.

    Wir haben die volle Einheit immer noch nicht erreicht. Aber es ist seitdem viel Richtiges und Wichtiges in Bewegung gekommen.



    Zunächst wurde damals mit Erstaunen vermerkt, dass zum Konzil Theologen aus anderen Kirchen eingeladen wurden. Man lernte sich kennen und schätzen und entdeckte Gemeinsamkeiten. Immer mehr setzte sich die Erkenntnis durch: Wer die Bibel gemeinsam hat, hat unendlich viel gemeinsam. Diese Gemeinsamkeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten reich entfaltet: Gemeinsame Bibelgespräche, gemeinsame Wortgottesdienste, gemeinsame gesellschaftliche Aktivitäten sind selbstverständlich geworden.



    Umso mehr schmerzt die Wunde der Trennung bei der Eucharistie. Aber in achtsamer gegenseitiger Wertschätzung werden wir auch hier einander näher kommen.

    Manchmal habe ich den Eindruck, dass die gefühlte Trennung sogar stärker ist als die theologische. Etwa wenn Unterschiede in Brauchtum oder religiösen Übungen als befremdlich erfahren werden. Dabei können sie bei wohlwollender Betrachtung eine Bereicherung sein.



    Eine hilfreiche ökumenische Gewissensfrage lautet: Freue ich mich über einen Erfolg der Schwesterkirche und leide ich mit ihr bei Schwierigkeiten?

    Dann bleibt für antiökumenische Gefühligkeiten kein Platz.



    Werden wir die volle Einheit von katholischer und evangelischer Kirche noch erleben, werde ich manchmal gefragt.

    Sicher nicht in der Weise, dass eine Kirche sich der anderen einfach anschließt. Auch nicht so, dass eine Kirche für sie Wesentliches aufgibt und dadurch ein falscher Kompromiss zustande kommt.



    Auf dem Konzil wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Kirche in ihrer Frühzeit in einer Vielheit der verschiedenen Bischofskirchen lebte. In ihrem Miteinander bauten sie die eine Kirche auf. Das könnte ein Denkmodel auch heute sein.



    Vor fünfzehn Jahren haben die evangelische Bischöfin Maria Jepsen und unser katholischer Weihbischof Hans-Jochen Jaschke ein Gebet formuliert, welches ich täglich bete. Darin heißt es: „Gott, lass uns lebendig erfahren, dass wir zusammengehören.“

    Diese Erfahrung wünsche ich uns immer intensiver.
  • Morgenandachten von Erzbischof Werner Thissen: Persönlich und gemeinsam / Hamburg / 09. 10. 2012
    Das II. Vatikanische Konzil, dessen 50jähriges Jubiläum wir in diesen Tagen feiern, spricht oft vom Volk Gottes. Die Kirche, so heißt es dort, ist das pilgernde Gottesvolk auf dem Weg durch die Zeit.



    Gehören Sie gern zu solch einem Volk? Schließlich leben wir in einer Zeit des ausgeprägten Individualismus. Kritik am Gemeinschaftlichen steht hoch im Kurs, egal ob Parteien, Gewerkschaften, Verbände oder eben auch die Kirchen gemeint sind.



    Wer bin ich als Einzelner im Volk Gottes, der Kirche, ich ganz persönlich?

    Am Anfang meines Christseins, in der Taufe, werde ich bei meinem Namen genannt. Wie jedes Sakrament meint die Taufe den Einzelnen als einmalige Person.



    Zugleich aber ist die Taufe die Aufnahme in die Gemeinschaft der Glaubenden. Die Spannung zwischen persönlich und gemeinsam, ich und wir, meinem Gewissen und den Aussagen der Kirche prägen meinen Glaubensweg im Volk Gottes.



    Es hat Zeiten in der Kirche gegeben, in denen der Einzelne mit seinem Gewissen, mit seiner persönlichen Entscheidungsbefugnis, mit seiner ihm eigenen Verantwortung zu sehr abhängig war von Weisungen und Vorschriften.

    Einer, der beim Konzil dabei gewesen ist, formuliert das so: „Das Konzil wollte das Bild der Kirche als einer Zweiklassengesellschaft und damit den darin herrschenden Klerikalismus überwinden.“



    Heute besteht eher die Gefahr, dass ein Individualismus überhand nimmt, welche den Weisungen im Volk Gottes gar keine und den eigenen Überlegungen alle Autorität zuspricht.

    Ich muss als Mitglied des Volkes Gottes meine persönlichen Entscheidungen treffen. Aber ich bin gut beraten, dabei an den Spielregeln im Volk Gottes Maß zu nehmen.



    Aber auch die persönliche Verantwortung des Einzelnen für das ganze Volk Gottes ist auf dem Konzil betont worden. Vorbei die Zeiten, wo man meinen konnte, allein die Geistlichen sind für alles zuständig.



    Seit dem Konzil ist wieder klar: Jede Getaufte, jeder Gefirmte steht auf eigene Weise mit in der Verantwortung.

    Der Apostel Paulus sagt: „Es gibt verschiedene Dienste . . . der Heilige Geist befähigt in der Gemeinde jeden einzelnen“ (vgl. 1 Kor 12,5).
  • Morgenandachten von Erzbischof Werner Thissen: Fragen und Suchen / Hamburg / 08. 10. 2012
    Was ist denn mit der Kirche los?



    So fragten sich vor fünfzig Jahren erstaunt viele Menschen am Beginn des II. Vatikanischen Konzils. Statt Vorschriften und Verurteilungen die Einladung zum gemeinsamen Suchen nach Lebenssinn und Lebensfülle.



    Wie kann ich mein Leben lebendiger, intensiver, dankbarer führen?

    Das berührt die Frage nach Gott. Und auch die Frage nach dem Woher und Wohin meines Lebens.

    Die Kirche kann mir Gott nicht auf dem Tablett präsentieren. Aber sie kann mir aus der Bibel und aus ihrer zweitausendjährigen Erfahrung vermitteln, wie ich mit Gott leben kann.

    Und zwar ganz konkret: Im persönlichen Gebet. Im gemeinschaftlichen Gottesdienst. In Taten der Liebe. Auch dann bleibt Gott für mich Geheimnis. Aber ein Geheimnis, das meinem Leben Format und Weite gibt.

    Und was ist mit meinen Zweifeln? Die Zweifel an einem guten Gott, die genährt werden durch unfassbare Katastrophen und furchtbare Einzelschicksale? Die Zweifel, die mir kommen angesichts so widersprüchlicher Aussagen in den unterschiedlichen Religionen und Konfessionen? Die Zweifel, die mich befallen auch wegen der Fehler und Versagen in der Kirche selbst?



    Der Zweifel ist der dunkle Bruder des Glaubens. Er bewahrt mich vor falscher Sicherheit. Auch vor Aberglauben. Er stößt mich aber immer wieder auch auf meine Kräfte der Sehnsucht, des Vertrauens und der Zuversicht.

    Ich wecke diese Kräfte und mache sie mir bewusst, wenn ich bete: Gott, mein Gott bist du, in Sehnsucht suche ich dich. Meine Seele dürstet nach dir. Nach dir schmachtet mein Leib, wie dürres lechzendes Land ohne Wasser (Ps 63).



    Sympathisch ist mir die Aussage des Konzils, dass die Kirche als Kirche auf dem Weg nicht auf jede Frage schon eine fertige Antwort hat. Dass sie alle zum Gespräch einlädt.

    Dialog ist zu einem wichtigen kirchlichen Stichwort geworden. Davon ist auch unser Dialogprozess angeregt worden, den wir zurzeit in unseren Bistümern führen.

    Ich bin sicher, dass wir im Hören aufeinander viel gewinnen können an Lebensfreude und Lebensfülle.
  • Brief von Erzbischof Dr. Werner Thissen an die Gemeinden im Erzbistum Hamburg zum Jahr des Glaubens / Hamburg / 07. 10. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg,



    in einer Erzählung von Franz Kafka treibt sich ein Mensch jahrelang vor einer Tür herum. Er will unbedingt eintreten und versucht es immer wieder. Aber da ist ein anderer, der steht vor der Tür und verwehrt ihm den Zutritt. Wie ein Kontrolleur vor einem Tanzlokal. Nach langer Zeit beendet der Türwächter diesen Vorgang mit den Worten: „Diese Tür war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe sie.“



    „Tür des Glaubens“ – das ist ein wichtiges Stichwort für Papst Benedikt in seiner Botschaft zum Jahr des Glaubens. Jeder Mensch ist eingeladen, durch diese Tür hindurchzugehen. Aber wie in Kafkas Erzählung gibt es Hindernisse, die das Durchschreiten der Glaubenstür erschweren oder gar unmöglich machen.



    Können Sie sagen, was es Ihnen schwer macht, Ihren Glauben froh und dankbar zu leben?



    Manche Erfahrung wird Ihnen in den Sinn kommen. Es gibt so viel Menschliches in der Kirche, auch Unzulängliches und Sündhaftes. Das können Hindernisse für den Glauben sein.



    Aber soll ich mir die Freude am Glauben dadurch verderben lassen? Ich lasse mir doch auch nicht die Freude am Sport verderben, nur weil es dort Ereignisse und Mitspieler gibt, die mich stören.



    Entscheidend ist doch: Gott bietet mir seine Gemeinschaft an.



    Und wie geht das? Mit dieser Frage wenden sich schon die Menschen im Evangelium an Jesus. Dessen Antwort gilt auch heute. Jesus sagt: „Das ist das Werk Gottes, dass ihr glaubt“ (vgl. Joh 6,29).



    In diesem kurzen Satz Jesu stecken zwei Hinweise.



    Der erste Hinweis: Mein Glaube ist gar nicht mein Werk, sondern das Werk Gottes. Ich kann meinen Glauben nicht machen. Er ist Geschenk Gottes an mich.



    Der zweite Hinweis: So sehr es richtig ist, dass der Glaube Werk Gottes ist, Geschenk ist, Gnade ist, so sehr gilt auch: Ich habe die Freiheit, Ja oder Nein zu sagen zu diesem Geschenk. Ich kann es annehmen oder ablehnen.



    Wenn ich es richtig wahrnehme, ist der persönliche Glaube an Gott fast das letzte Tabu in unserer Gesellschaft. Viele, auch intime Fragen, werden in Talkshows an die Öffentlichkeit gezerrt. Wenn es um den Glauben an Gott geht, herrscht oft peinliches Schweigen. Oder über den Glauben wird in verzerrter Weise gesprochen.



    Vielleicht liegt es daran, dass der Glaube an die tiefsten Bereiche des Menschen rührt. An die Frage nach seinem Woher und Wohin, nach Sinn und Ziel der Existenz, nach dem Vergänglichen und nach dem Bleibenden im Leben.



    Es hat wohl auch damit zu tun, dass der Glaube nie abgehakt werden kann, nie erledigt ist. Der Glaube ist ein Weg mit Höhen und Tiefen, mit quälenden Verunsicherungen und mit seliger Gewissheit. Anders als ein mathematischer Beweis oder ein physikalisches Experiment ist der Glaube nie abgeschlossen solange das Leben dauert.



    Ich finde den Glauben an Gott auch deshalb so faszinierend, weil er nicht nach einem Teilbereich fragt, sondern nach dem Ganzen des Lebens. Das gehört für mich zum Menschen unbedingt dazu.



    Kürzlich sagte mir jemand: „Ach wissen Sie, Glaube und Kirche haben zurzeit keine Konjunktur“. Vielleicht hat er Recht.



    Aber ich will ja meinen Glauben nicht dem unterwerfen, was gerade Mode ist. Gewiss gingen vor Jahren mehr Menschen zu den Sakramenten. Auch das Ansehen der Kirche war größer. Aber soll ich davon meinen Glauben abhängig machen?



    Das Jahr des Glaubens, das am 10. Oktober 2012 mit dem fünfzigjährigen Jubiläum des Konzils beginnt, ist eine Einladung an Sie, auf Ihren persönlichen Glaubensweg zu schauen. Dazu gebe ich Ihnen abschließend sieben Hinweise.



    1. Ähnlich wie eine Freundschaft Gespräch und Begegnung braucht, so braucht der Glaube das Gebet und die Sakramente.



    2. Der Glaube zielt auf eine positive Lebenseinstellung. Gott will an hellen und auch an dunklen Tagen an unserer Seite sein. Wer glaubt ist nicht allein.



    3. „Der Glaube ohne Werke ist tot“, heißt es in der Bibel (vgl. Jak 2,17). An welchen Taten können andere ablesen, dass ich ein gläubiger Mensch bin?



    4. Glauben verlangt nach Wissen. Mit dem fünfzigjährigen Konzilsjubiläum feiern wir auch das zwanzigjährige Jubiläum der Katechismus. Papst Benedikt nennt ihn „eine der wichtigsten Früchte“ des Konzils. Inzwischen gibt es ihn auch in einer jugendgemäßen Ausgabe.



    5. Dem persönlichen Glauben tut auch gemeinsames Sprechen über Glaubensfragen gut. In unserem Dialogprozess kommen wir über die Fragen des Glaubens ins Gespräch, die Sie in den vergangenen Monaten eingereicht haben.



    6. Auch außerhalb unserer Gemeinden gibt es viele Möglichkeiten, den Glauben einzuüben. Auf diese möchte ich Sie hinweisen.



    7. Es gibt zum Jahr des Glaubens viele Anregungen und Veranstaltungen. Mir liegt daran, dass Sie darüber informiert sind.





    Zu diesen sieben Punkten finden Sie im Bistumsheft zum Jahr des Glaubens weiterführende Anmerkungen.



    Liebe Schwestern, liebe Brüder, ich lade Sie ein, das Jahr des Glaubens so mitzufeiern, dass sich Ihr Glaube weiter entfalten kann. Ich wünsche Ihnen die Erfahrung, welch unvergleichliche Lebensqualität unser Glaube für Sie bereithält.



    Es gibt Ihre ganz persönliche Tür zum Glauben. Sie gilt es zu durchschreiten. Auch wenn da manchmal wie in der Erzählung von Franz Kafka Hindernisse sind, die Sie davon abhalten wollen.



    Von Herzen wünsche ich Ihnen, dass Sie die Tür durchschreiten und dass dabei Ihre Freude am Glauben wächst.



    Ihr Erzbischof + Werner
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im Jubiläumsgottesdienst von Bibel-TV / Hamburg / 22. 09. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    vor einer Woche haben wir in Hamburg die Nacht der Kirchen gefeiert. Es ist jedes Jahr das größte ökumenische Fest, das ich kenne.



    Als ich um Mitternacht unseren Mariendom verließ, sprach mich jemand an. Er sagte: „Heute gab es mal wieder volle Kirchen. Aber sonst haben Kirche und Glaube in unserer Zeit keine Konjunktur.“



    Als ich ihn fragend anschaute, fügte er hinzu: „Früher waren die Kirchen voller. Heute muss man sich ja fast schämen, sich als Christ in der Öffentlichkeit zu bekennen.“



    Mir fällt auf, dass vorhin in der Lesung aus dem 2. Timotheusbrief das Wort „schä-men“ auch vorkommt. Offenbar gab es schon unter den frühen Christen solche, die sich ihres Christseins schämten. Sie schämten sich, weil die Reichen, die Angesehenen, die Mächtigen nicht zur Gemeinde der Christen gehörten. Und weil sie oft eine Minderheit waren.



    Im Gespräch mit jungen Leuten höre ich immer wieder: „Wir sind die einzigen, die in der Kirche mitmachen. Wir sind in der Klasse und in der Clique Außenseiter als Christen.“ Sie sagen nicht: Wir schämen uns dafür. Aber besonders selbstbewusst klingen ihre Worte nicht.



    Allen, die als Christen Minderwertigkeitskomplexe haben, ruft der 2. Timotheusbrief auch heute zu: Schäme dich nicht, dich zu unserem Herrn zu bekennen.



    Und der Bibeltext gibt auch gleich eine dreifache Begründung dazu:



    Erste Begründung, warum wir als Christen selbstbewusst auftreten können:

    Gott hat uns den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit gegeben.

    Davon bin ich überzeugt, dass Gottes Geist jeden Menschen stark machen kann, der dafür offen ist. Und der diese Offenheit praktiziert im Gebet, im Gottesdienst und in Taten der Liebe.

    Geist der Besonnenheit: Wir spüren es in diesen Tagen überdeutlich in der Welt, dass nicht religiöser Fanatismus, sondern religiöse Besonnenheit uns weiterhilft.



    Zweite Begründung, warum wir als Christen selbstbewusst auftreten können:

    Wir haben uns unsere Bereitschaft für Christus nicht ausgedacht. Wir haben sie auch nicht erarbeitet oder verdient. Dass wir zu Christus gehören, ist Geschenk. Wer aber einmal die Lebensqualität des christlichen Glaubens entdeckt hat, der kann das nicht für sich behalten. Der fühlt sich gedrängt, auch anderen davon mitzuteilen.



    Dritte Begründung, warum wir als Christen selbstbewusst auftreten können:

    Christus hat dem Tod die Macht genommen und das Licht des unvergänglichen Lebens gebracht durch das Evangelium. So heißt es in unserem Bibeltext.

    Unvergängliches Leben – wenn ich das glauben kann. Und zwar, dass es wirklich um Leben geht. Also nichts Langweiliges. Nicht eine Zeit, die sich endlos dehnt. Sondern lebendiges Leben in immer sich erneuernder Gemeinschaft mit Gott.

    Das ist die Botschaft. Die brauchen wir Menschen. Diese Botschaft sollen alle erfahren.



    Wenn das so ist, dann muss ich mich jetzt doch selbst korrigieren. Wir brauchen als Christen gar kein Selbstbewusstsein. Selbstbewusstsein baut auf eigene Kraft. Wir brauchen Christusbewusstsein. Wir brauchen das Bewusstsein: Christus lebt, und wir können mit ihm leben. Dann entfaltet sich in uns sein Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.



    So sagt es uns die Bibel heute. Und Bibel-TV sagt es in den vielen Sendungen durch zehn Jahre hindurch.



    Vielleicht wäre Paulus heute Mitarbeiter bei Bibel-TV. Auf jeden Fall aber wüsste Paulus zu schätzen, dass Bibel-TV seine Erfahrungen mit Christus zu den Menschen trägt. Und wir als Kirchenleute wissen es auch zu schätzen. Deshalb danke ich Bibel-TV herzlich für die viele gute Arbeit.



    Ob die Kirche dann Konjunktur hat oder nicht, ist nicht so entscheidend. Entscheidend ist, dass immer mehr Menschen die Botschaft der Bibel erfahren. Und zwar so, dass sie darauf persönlich antworten können. Antworten können im Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Amen
  • Begrüßung von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf dem Festakt zur Errichtung der erzbischöflichen Stiftung „Lübecker Märtyrer" / Rathaus zu Lübeck / 19. 09. 2012
    Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Schlie,

    sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin Schopenhauer,

    sehr geehrte Damen und Herren,

    liebe Schwestern und Brüder,



    herzlich begrüße ich Sie zu unserem Festakt anlässlich der Errichtung der Stiftung „Lübecker Märtyrer“!



    Die Errichtung der Stiftung „Lübecker Märtyrer“ gehört zu den vielen Wirkungen, die wir seit dem 24. und 25. Juni 2011 erfahren können. Die Seligsprechung und das ehrende Gedenken, das wir im letzten Jahr gemeinsam gefeiert haben, wirken dabei wie ein Brennglas. Es bündelt alles Gedenken, das sich mit Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink seit 1943 verbindet. Und von dem 24. und 25. Juni 2011 gehen wiederum viele Initiativen aus, die das Gedenken an die Märtyrer in unserer Zeit aktuell machen.



    Um deutlich zu machen, welche Rolle die Stiftung im zukünftigen Gedenken einnehmen kann, möchte ich folgende Punkte aus der Stiftungsurkunde nennen:



    • Die Stiftung hat die Aufgabe, das den Lübecker Märtyrern gewidmete spirituelle, liturgische und ökumenische Gedenken zu pflegen und fortzuentwickeln.

    • Der Nachlass der vier Märtyrer soll aufgearbeitet werden.

    • Für eine ständige Ausstellung bei der Pfarrei Herz Jesu hier in Lübeck wird gesorgt.

    • Die Stiftung leistet einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit jeglicher Gewaltherrschaft, historisch und aktuell.

    • Sie führt religiöse und politische Bildungsarbeit durch, mit dem Ziel die Gerechtigkeit in Politik und Gesellschaft zu stärken.

    • Publikationen zu den vier Märtyrern werden veröffentlicht.

    • Mit Öffentlichkeitsarbeit wird das Vermächtnis der Lübecker Märtyrer im Bewusstsein der Kirchen und der Gesellschaft gehalten.

    Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink sind Märtyrer der Kirchen. Sie sind gleichzeitig aber auch Zeugen für eine menschenfreundliche, gerechte und friedensfördernde Politik.



    Unsere Stiftung ist eine kirchliche Stiftung. Ich bin dankbar, dass wir in der Stiftung unseren Auftrag gemeinsam mit dem Bistum Osnabrück ausführen dürfen und heiße Domdechant Silies als Vertreter aus Osnabrück herzlich willkommen. Ebenso wichtig wie der kirchliche Auftrag ist aber der öffentliche, gesellschaftliche Auftrag der Stiftung. Auch dieser ist ihr in die Wiege gelegt, weshalb auch mit Herrn Stephan Richter eine Person aus dem öffentlichen Leben im Stiftungsrat vertreten ist.

    Besonders hervorheben möchte ich folgenden Punkt: Wenn wir die Erinnerung an die Lübecker Märtyrer und das, wofür sie stehen, wach halten wollen, dann müssen wir das Interesse der jungen Menschen wecken. Ihnen wollen wir nicht eine abstrakte Erinnerungskultur, sondern eine gelebte Erinnerungspraxis hinterlassen. Eine Praxis, die Jugendliche dazu befähigt, Erinnerung zu praktizieren als Verantwortung für die Gegenwart.

    Denn junge Menschen sind es, die in Zukunft den Weg unserer Gesellschaft bestimmen werden, in Politik, Wirtschaft und in der Kirche. Sie müssen dazu ermutigt werden, es den vier Märtyrern gleich zu tun und Verantwortung für ihre Mitmenschen zu übernehmen, auch wenn dies nicht immer gesellschaftlich anerkannt wird. So lege ich der Stiftung die Arbeit mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen besonders ans Herz.

    Die Arbeit mit jungen Menschen für eine menschenfreundliche, gerechte und friedliche Zukunft unserer Gesellschaft ist eine Aufgabe, die vom ökumenischen Geist beseelt sein muss. Daher ist mir folgender Satz aus der Stiftungsurkunde besonders wichtig: „Die Wahrnehmung der Aufgaben der Stiftung erfolgt in ökumenischer Verbundenheit.“ Ich freue mich, dass der ökumenische Akzent sich auch in der Besetzung des Stiftungsrates ausdrückt und Frau Pröpstin Kallies in diesem Mitglied ist.



    Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist wunderbar, dass wir heute gemeinsam die Errichtung unserer Stiftung „Lübecker Märtyrer“ feiern dürfen. Ich wünsche allen, die in ihren Gremien mitarbeiten werden Gottes Segen. Mein herzlicher Dank gilt schon heute denen, welche der Stiftung ihr Vertrauen entgegenbringen und sie in Zukunft unterstützen werden. Und in meinem Gebet denke ich an all die vielen Menschen, jung und alt, die zukünftig von den Initiativen der Stiftung erreicht werden.

  • Erzbischof Dr. Werner Thissen: Würdigung des Buchs von Martin Thoemmes „’Sag niemals drei sag immer vier’“ / Rathaus zu Lübeck / 19. 09. 2012
    Die errichtete Stiftung ist ein wichtiger Schritt, das Gedenken an die Märtyrer wachzuhalten. Das gleiche gilt auch für das Buch von Martin Thoemmes „’Sag niemals drei sag immer vier’“. Herr Thoemmes kann heute leider nicht mit uns sein.



    Sein Buch hat sozusagen eine etwas ältere Schwester, nämlich den Band „Geführte Wege“ von Peter Voswinkel, der im Jahr 2010 erschien. Das eine Buch – aufgelegt vor der Seligsprechung und dem ehrenden Gedenken – blickt vorwiegend auf das Leben und das Umfeld von Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink bis zu deren Ermordung am 10. November 1943. Dieses Datum wählt Martin Thoemmes als den Beginn für seinen Bericht.



    Der Untertitel von Martin Thoemmes Buch offenbart, um was es dem Autor geht: „Das Gedenken an die Lübecker Märtyrer von 1943 bis heute“. Thoemmes beginnt seine Darstellung mit der zwar erwartbaren, aber trotz allem erschütternden Nachricht des Todes der Märtyrer an die ihnen Nahestehenden: Familie, Mitbrüder im geistlichen Dienst, Freunde, Gemeindemitglieder. Auch wenn die nationalsozialistischen Behörden alles unternahmen, um die Hinrichtung der Märtyrer geheim zu halten, so verbreitete sich die Nachricht doch schnell. So erschien am 13. November 1943, also drei Tage nach der Ermordung, eine Todesanzeige in der Stadt Leer, in welcher die Familie Lange ihrem „Sohn, Bruder, Schwager und Neffe“ Hermann Lange gedachten. Sie erinnerten an ihn mit den Worten: „Er lebte und starb für Gott“. Dieser Satz gilt für alle vier Märtyrer gleichermaßen.



    Martin Thoemmes schildert, wie mit dem Tag des Märtyrertods von Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink das Gedenken einsetzt. Thoemmes schreibt weiter davon, wie Schritt für Schritt dieses Gedenken an die Vier in Lübeck und darüber hinaus Fuß fasste. Es wuchs ein immer dichter werdendes Gewebe von Erinnerung, Verehrung und Gedenken. Das drückte sich aus in Gottesdiensten, Publikationen, Initiativen.



    Der Ausspruch von Adolf Ehrtmann, einem der Mitgefangenen der vier Geistlichen, „Sag niemals drei, sag immer vier“ gibt dem Buch von Martin Thoemmes seinen Titel. Martin Thoemmes spricht ohne zu Zögern die konfessionellen Unterschiede im Gedenken der Märtyrer an. Er macht aber auch sehr deutlich, wie diesen Unterschieden zum Trotz stets an einem Gedenken fest gehalten wurde. Bis hin zum 24. und 25. Juni 2011. Bis heute.

    Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil – aus der Feder Martin Thoemmes – schildert im historischen Verlauf lebhaft die Fortentwicklung des Gedenkens von 1943 bis 2011 und gewährt auch einen Blick in die Zukunft. Diese Fortentwicklung ist stets verbunden mit ganz konkreten Personen, Frauen und Männern, die vielen hier gut bekannt sind bzw. waren. Waren, weil viele Zeitzeugen inzwischen verstorben sind, was das Buch von Thoemmes umso wertvoller macht.



    Der zweite Teil des Buchs enthält Textdokumente, die bislang zum Teil schwer zugänglich waren und nun in einem Band vereinigt sind. Wir werden gleich Auszüge aus einem dieser Texte – einer Predigt von Pfarrer Behnen aus dem Jahr 1946 – hören.



    Ich bin Martin Thoemmes sehr dankbar für all die geduldige Arbeit, die er in sein Buch investiert hat. Seine Mühe hat sich sehr gelohnt. Ihm gelten unsere herzlichen Segenswünsche. Ich darf Sie alle zur Lektüre seines Buchs ermuntern.

  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen bei der Answeruswallfahrt / Answeruskreuz bei Ratzeburg / 09. 09. 2012
    Liebe Wallfahrerinnen und Wallfahrer,



    haben Sie schon gehört: Borussia Dortmund und Bayern München steigen aus der Bundesliga ab. Wer das behauptet, der wird nicht ernst genommen. Die Ersten sollen die Letzten sein, das gibt es nicht.



    Manchmal gibt es das wohl. Im Radsport jetzt gerade. Wenn einem, der des Dopings überführt wird, alle Titel aberkannt werden. Da wird der Erste plötzlich Letzter.



    Und in den Augen Jesu gibt es das auch. Er sagt das wörtlich: Erste werden Letzte sein und Letzte Erste. Warum ist das so? Weil Jesus andere Wertmaßstäbe hat. Nicht die Wertmaßstäbe des Sports. Nicht die Wertmaßstäbe des Casting. Nicht die Wertmaßstäbe des Finanzamtes. Sondern die Wertmaßstäbe Gottes.



    So sagt es auch das Leitwort unserer Wallfahrt: Hat Gott nicht die Armen auserwählt, um sie durch den Glauben reich zu machen.



    Drei Konsequenzen finde ich wichtig.



    1. Konsequenz

    Gott hat andere Wertmaßstäbe. Deshalb kann ich keinen Menschen geringschätzen. Schon gar nicht diejenigen, die nach weltlichen Maßstäben weniger gelten. Diejenigen, die keine Ehrenplätze bekommen, die nicht im Internet vorkommen, von denen es keine Hochglanzfotos in den Illustrierten gibt. Jeder Mensch hat Würde, will Jesus uns sagen. Auch der Kranke. Auch der Behinderte. Auch der, der nichts oder wenig leisten kann. Ja gerade an denen wird deutlich, dass menschliche Würde nicht in Leistung besteht, nicht in Reichtum, nicht in Ansehen. Menschliche Würde besteht darin, dass der Mensch Geschöpf Gottes ist.



    Hat Gott nicht die Armen auserwählt, um sie durch den Glauben reich zu machen?



    2. Konsequenz

    Niemand zeigt seine Armut gern. Jeder möchte sich von seiner besten Seite zeigen. Ok. Aber wenigstens mir selbst will ich nichts vormachen. Wenigstens vor mir selbst will ich meine Bedürftigkeit eingestehen. Meinen Hunger nach Anerkennung. Meinen Hunger nach Gemeinschaft. Meinen Hunger nach dem Sinn meines Daseins. Manchmal bin ich in Gefahr, meinen Hunger auf falsche Weise zu stillen. Durch Prahlerei, dadurch, dass ich anderen etwas vormache, gar nicht mein wahres Gesicht zeige, mich hinter einer Maske verstecke. Das Eingeständnis meiner eigenen Bedürftigkeit hilft mir, andere Bedürftige, andere Arme wertzuschätzen, mich nicht über sie zu erheben.



    Hat Gott nicht die Armen auserwählt, um sie durch den Glauben reich zu machen?



    3. und letzte Konsequenz

    Ich soll also doch reich werden. Ja, aber nicht reich durch Geld oder Sachen. Sondern reich durch den Glauben. Habe ich mir das überhaupt schon einmal bewusst gemacht, dass mein Glaube ein Reichtum ist? Oft ist der Glaube Pflicht. Oft ist der Glaube Gewohnheit und Tradition. Oft ist der Glaube, wenn er praktiziert wird, lästig. Worin besteht denn der Reichtum des Glaubens? Zum Reichtum des Glaubens gehört: Ich bin nie allein. Ich habe in Gott immer einen Ansprechpartner. Und wenn es richtig läuft, habe ich auch in Glaubensbrüdern- und Schwestern Ansprechpartner. Für einen Glaubenden dreht sich das Leben nicht im Kreis. Für einen Glaubenden hat das Leben ein Ziel. Reichtum meines Glaubens – kann ich das so sehen?



    Damit ich es so sehen kann, halte ich mich an ein einziges Wort im Evangelium. Sie erinnern sich, der Taubstumme. Und Jesus sagt zu ihm: Ephata, öffne dich. Das sagt er auch zu dir und zu mir: Öffne dich für den Reichtum deines Glaubens. Öffne dich für die Gemeinschaft mit Gott. Öffne dich für die Gemeinschaft mit Menschen. Sei offen für das, was Gott dir heute schenken will. Dann gehörst du heute nicht zu den Absteigern. Dann gehörst du heute zu den Aufsteigern. Nicht trotz deiner Bedürftigkeit, sondern wegen deiner Bedürftigkeit. Amen
  • Begrüßung von Erzbischof Dr. Werner Thissen anlässlich des Medienempfangs 2012 / Hamburg / 05. 09. 2012
    Sehr geehrte Damen und Herren,



    herzlich begrüße ich Sie zu unserem Medienempfang. Wir feiern ihn aus Anlass des 46. Welttages der Sozialen Kommunikationsmittel.



    Als wir vor einigen Monaten die Gestaltung des heutigen Abends festlegten, da war die Brisanz und Aktualität, die das Thema Blasphemie Anfang September haben würde, nicht absehbar. Wir haben das Thema ausgewählt, nachdem im Thalia-Theater das Stück „Golgatha Picnic“ aufgeführt worden war. Weniger das Stück als vielmehr die Reaktionen der Öffentlichkeit wurden damals von den Medien aufgegriffen. Unser heutiger Referent, Pater Hermann Breulmann, stellte sich der Diskussion mit dem Ensemble, Vertretern des Thalia-Theaters und der Öffentlichkeit. Schon das wäre Stoff genug für unseren heutigen Abend gewesen.



    Es kam aber anders: Der Schriftsteller Martin Mosebach und der Philosoph Robert Spaemann haben im Verlauf des Sommers das Thema der Blasphemie aufgegriffen und unter anderem deren Strafverfolgung angemahnt. An dem Beispiel des Prozesses gegen die russische Gruppe „Pussy Riots“ wurde uns dann deutlich gemacht: Wenn vermeintliche Blasphemie zu einem Gegenstand des politischen und juristischen Schlagabtausches wird, dann tut das unserer Gesellschaft langfristig nicht gut. Klamauk auf Kosten der religiösen Gefühle anderer begegnet man am besten mit Gelassenheit, mit präzisen Argumenten und der Einladung, den Gegenstand der Parodie einmal richtig kennen zu lernen.



    Anders liegen die Dinge vielleicht bei der Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Auch hierzu werden wir uns sicher im weiteren Verlauf des Abends austauschen. Das gilt auch für andere aktuellen Themen, die etwa mit dem Stichwort „Vatileaks“ verbunden sind.

    Auf jeden Fall danke ich Pater Breulmann sehr, dass er heute Abend zu uns sprechen wird. Herzlich willkommen!



    Unmittelbar nach unserem letzten Medienempfang hat Papst Benedikt Deutschland besucht. Persönlich habe ich den Besuch als einen großen Gewinn empfunden. Auch für die Ökumene mit unseren evangelischen und orthodoxen Schwestern und Brüder. Im nichtöffentlichen Teil der ökumenischen Begegnung im Erfurter Augustinerkloster hat der Papst ausführlich die ökumenische Arbeit gewürdigt und ermutigt, immer intensiver nach der gemeinsamen Wahrheit zu suchen. Ich freue mich, dass die Ökumene bei uns im Norden so tragfähig ist. Das zeigen wir in der kommenden Woche wieder mit der gemeinsamen Nacht der Kirchen hier in Hamburg. Und am 19. September errichten wir die ökumenische Stiftung Lübecker Märtyrer. Den heutigen Aufruf „Ökumene jetzt“ fasse ich daher als Ermutigung für das gemeinsame Engagement mit den evangelischen und orthodoxen Mitchristen hier im Norden auf.



    Ich habe mich gefreut, dass über die Eröffnung unseres Kolumbariums im Mariendom so ausführlich in den Medien berichtet wurde. Wir scheinen damit ein Thema angegangen zu haben, das viele Menschen bewegt: Wie können wir auch in Zukunft eine mit unserem Glauben und unseren Werten zu verantwortende Gedenkkultur pflegen? Ich bin zuversichtlich, dass die Gestaltung und Einweihung unseres Kolumbariums hier Standards setzt und zum Nachdenken anregt.



    Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Termin hinweisen. In diesem Jahr feiern wir das 50-jährige Jubiläum der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dieses Konzil prägt unsere Kirche seit fünfzig Jahren durch und durch. Katholisch sein heißt heute, das II. Vatikanische Konzil als Richtschnur des kirchlichen Lebens zu bejahen. Dabei mag für Sie interessant sein: Das Konzil war ein Medienereignis ersten Ranges. Daran erinnert eine Veranstaltung in unserer Katholischen Akademie am 20. September, zu der ich Sie herzlich einlade. Das wird dann auch einer der letzten Anlässe sein, zu denen unsere Akademie die Türen öffnen wird. Ab Anfang kommenden Jahres wird das Ensemble am Herrengraben umfassend saniert.



    Ich freue mich, dass Pater Hagenkord von Radio Vatikan heute den Weg hierher gefunden hat. Im letzten Jahr verhinderte ein Streik sein Erscheinen. Herzlich willkommen!

    Sehr geehrte Gäste, lieber Pater Breulmann. Ich wünsche uns allen einen anregenden Abend.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel und zur Einweihung des Kolumbariums / St. Marien-Dom Hamburg / 15. 08. 2012
    Liebe Gemeinde,



    das passt gut zusammen: die Feier der Aufnahme Mariens in den Himmel und die Einweihung der Begräbnisstätte hier unter dem Altarraum des Mariendomes.



    Von Maria bekennen wir: All das Gute in ihrem Leben, all die Verbundenheit, die sie mit Jesus Christus in ihrem irdischen Dasein hatte, all das ist für immer selig aufgehoben bei Gott. Kein anderer Mensch hatte diese innige Beziehung zu Jesus Christus wie Maria zu ihrem Sohn. Kein anderer Mensch hat sich hingebungsvoller dem Auftrag Jesu unterworfen als Maria. Die Wandbilder, die seit der Renovierung unseres Mariendoms wieder sichtbar sind, machen das anschaulich.



    Ich nenne Ihnen kurz die einzelnen Darstellungen. Maria erfährt: Du sollst Mutter des Gottessohnes werden. Und Maria sagt Ja. Du sollst glauben, dass dein Kind in der Krippe von Bethlehem der Herr der ganzen Welt ist. Und Maria sagt Ja. Du sollst vor der weltlichen Macht des Herodes nach Ägypten fliehen. Und Maria sagt Ja. Du sollst selbst unter dem Kreuz noch daran glauben, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Und Maria sagt Ja. Dieses immer wieder neu herausgeforderte Ja-Wort Mariens machen die Bilder deutlich. Dieses Ja Marias gegen allen äußeren Anschein führt zum Ja Gottes in der Krönung Mariens, wie es das Mosaik in der Apsis des Domes darstellt. Weil Maria Ja sagt zum Willen Gottes auf dem Weg ihres Lebens, deshalb kann Gott Ja zu ihr sagen am Ziel ihres Lebens. Das feiern wir an diesem Festtag.



    Aber wir feiern noch mehr. Denn was von Maria in besonderer Weise gilt, gilt für jeden Menschen: Wer Ja sagt zu Gott auf dem Weg, zu dem sagt Gott Ja am Ziel. Wer Ja sagt zu Gott in der Zeit, zu dem sagt Gott Ja in der Ewigkeit.



    Unser Apsismosaik zeigt Maria am Ziel in der Ewigkeit. Der vorherrschende Goldton macht deutlich: Hier geht es nicht nur um ein Ende auf Erden. Hier geht es um Vollendung bei Gott. Und genau dieser Goldton wird in der Krypta, die nun Begräbnisstätte wird, wieder aufgenommen. Dadurch soll anschaulich werden: Nicht Ende, sondern Vollendung erbitten, erhoffen und erwarten wir gläubig für unsere Toten, die wir hier bestatten.



    Damit sind Fragen verbunden. Eine Frage, die mir häufig gestellt wird, lautet: Ist für katholische Christen die Feuerbestattung überhaupt erlaubt?



    Die Frage ist berechtigt. Denn es gab Zeiten, wo sie tatsächlich verboten war. Der Grund: Feuerbestattung wurde als Kampfmittel gegen die Kirchen eingesetzt, als faktische Leugnung von Auferstehung und ewigem Leben. Diese Konfrontation spielt heute keine Rolle mehr. Folglich gibt es auch heute nicht mehr das kirchliche Verbot der Feuerbestattung.



    Weil das so ist und weil in Hamburg ähnlich wie in anderen Großstädten 70 % der Verstorbenen eine Feuerbestattung erfahren, hat sich unser Domkapitel für die Urnenbestattung in der Krypta des Domes stark gemacht. Wir holen auf diese Weise unsere Toten vom Rande der Stadt wieder ins Zentrum. Wir beleben wieder den frühkirchlichen Brauch, dass die Heilige Messe über den Gräbern der Verstorbenen gefeiert wird. Das ist nicht nur ein Dienst an den Verstorbenen. Das ist auch ein Dienst an den Trauernden. Denn wer den Tod nicht verdrängt, der gibt dem Leben Raum. Die Hinwendung zu unseren Toten hilft uns zum Leben.



    Denn wir glauben an die Auferstehung der Toten. Wir glauben an die Auferstehung des ganzen Menschen mit Leib und Seele.



    Mit dem Auferstehungsleib meinen wir nicht eine Wiederherstellung des irdischen Leibes. Gemeint ist vielmehr, dass alles, was sich im Leib des Menschen ausgedrückt hat, in seine Auferstehung eingeht: alle menschliche Verbundenheit, alle Beziehung zur Welt, alle irdische Erfahrung. Bewältigt, gereinigt und verklärt bleibt es für die Ewigkeit.



    Und mit Seele ist gemeint die Offenheit des Menschen für Gott. Die Seele ist das Organ, mit dem sich der Mensch von Gott ansprechen lässt und mit dem er auf das Ansprechen Gottes, auf den Anspruch Gottes antwortet. Unsterbliche Seele bedeutet dann: Alles, was sich zwischen Mensch und Gott während des irdischen Lebens abgespielt hat, bleibt gereinigt, vollendet und verklärt erhalten. So werden wir mit Leib und Seele auferstehen. So glauben wir an die Auferstehung der Toten.



    Darüber freuen wir uns mit dem Magnifikat, dem Preislied Mariens im Evangelium heute. Dazu passt gut die Aussage des Apostels Paulus in der zweiten Lesung, dass in Christus alle lebendig gemacht werden. Dazu passt gut der große Ausblick in der ersten Lesung, wo es heißt: Jetzt ist der da, der rettende Sieg, die Macht und die Herrschaft unseres Gottes. Amen.
  • Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen aus Anlass der Eröffnung des Ökumenischen Forums Hafencity / Ökumenisches Forum Hafencity / 18. 06. 2012
    Sehr geehrte Damen und Herren,

    liebe Schwestern und Brüder,



    das eine Haus verlassen wir, in das andere ziehen wir. In unserer mobilen Zeit fast schon ein alltäglicher Vorgang: Menschen ziehen an einem Ort aus, um an einem anderen Ort wieder einzuziehen. Sie packen Kisten und noch mehr Kisten. Sie entdecken dabei Gegenstände aus der Vergangenheit: Photos, Tagebücher, Briefe, Milchzähne der Kinder. Davon werden sie an ihre eigene Geschichte erinnert. An die Menschen ihres Lebens. An Weinen. An Lachen. Ist die alte Wohnung leer geräumt drängen sich Fragen auf: Was nehme ich innerlich von hier mit? Was hat mich geprägt? Wie geht es weiter?

    Das Leben und Wirken des Ökumenischen Forums „Brücke“ in der Hafencity hatte in den letzten Jahren einen vorläufigen Charakter. Es war ein Provisorium. So wie diese Kapelle. Das erinnert mich an Paulus: Ich strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt (Phil 3, 13). Das kirchliche Leben hier in der Hafencity war in der Vergangenheit so ein Ausstrecken nach dem, was vor uns liegt.



    Dabei wurde die Gegenwart aber keineswegs vergessen. Hier, an Ort und Stelle, wurde gebetet, gesungen und geschwiegen. Die vier Mitglieder des Laurentius-Konventes haben Wohnungen bezogen. So waren sie den Bürgerinnen und Bürgern im Stadtteil nahe. Gottesdienste wurden im Stadtteil gefeiert. Menschen aller Konfessionen kamen zusammen, um Projekte und Ideen zu verwirklichen. Schließlich wuchs das Haus an der Shanghaiallee heran, und aus Vorläufigkeit wurde mehr und mehr eine tiefe Verwurzelung. Dafür danke ich den vielen Engagierten sehr herzlich!



    Das was war und das was kommen wird zeigt, was wir ökumenisch gemeinsam erreichen können. Das Ökumenische Forum Hafencity macht deutlich: Ökumene ist nicht die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Ökumene heißt Hören und Zuhören. Es heißt, sich seiner selbst und sich Gottes Auftrags zu vergewissern. Es bedeutet auch die Fähigkeit, sich von der Wahrheit des Evangeliums verändern zu lassen. Es heißt, sich gemeinsam nach dem ausstrecken, was vor uns ist. Da nehmen wir auch Jahre der Planung und der Vorarbeit in Kauf. Heute sehen wir ganz deutlich: Ökumenische Gemeinschaft kann Großes leisten: für die Kirche, für die Stadt, für die Gesellschaft. Gelebte Ökumene ist ein starkes Zeichen für alle Menschen, die sich für unsere Welt Versöhnung und Gemeinschaft wünschen.



    Der Umzug heute – Abschied hier und Ankommen dort – verbindet uns mit den vielen Menschen, bei denen die Vorläufigkeit nie aufzuhören scheint. Den Menschen in einem Flüchtlingslager in Nordkenia. Den Frauen und Männern, die hier nach Deutschland fliehen, um anschließend an Flughäfen festgehalten zu werden. Den Familien in Hamburg, die von Generation zu Generation nicht von der Vorläufigkeit von Hartz-IV Zahlungen wegkommen.

    Das führt mir klar vor Augen: Wir haben uns in den vergangenen Jahren ausgestreckt nach der baulichen Fertigstellung des Ökumenischen Forums. Wir sind aber noch lange nicht am Ende angelangt. Vielmehr gilt Paulus’ radikaler Anspruch weiter: „Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung, die Gott uns in Christus Jesus schenkt.“ (Phil 3, 13f.)



    Christen werden sich nie mit dem Erreichten zufrieden geben. Nicht, weil sie Perfektionisten sind. Wir geben uns nicht zufrieden, weil in uns und um uns herum noch viele Baustellen sind. Vorläufiges und Abbruchreifes. Wir geben uns nicht zufrieden, weil Gottes Frieden und Gerechtigkeit unter uns immer noch aussteht. Und: Wir strecken uns weiterhin aus, da wir wissen und glauben, dass kein Haus und keine Stadt der Welt uns die letzte Heimat sein wird.
  • „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie“ - Ansprache aus Anlass der konstituierenden Sitzung des Landtages Schleswig-Holstein / Kiel / 05. 06. 2012
    Sehr geehrte Mandatsträgerinnen und Mandatsträger,

    Schwestern und Brüder,

    liebe Gemeinde,



    „Suchet der Stadt Bestes“



    Der Satz weckt Bürgersinn in uns. Jeder wird ihn auf die eine oder andere Weise bejahen können. Wenn Sie nicht der Stadt und des Landes Bestes suchen wollten, hätten Sie sich nicht zur Wahl gestellt. In der kommenden Legislaturperiode wollen Sie durch Ihr Handeln beweisen, dass Sie in der Tat das Beste für unser Land suchen.



    Dafür werden Sie lange Sitzungen in Kauf nehmen, viele Abendtermine, umfangreiches Aktenlesen, unzählige Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern. Das alles ist äußerst dankenswert.



    Es ist dankenswert, wenn der entscheidende Maßstab für Ihr Handeln nicht persönlicher Ergeiz ist, nicht Parteiräson, nicht irgendein Gruppeninteresse, sondern das Beste für unser Land.



    Aber was ist das Beste für unser Land? Gibt es darüber eine Übereinstimmung? Da wird es auch Kompromisse geben müssen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Wo ist die Grenze für Kompromisse? Die Grenze signalisiert Ihr Gewissen. Wer unterstützt Sie bei der Suche nach verantworteter Gewissenentscheidung? Ob Sie sich manchmal sehr allein vorkommen?



    Politikerinnen und Politiker stehen im Kreuzfeuer öffentlicher Kritik. Dank erfahren sie wenig. Forderungen, was Sie alles tun sollen, erfahren Sie viel. Aber wer Sie gewählt hat, hat seine Verantwortung nicht einfach abgegeben. Ihre Wählerinnen und Wähler sollen Sie weiter unterstützen. Denn der Aufruf „Suchet der Stadt Bestes“ richtet sich nicht nur an Sie. Er richtet sich an uns alle.



    Suchet der Stadt Bestes – der Satz geht weiter: Und betet für sie.



    Der Satz ist Jahrtausende alt. Und er ist hochaktuell. Denn menschliches Machen und Planen kommt an Grenzen. Zu jeder Zeit.



    Ich finde es bemerkenswert, dass es im Landtag von Schleswig-Holstein einen Andachtsraum gibt. Aber nicht nur das. Es gibt dort auch Gottesdienste. Wenn ich dabei sein konnte, habe ich erlebt, dass Abgeordnete der Regierung und der Opposition dort gemeinsam auf Gottes Wort hören und gemeinsam beten. Wenn uns die gemeinsame Verantwortung vor Gott bewusst ist, egal, welche Aufgabe wir haben, dann suchen wir der Stadt Bestes. Das findet in den Gottesdiensten im Landtag deutlich Ausdruck.



    Suchet der Stadt Bestes, sucht Schleswig-Holsteins, Deutschlands, Europas Bestes – sucht der Welt Bestes – wo sind da eigentlich Grenzen?



    Ein Beispiel. Wir sind im Norden stolz auf unsere Schiffe. Die Seefahrt hat uns Wohlstand gebracht. Aber vor dem Horn von Afrika werden unsere Schiffe immer wieder von Seeräubern bedroht. Also besorgen wir uns bewaffneten Schutz für die Schiffe. Manchmal hilft das. Aber gelöst wird das Problem dadurch nicht. Denn solange die Menschen in Somalia nichts zu Essen haben, solange auf deren Gebiet nicht ausreichend Nahrungsmittel angebaut werden können und solange wir dabei nicht tatkräftig mithelfen, werden unsere Schiffe immer wieder überfallen werden. Unsere globalisierte Welt braucht globalisiertes Handeln, braucht die Globalisierung der Nächstenliebe. So ist die Politik in Schleswig-Holstein stets auch mit dem verwoben, was anderswo auf der Welt passiert.



    Sie werden in der nun beginnenden Legislaturperiode Entscheidungen treffen, die für das Land Schleswig-Holstein und weit darüber hinaus wichtig sein werden. Gleichzeitig vertrauen Sie darauf, dass viele Menschen mittun, um das Land voranzubringen. Durch ein Ehrenamt. Durch politischen, sozialen oder kirchlichen Einsatz. Durch das Engagement für Natur und kulturelles Leben. Wenn wir heute Gottesdienst feiern, dann wollen wir auch an diese Menschen denken. Auch die suchen der Stadt Bestes.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im ZDF-Gottesdienst am Pfingstsonntag / St. Josef/St. Lukas Kirche zu Neubrandenburg / 27. 05. 2012
    Liebe Gemeindemitglieder hier in Neubrandenburg,



    liebe Schwestern und Brüder am Fernsehen,



    kürzlich sagte ich bei einem Besuch im Rheinland: Pfingsten gibt es im Fernsehen eine Gottesdienstübertragung aus Neubrandenburg. Da meinte jemand: Das ist doch frühere DDR. Dort gibt es doch kaum Christen.



    Er hatte offenbar Medienberichte im Kopf. Diese hatten mit Recht darauf hingewiesen, weltweit lebten im Osten Deutschlands die meisten Menschen, welche auf die Frage: Glauben Sie an Gott, antworten: Nein.



    Tatsächlich haben wir hier in unserem Bistumsteil Mecklenburg nur knapp vier Prozent Katholiken. Siebzehn Prozent gehören der evangelischen Kirche an.



    Wem Zahlen genügen, der weiß jetzt Bescheid.



    Wer aber genauer hinschaut, dem fällt manches auf.



    Mir fällt auf, dass in unserer Region Mecklenburg, also im Osten, prozentual mehr Menschen den Sonntagsgottesdienst mitfeiern als im Westen, in Hamburg und Schleswig-Holstein.



    Mir fällt auf, dass viele Familien mit ihren Kindern zum Gottesdienst kommen.



    Jetzt zu Pfingsten, am Tag der Renovabis-Kollekte für Menschen in Mittel-, Ost- und Südeuropa fällt mir: Bei den Kollektenergebnissen der letzten Jahre stehen wir in Mecklenburg wie auch in den anderen Teilen der früheren DDR jeweils ganz am Ende der Spendenskala. Wenn es um die absoluten Summen geht. Wir stehen aber an der Spitze, wenn es um das Spendenaufkommen pro Kopf der Gottesdienstteilnehmer geht.



    Immer wieder begegne ich im Ostteil unseres Erzbistums Hamburg Menschen meiner Generation, die über ihre Erfahrungen in der Diktatur berichten. In der Hitlerdiktatur und vor allem in der Diktatur des Kommunismus.



    Dass sie als Christen nicht studieren durften.



    Dass sie als politisch unzuverlässig ausgegrenzt wurden, weil sie der Jugendweihe fernblieben.



    Ich merke in solchen Gesprächen, was ich davon lernen kann an Glaubensstärke und Frömmigkeit.



    Glaubensstärke und Frömmigkeit sind Gaben des Heiligen Geistes. Gaben sind es, also Geschenke, nicht etwas, was ich mir erobern oder erarbeiten kann. Geschenke kann ich nur erbitten. Deshalb steht ja an diesem Pfingsttag im Mittelpunkt der Gebetsruf: Komm, Heiliger Geist.



    Gern schlage ich Ihnen dazu eine kleine Gebetsübung vor. Machen Sie diese drei Worte „Komm, Heiliger Geist“ zu Ihrem ständigen Begleiter. Sie werden dabei wahrnehmen, wie sich Ihr Denken, Reden und Handeln verändert, und zwar positiv.



    Ich meine das so: Sobald Sie im Laufe des Tages daran denken, sprechen Sie in Gedanken diese drei Worte „Komm, Heiliger Geist“. Für mich ist das zu einer kostbaren Gebetserfahrung geworden.



    Denn „Heiliger Geist“ bedeutet ja: Gott ist von heute. Er ist immer da, immer anrufbar. So wie mein Atem immer wieder neu strömt, so ist Gott immer wieder neu Gegenwart. Geist und Atem haben im biblischen Urtext sogar dieselbe Bezeichnung.



    Im Gespräch mit Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen, fällt mir auf, wie fern ihnen solche Gedanken an Gott sind. Ich habe daraus gelernt, was bereits der Prophet Jeremia verkündet. Dort sagt Gott: „Bin ich denn nur ein naher Gott und nicht auch ein ferner Gott?“ (Jer 23,23).



    Dann wird mir wieder neu bewusst: Gott ist das absolute Geheimnis, von dem ich in solchen Gesprächen oft nur stammelnd und unbeholfen sprechen kann.



    Aber ich erfahre in solchen Gesprächen auch, dass die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen, und die Frage, was das Leben eines Menschen überhaupt soll, dass solche Fragen auch von einem Atheisten auf Dauer nicht unterdrückt werden können.



    Und dann merke ich wieder, was das an Lebensqualität bedeutet, angesichts solcher Fragen nicht orientierungslos zu sein. Der Gebetsruf: Komm, Heiliger Geist, schenkt Orientierung.



    Jeder Mensch ist wie eine offene Frage. Jeder Mensch ist wie eine offene Wunde. Manchmal muss die Frage geweckt werden. Manchmal muss der Finger auf die Wunde gelegt werden. Aber weit mehr noch muss die Frage ernst genommen und die Wunde verbunden werden. Das erfordert nicht die Überheblichkeit des Wissenden. Das erfordert die Achtsamkeit des Glaubenden. Und das Eingeständnis, dass auch der glaubende Mensch durchaus Fragen und Wunden kennt.



    Ich öffne mich möglichen Antworten auf meine Fragen, ich öffne mich möglichen Heilmitteln für meine Wunden, wenn ich so bete: Komm, Heiliger Geist.



    Wir täten uns leichter als Christen im Osten wie im Westen, wenn wir schon weiter wären auf dem Weg der Einheit. Manche glauben nicht an die Einheit der Christen. So wie viele vor Jahren auch nicht an die politische Einheit Deutschlands geglaubt haben. Die Einheit ist ein Herzensanliegen Jesu. Die Einheit wird kommen, und zwar umso schneller, je mehr wir uns an Jesus Christus halten. Und uns dem Wirken seines Geistes öffnen.



    In den Bundesländern Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern vereinen sich heute drei evangelische Landeskirchen. In dem evangelischen Vereinigungsgottesdienst in Ratzeburg und in unserem katholischen Gottesdienst hier in Neubrandenburg bitten wir, räumlich getrennt und geistig verbunden: Komm, Heiliger Geist! Komm, du Geist der Einheit! Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen bei der Feier der Priesterweihe / St. Marien-Dom / 26. 05. 2012
    Liebe Weihekandidaten, verehrte Angehörige und Freunde,

    liebe Gemeinde,



    es ist guter Brauch, dass die Weihekandidaten sowohl bei der Diakonenweihe als auch bei der Priesterweihe die biblischen Texte selbst auswählen.



    Nun fällt mir auf, dass bei der Diakonenweihe vor zwei Monaten dasselbe Evangelium ausgewählt wurde wie heute. Und auch bei früheren Weihehandlungen in den vergangenen zehn Jahren ist öfter dieser Abschnitt aus dem Johannesevangelium gewählt worden. Was ist an diesen Worten Jesu so ansprechend, dass sie so gern ausgewählt werden?



    Das fünfzehnte Kapitel des Johannesevangeliums ist ein klassischer Beziehungstext. Jesus sagt: So wie ich zum Vater intensive Beziehung habe, so habe ich auch zu euch intensive Beziehung. Zu euch: Angesprochen sind die Jünger damals. Zu euch: Angesprochen sind die Jünger heute, alle, die Jesus nachfolgen. Das meint der Satz: Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt.



    Etwas von dieser intensiven Beziehung haben unsere Weihekandidaten erfahren, sonst hätten sie den Ruf nicht wahrnehmen und darauf antworten können. Aber offenbar ist Jesus bewusst, dass Beziehung etwas Lebendiges ist. Dass Beziehung sich verändert. Beziehung ist mal intensiver und mal schwächer. Beziehung ist Wandlungen unterworfen. Das wissen wir aus menschlicher Beziehung. Das gilt auch für die Beziehung zu Gott.



    Da legt sich die Frage nahe für jeden und jede für uns: Was hat sich in letzter Zeit gewandelt in meiner Beziehung zu Jesus Christus? Ist meine Beziehung zu ihm intensiver geworden oder schwächer? Haben sich die Ausdrucksformen meiner Beziehung zu ihm verändert? Oder herrscht Funkstille zwischen uns, weil ich mich von seinem Wort nicht ansprechen lasse und folglich auch nicht angemessen antworten kann im Gebet?



    Weil Jesus weiß, dass Beziehung etwas Lebendiges, Veränderliches ist, sagt er: Bleibt in meiner Liebe.



    Bleiben ist heutzutage kein sehr positiv besetztes Wort. Das hört sich so an nach sitzen bleiben, stecken bleiben. In unserer Gesellschaft schätzt man mehr lockere Veränderungen. Das gilt für Partnerschaften, berufliche Tätigkeiten, Wohnsituationen. Auch im Leben der Jünger Jesu, im Leben aller, denen Christus viel bedeutet, wird sich immer wieder manches verändern, und auch die Beziehung zu Jesus Christus kennt ihre Höhen und Tiefen. Aber die Beziehung soll nicht abgebrochen werden, sie soll bleiben. Das ist gemeint mit der Aufforderung: Bleibt in meiner Liebe.



    Und dann wird es ja sehr praktisch, was der Gradmesser dafür ist, ob wir in seiner Liebe bleiben. Denn dann kommt im Evangelium die sehr nüchterne Feststellung: Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe. Damit sind nicht nur die zehn Gebote gemeint. Damit ist der Auftrag gemeint, den jeder Mensch in unterschiedlicher Weise von Gott bekommt.



    Von Alma Mahler der Frau des Komponisten Gustav Mahler, der ja sechs Jahre auch hier in Hamburg gewirkt hat, gibt es eine Aussage, die in diesem Zusammenhang wichtig ist. Alma Mahler sagt sinngemäß: „Ich glaube, dass ein Mensch sehr wohl erkennen kann, was in seinem Leben wichtig ist. Aber er muss auf seine innere Stimme hören können.“



    Wir stehen in einer Zeit der Kirche, wo vieles im Umbruch ist. Wie wird der priester-liche Dienst im Pastoralen Raum aussehen? Wie wird es mit dem christlichen Glauben in unserer Gesellschaft weitergehen? Da gibt es viele Fragen, auf die wir gemeinsam Antworten suchen. Das waren ja auch Themen auf dem Katholikentag in Mannheim vor einer Woche. Bei allem Fragen und Suchen gibt es einen festen Anker. Nämlich das Wort Jesu: Bleibt in meiner Liebe. So sehr wir den Aufbruch wagen wollen wie Abraham in der Lesung vorhin und wie es ja auch das Leitwort des Katholikentags nahe legt, so sehr ist es wichtig, in seiner Liebe zu bleiben.



    Um auf die innere Stimme zu hören, von der Alma Mahler spricht, ist geistliches Tun unverzichtbar. Bei Besuchen im Pfarrhaus fällt mir auf, wie unterschiedlich die Wohnungen eingerichtet sind. Da haben viele ihren ganz persönlichen Stil. Wie steht es aber mit dem persönlichen Stil im Spirituellen? Was ist mein persönlicher Gebetsstil? Natürlich gibt es Gebetsformen, die uns allen gemeinsam sind. Aber es soll auch für jeden einzelnen einen ganz persönlichen geistlichen Stil geben. Welche Gebetsformen ich persönlich besonders schätze? Was mein persönliches Beten charakterisiert? Können Sie Ihren persönlichen geistlichen Stil benennen? Können Sie ihn weiterentwickeln? Haben Sie jemanden, mit dem Sie darüber reden können? Das alles ist wichtig, um in seiner Liebe zu bleiben?



    Dann können wir auch heute in all den Mühen der Veränderung erfahren, was wir vorhin im Kolosserbrief hörten: Wie reich und herrlich dieses Geheimnis ist: Christus ist unter euch, er ist die Hoffnung auf Herrlichkeit.



    Unsere Zeit tut sich schwer mit Geheimnissen. Auch mit dem Geheimnis des Glau-bens. Geheimnisse darf es nach Meinung vieler gar nicht mehr geben. Höchstens Rätsel, die man lösen kann. Aber das ist ja das Charakteristische des Geheimnisses: Man kann ein Geheimnis nicht lösen wie ein Rätsel. Mit einem Geheimnis kann man behutsam umgehen, mit einem Geheimnis kann man leben, und so seinen Inhalt, seinen Gehalt, seine Tiefe erfahren. Aber es bleibt Geheimnis.



    Das gilt auch für das Geheimnis, von dem der Kolosserbrief spricht: „Christus ist unter euch.“ Im geistlichen Umgehen mit diesem Geheimnis in Gebet, Betrachtung, Besinnung mache ich Erfahrungen damit, wie reich und herrlich dieses Geheimnis ist.



    Jetzt bei der Priesterweihe am Tag vor Pfingsten nähern wir uns diesem Geheimnis intensiv, wenn wir beten: Komm, Heiliger Geist. Amen.
  • Briefe des Erzbischofs an die leitenden Bischöfe der Evangelischen Kirche in Norddeutschland / Hamburg / 22. 05. 2012
    Lieber Bruder Ulrich,



    am diesjährigen Pfingstsonntag werden sich die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs und die Pommersche Evangelische Kirche zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland vereinen.



    Im Namen aller Gläubigen aus unserem Erzbistum wünsche ich Ihnen und Ihren Schwestern und Brüdern von Herzen Gottes Segen zu diesem großen Ereignis!

    Ich bin mir sicher: Von diesem Pfingstfest geht ein starkes Signal aus. Die Vereinigung der drei evangelischen Kirchen stärkt die missionarische und diakonische Präsenz der Kirche in unserem Land. Von der Vereinigung verspreche ich mir, dass Jesus Christus für die Menschen in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein noch prägender sein wird.

    Gemeinsam mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland werden wir vom Erzbistum Hamburg uns dafür einsetzen, dass weiterhin die christliche Hoffnung auch dort wachsen kann, wo in unseren drei Bundesländern die Menschen nach Sinn und Orientierung suchen.

    Ich freue mich darauf, in Gebet und Fürbitte, in Leben und Dienst, in Freude und Leid Ihnen weiterhin verbunden zu bleiben.



    Mit herzlichen Segenswünschen



    Ihr

    Werner Thissen





    Die Briefe des Erzbischof an Bischof Dr. von Maltzahn und Bischof Dr. Abromeit sind gleichlautend:



    Sehr geehrter Herr Bischof Dr. von Maltzahn,



    wie ich schon Ihrem Mitbruder Bischof Ulrich schrieb, so möchte ich auch Ihnen meine besten Grüße übermitteln: Im Namen aller Gläubigen aus unserem Erzbistum wünsche ich Ihnen und Ihren Schwestern und Brüdern von Herzen Gottes Segen zu dem großen Ereignis Ihrer Vereinigungsfeier.



    Am diesjährigen Pfingstsonntag werden sich die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs und die Pommersche Evangelische Kirche zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland vereinen.



    Ich bin mir sicher: Von diesem Pfingstfest geht ein starkes Signal aus. Die Vereinigung der drei evangelischen Kirchen stärkt die missionarische und diakonische Präsenz der Kirche in unserem Land. Von der Vereinigung verspreche ich mir, dass Jesus Christus für die Menschen in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein noch prägender sein wird.

    Gemeinsam mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland werden wir vom Erzbistum Hamburg uns dafür einsetzen, dass weiterhin die christliche Hoffnung auch dort wachsen kann, wo in unseren drei Bundesländern die Menschen nach Sinn und Orientierung suchen.

    Ich freue mich darauf, in Gebet und Fürbitte, in Leben und Dienst, in Freude und Leid Ihnen weiterhin verbunden zu bleiben.



    Mit herzlichen Segenswünschen



    Ihr

    Werner Thissen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im ökumenischen Gottesdienst zum Hafengeburtstag / Fregatte Mecklenburg-Vorpommern in Hamburg / 13. 05. 2012
    Liebe Soldatinnen und Soldaten,

    liebe Gäste hier auf der Fregatte Mecklenburg-Vorpommern,



    ich finde es wichtig, dass wir einen Gottesdienst zum Hafengeburtstag auch hier auf der Fregatte feiern. Denn wenn Sie als Soldatinnen und Soldaten wegen Ihres Dienstes nicht zur Kirche kommen können, dann muss die Kirche zu Ihnen kommen.



    In dem Evangelium, das Herr Dekan Schadt gerade verkündet hat, kommen drei Stichworte besonders häufig vor. Freundschaft, Liebe und Freude.



    Freundschaft, Liebe, Freude – danach sehnt sich jeder Mensch. Aber wir wissen es alle: Es gibt nicht nur Freundschaft in der Welt, es gibt auch Feindschaft. Es gibt nicht nur Liebe, es gibt auch Hass. Es gibt nicht nur Freude, es gibt auch Leid.



    Davon könnte dieses Schiff erzählen. Etwa als es vor der Küste des Libanon unterwegs war zur Unterbindung des Waffenschmuggels. Oder am Horn von Afrika zum Schutz von Handelsschiffen vor Piraterie. Die Bundesregierung hat ja gerade beschlossen, dass auch an Land gegen Piraten vorgegangen werden kann. Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, sorgen durch Ihren Dienst dafür, dass in unserer Welt die Freundschaft nicht vor der Feindschaft kapitulieren muss, dass die Liebe stärker sein kann als der Hass, die Freude größer als das Leid. Ob Sie es wissen oder nicht: Ihr Dienst, so wie er in der Bundesrepublik Deutschland auch politisch verstanden wird, hat viel mit diesem Evangelium zu tun.



    Mir wurde gesagt, naja, viele Soldatinnen und Soldaten stehen der Kirche eher fremd gegenüber. Aber durch Ihren Dienst für Freundschaft unter den Völkern und für Liebe unter den Menschen, unabhängig von Sprachen und Nationen, tun Sie genau das, was auf andere Weise auch kirchlicher Auftrag ist. Und deshalb stehen wir als Kirchen treu zu allen Soldatinnen und Soldaten, auch zu denen, welche vielleicht die Kirche noch gar nicht so richtig für sich entdeckt haben. Aber das kann ja noch kommen.



    Ich freue mich immer, wenn bei den Tauffeiern für Erwachsene oft auch Angehörige der Bundeswehr dabei sind. Und ich freue mich, dass wir hier im Norden tüchtige Militärdekane, Seelsorgerinnen und Seelsorger haben, die unsere drei Stichworte aus dem Evangelium immer wieder ins Bewusstsein rufen: Freundschaft, Liebe, Freude.



    Jetzt könnte jemand einwenden: Als die Fregatte Mecklenburg-Vorpommern – ich bleibe mal bei unserem Schiff, ich könnte auch andere Einsatzorte nennen – als dieses Schiff den Waffenschmuggel vor der Küste des Libanon verhindern musste, das hatte doch nichts mit Freundschaft und Liebe zu tun. Ich meine doch: Es ist notwendig, dass wir Rahmenbedingungen schaffen, damit Freundschaft und Liebe sich entfalten können. Und diese Rahmenbedingungen haben es mit dem Dienst der Bundeswehr zu tun. Das gilt ebenso, wenn Handelsschiffe vor Piraten geschützt werden müssen.



    Hamburg ist eine der großen Hafenstädte der Welt. Von hier laufen täglich viele Schiffe aus. Die Gefährdung durch Piraten ist hier ein Dauerthema, gerade auch in diesen Tagen des Hafengeburtstags. Wir sind unseren Soldatinnen und Soldaten sehr dankbar für ihren unverzichtbaren Einsatz.



    Ich höre aber auch, was es für Sie bedeutet, oft lange von Familie und Freunden entfernt zu sein. Auch deshalb ist es für uns als Kirchen so wichtig, an Ihrer Seite zu sein. Nicht nur wie jetzt, wenn wir gemeinsam einen Gottesdienst feiern, sondern auch, wenn Sie zu schwierigen und gefährlichen Aufgaben unterwegs sind.



    In einem kirchlichen Text, der auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil formuliert wurde, heißt es: Der Dienst der Soldaten sorgt für Sicherheit und Freiheit der Völker.



    Da haben Sie wieder die Verbindung zu unserem Evangelium: Wo Sie durch Ihren Dienst für Sicherheit und Freiheit sorgen, da können Freundschaft, Liebe und Freude sich entfalten.



    Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im Schulgottesdienst am Patronatsfestes der heiligen Sophie Barat / St. Michelis Hamburg / 10. 05. 2012
    Liebe Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer,

    liebe Eltern, liebe Gäste,



    das hat mich beeindruckt vorhin. Ich meine das Szenenspiel. Den Herzschlag konnte man deutlich hören. Dann die Schlussfrage: Und du: Auf welchem Weg ist dein Herz? Wofür schlägt dein Herz?



    Es ist schon mehrere Jahre her, da war ich dabei, als der HSV gegen Mainz 05 spielte und gewann. Der HSV hatte mir dreißig Karten zur Verfügung gestellt, so dass ich mit dreißig unserer Schülerinnen und Schüler das Spiel erlebte.



    Auf der Rückfahrt in der überfüllten S-Bahn wurde ich immer mehr in eine Gruppe Mainzer Jugendlicher gedrängt. Mit ihren rot-weißen Schals und Kappen standen sie ziemlich enttäuscht da. Mich mit meinem HSV-Schal würdigten sie keines Blickes.



    Plötzlich schreit jemand aus unserer Gruppe mir vom anderen Ende des Wagons zu: Herr Erzbischof. Die Mainzer gucken – Erzbischof? – und dann merken sie, dass ich gemeint bin. „Kennen Sie Kardinal Lehmann“, fragt mich einer der Mainzer wie zur Prüfung. „Klar“, sage ich, „der sitzt in der Bischofskonferenz neben mir.“ „Der hat mich gefirmt“, sagt einer. Und schon sind wir mitten im Gespräch.



    Dabei wurde mir deutlich, wie sehr das Herz der Mainzer für ihren Fußballclub schlägt. Das finde ich schön, wenn jemand sagt: Mein Herz schlägt für diesen oder jenen Verein. Oder: Mein Herz schlägt fürs Musizieren. Oder fürs Singen, oder Reiten oder für Schach, oder fürs Internet.



    Und du, wofür schlägt dein Herz?



    Am Ende des Szenespiels vorhin hieß es: Das Herz der heiligen Sophie Barat hat voll und ganz für Gott geschlagen. Bei allen unterschiedlichen Vorlieben, die wir hier heute haben als Schüler, als Lehrerinnen, als Eltern, als Gäste, eines verbindet uns in diesem Gottesdienst: Unser Herz schlägt für Gott. Deshalb sind wir hier, deshalb sind wir getauft.



    Dass das Herz der Mainzer für ihren Verein schlägt, das wurde an den rot-weißen Schals und Mützen deutlich. Ebenso wie der Schal mit der Raute bei den HSV-Fans. Gibt es auch ein Zeichen für uns alle, deren Herz für Gott schlägt?



    Das Herz der Christen, die an den Dreifaltigen Gott glauben, ist das Kreuz. Manche tragen deshalb das Kreuz als Schmuck oder als Abzeichen. Und manche machen morgens nach dem Aufstehen sofort das Kreuzzeichen.



    Ich mache euch jetzt einen Vorschlag. Diesen Vorschlag habe ich schon vielen jungen Leuten gemacht und ich kenne auch mehrere, die diesen Vorschlag praktizieren. Ich selbst natürlich auch. Der Vorschlag geht so: Morgens nach dem Aufstehen mache ich das Kreuzzeichen. Langsam und andächtig: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und wer nicht katholisch ist und das Kreuzzeichen nicht gewohnt ist, der kann ja auch einfach die Hände falten. Vom Komponisten Ludwig van Beethoven gibt es den schönen Satz: Die Kreuze im Leben des Menschen sind wie die Kreuze in der Musik, sie erhöhen. Mit dem Kreuz als Zeichen der Erlösung steht jeder Tag unter einem guten Vorzeichen.



    Mit dem Kreuzzeichen am Morgen machen wir deutlich: Unser Herz schlägt für Gott. Wie bei der Heiligen Sophie Barat. Das Herz eurer Schulpatronin schlug aber auch für die Menschen, für die sie sich enorm eingesetzt hat. So wie auch euer Herz für die Menschen schlägt. Für die Menschen, die ihr gern habt und für die Menschen, für die ihr euch einsetzt. Das ist ja heute ein enormer Einsatz: Der Sponsorenlauf um die Alster.



    Je mehr unser Herz für Gott schlägt und für die Menschen schlägt, desto mehr erfahren wir das, was wir vorhin im Evangelium hörten: Dann gelingt es uns eher, Gottes Gebote zu halten. Dann bleiben wir in seiner Liebe. Dann erleben wir die Freude des Glaubens.



    Das Kreuzzeichen am Morgen kann uns jeden Tag bewusst machen: Unser Herz schlägt für dich, Gott, und für die Menschen.



    Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen in der Feier der Osternacht / St. Marien-Dom / 08. 04. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    dieser frühe Ostermorgen gibt uns wieder neue Orientierung: Woher wir kommen, wohin wir gehen, wer wir sind.



    Woher wir kommen: Die alttestamentlichen Lesungen geben uns dazu Hinweise. Denn wenn es am Beginn der Bibel heißt: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, dann kann uns bewusst werden: Der Anfang der Welt und mein ganz persönlicher Anfang haben den selben Schöpfer. Was wir sind und was wir haben hat als Erstursache Gott. Damit sind spannende Fragen verbunden. Ich bewundere die Wissenschaft, was sie dazu alles zu sagen hat. Und ich bewundere die Bibel, die viele Fragen offen lässt, aber die entscheidende Antwort bereit hält: Der Anfang der Welt und mein ganz persönlicher Anfang haben mit Gott zu tun.



    Die weiteren alttestamentlichen Lesungen deuten uns dann, was aus dem Anfang, aus dem ich komme, wird: Dass ich vor Prüfungen stehe wie Abraham. Dass ich aufzubrechen habe wie die Israeliten aus Ägypten. Dass es Angebote gibt für meinen Lebensdurst. Wir hörten es vorhin beim Propheten Jesaja: Auf ihr Durstigen, kommt, stillt euren Hunger, euren Durst mit dem, was wirklich sättigt. Und schließlich: neues Herz und neuer Geist für mich, wie beim Propheten Ezechiel versprochen. Das alles wird uns zugemutet und zugesagt, die wir diesen Ostermorgen feiern.



    Und worauf läuft das alles hinaus? Wohin gehen wir? Nach Hause, immer nach Hause, hat sich mir vom Dichter Novalis eingeprägt. Und weil dieses Zuhause Gott heißt, weil mein Leben dieses Ziel hat, ist das, was Paulus uns in der Lesung sagt, folgerichtig: Wir können als neue Menschen leben.



    Können wir das wirklich? Wir leben in einer Zeit, in der Zerstreuung mehr propagiert wird als Sammlung, in der Materialisierung, Banalisierung und Spaß die neuen Götzen sind. Wenn wir uns diesen Götzen nicht unterwerfen, dann werden wir frei für neues österliches Leben.



    Und wie geht das? Dazu muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Ein Pfarrer wird von einem Reporter gefragt: Glauben Sie an das ewige Leben? Der Pfarrer antwortet mit einer Gegenfrage: Meinen Sie mich jetzt dienstlich oder privat? Österliches Leben gelingt, wenn ich mich nicht aufspalte in all die Rollen, die ich zu spielen habe, sondern wenn meine personale Mitte, die all mein Tun und Lassen prägt, mein Personkern, von den biblischen Impulsen dieser Osternacht berührt wird.



    Damit das gelingt, ist es hilfreich, dass nicht nur der Stein vom Grab Jesu weggewälzt wird, wie es uns das Osterevangelium verkündet. Sondern dass ich auch den Stein vom Grab meiner eigenen Vergangenheit wegwälze. Gemeint ist all das, was ich vor mir selbst unter Verschluss halte. Auch all das, was an ungelebtem Leben, an unerfüllter Sehnsucht in mir ist. Und auch das, was in mir steckt an Plänen, an Ideen, an Vorhaben, die ich schon lange mit mir herumtrage.





    Wenn das alles aus dem Grab meiner vergangenen Tage und Jahre hervorgeholt wird, dann erschrecke ich vielleicht darüber. Aber auch dann gilt mir die Botschaft im Osterevangelium: Erschreckt nicht, ihr sucht Jesus. Wenn mir das aufgeht, dass all mein Wünschen und Wollen, all mein Suchen und Sehnen letztlich auf Gott gerichtet ist, letztlich nur von ihm erfüllt wird, dann scheint mir das Osterlicht bis ins Herz hinein, dann durchstrahlt die Osterbotschaft meine ganze Person.



    Schwestern, Brüder, wir feiern die Auferstehung Jesu. Und weil wir uns an Jesus halten, feiern wir auch schon ein Stück unserer eigenen Auferstehung. Das, was einmal am Ende unseres Lebens vollendet sein wird, das leuchtet bereits jetzt auf, nämlich: Freude am Dasein, Mut zum Handeln, Zuversicht trotz aller Fragen und Ängste. Das heißt Ostern feiern. Amen
  • Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf dem Ökumenischen Kreuzweg am Karfreitag / Lübeck / 06. 04. 2012
    „Suchet der Stadt Bestes.“



    Ein ermutigender Aufruf! Der Appell des Propheten Jeremia weckt Bürgersinn. Er ruft zur Verantwortung. Wer in Lübeck oder anderswo hier im Norden seinen Glauben lebt, fühlt sich durch Jeremia gestärkt.



    Aber Vorsicht! Jeremia, Prophet im 6. Jahrhundert vor Christus, ruft seine Ermutigung nicht dem Volk Israel in Jerusalem zu. Er schreibt seine Worte an das Volk Gottes, das nach Babel verschleppt ist und im schmerzhaften Exil lebt. „Suchet der Stadt Bestes.“ Damit ist nicht das geliebte Jerusalem mit dem Tempel Gottes gemeint. Gemeint ist das verhasste Babel mit den dort lebenden Feinden, die Sieger in einem blutigen Krieg sind. Der ganze Vers, aus dem unser heutiges Motto stammt, lautet dann auch: „Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“ Aus der Ermutigung zum Bürgersinn wird nun eine regelrechte Zumutung, eine unbequeme Wahrheit.



    Jeremia war ein Prophet der unbequemen Wahrheit. Immer wieder erinnerte er die Israeliten an den schmerzhaften Riss, der Jerusalem und Babel, Heimat und Exil trennt und vereint zugleich.



    Für uns heißt das: Das Wohl von Stadt und Land finden wir nicht an den Rissen und unbequemen Wahrheiten unserer Geschichte vorbei. Die „gefährliche Erinnerung“ – so nennt es der bekannte Theologe Johann Baptist Metz – an die dunklen Flecken unserer Vergangenheit wirft uns oft aus der Bahn. Das stört viele. Diese Störung ist aber dringend notwendig und heilsam; für uns als Menschen und für unsere Gesellschaft.



    Eine solche „gefährliche Erinnerung“ hier in Lübeck ist das Gedenken an den 3. Mai 1945. An diesem Tag starben in der Lübecker Bucht viele Tausend Flüchtlinge aus verschiedenen Konzentrationslagern. Die einen befanden sich auf dem Schiff Cap Arcona. Als KZ-Häftlinge waren sie von den Nationalsozialisten auf das Schiff verschleppt worden. Vollkommen überfüllt wurde es von der britischen Luftwaffe für einen Truppentransporter gehalten, in Brand geschossen und versenkt. Eine Stele am Gustav-Radbruch-Platz – wir haben dort soeben Halt gemacht – erinnert an diese Katastrophe.

    Am gleichen Tag erschossen Bürger aus Neustadt hunderte Flüchtlinge aus dem KZ Stutthof im heutigen Polen. Auch diese waren in den letzten Kriegstagen in die Lübecker Bucht verschleppt worden. Dort wurden sie von ihren Bewachern verlassen. Auf der Suche nach Nahrungsmitteln trafen die Flüchtlinge bei den Menschen an der Lübecker Bucht aber nicht auf Hilfe und Nächstenliebe. Während in Lübeck schon die Briten einmarschiert waren, wurden auf der anderen Seite der Bucht Flüchtlinge mit Gewehren und Pistolen ermordet.



    An so etwas erinnert sich niemand gern. Das Gedenken an Versagen, Schuld und Sünde muss uns aber aus der Fassung bringen. Die gefährliche Erinnerung verhindert, dass wir uns vor den Rissen, die auch heute durch die Gesellschaft in unserem Land gehen, abschotten: Risse zwischen Arm und Reich, zwischen Ost und West, zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Die Risse sollen uns nicht lähmen, sondern aufrütteln und in Bewegung bringen.



    „Suchet der Stadt Bestes.“ Das Prophetenwort Jeremias ist in der Tat ein ermutigender Satz. Ermutigend für den, der sich von den Rissen und Wunden in Geschichte und Gegenwart zur Umkehr bewegen lässt. Jeremias Aufruf an das Volk Israel in Babel ist auch heute ein aufrüttelnder Appell an uns zu mehr Bürgersinn, Nächstenliebe und öffentlicher Verantwortung.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am Gründonnerstag / St. Marien-Dom Hamburg / 05. 04. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    Wasserschutzgebiet, dieses Schild sah ich bei einer Wanderung in der Eifel immer wieder. Wasserschutzgebiet, so stand es auf großen Tafeln. Schließlich kamen wir an eine Hütte. Dort lasen wir die Erklärung, dass in diesem Gebiet mehrere Quellen entspringen, die sich talwärts zu einem Fluss verbinden. Da war uns klar: Wer den Fluss schützen will, der muss besonders sorgsam mit den Quellen umgehen.



    Wir stehen heute Abend an den Quellen dessen, was Jesus uns geschenkt hat. Was wir täglich feiern in der Heiligen Messe, das hat an diesem Abend des Gründonnerstags seine Quellen.



    Sie haben es in der Lesung gehört: Jesus nahm das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Wir tun in der Heiligen Messe genau das, was Jesus im Abendmahlssaal getan hat. Und wir tun es in seinem Auftrag.



    Von der Quelle im Abendmahlssaal in Jerusalem ergießt sich ein breiter Strom durch die Jahrhunderte hindurch. Dieser Strom bildet sich aus den Feiern der Heiligen Messe an allen Orten der Welt und zu allen Zeiten. Wer diesen Strom genau kennen will, muss sich auch mit den Quellen befassen.



    Die Quellen, die wir vom Geschehen im Abendmahlssaal haben, sind für uns gut zu erkennen. Trotz des großen zeitlichen Abstands zu uns. Sie sind klarer als jede andere Überlieferung aus damaliger Zeit. Nicht nur Paulus hat uns eine Quelle in der heutigen Lesung erschlossen. Auch die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas nennen uns diese Quellen.



    Und der Strom der Überlieferung ist in unserer Kirche nie unterbrochen worden. Alle Zeiten haben sich an die Quellen gehalten. Wir können wissen, dass wir in der Feier der heiligen Messe genau das tun, was Jesus uns aufgetragen hat.



    Zu den Quellen der Überlieferung gehört auch, dass der Evangelist Johannes genau an der Stelle, wo die anderen drei Evangelien vom Abendmahl berichten, uns die Fußwaschung schildert. Wir hörten es gerade. Einem andern die Füße waschen, das war zur Zeit Jesu niedrigster Sklavendienst. Und genau diesen niedrigsten Dienst erweist Jesus seinen Jüngern.



    Wenn wir jetzt die unterschiedlichen Quellen in Verbindung bringen, die Schilderung des Abendmahls bei Matthäus, Markus und Lukas und bei Paulus einerseits, und die Schilderung der Fußwaschung bei Johannes andererseits, dann ist es klar: So wie Jesus zum Diener wird in der Fußwaschung, so wird er zu unser aller Diener in der Feier der Heiligen Messe. Er verschenkt sich an uns. Er gibt sich uns hin.



    Weil die Fußwaschung, die Jesus seinen Jüngern erweist so wichtig ist, deshalb wäscht der Papst heute an diesem Gründonnerstagabend in Rom zwölf Personen die Füße. Deshalb geschieht das auch in vielen Bischofskirchen und gleich auch hier bei uns. Darin kommt zum Ausdruck: Wer Gemeinschaft mit Jesus will, der muss dienen. Die Gemeinschaft mit Jesus im Empfang der Heiligen Kommunion und die Gemeinschaft mit Jesus im Dienen sind zwei Seiten der selben Münze. Beide gehören untrennbar zusammen. Wenn Sie gleich die Fußwaschung miterleben, dann stehen Sie vor der Frage: Wie sieht es mit meinem Dienen aus? Auf welche Weise kann ich dem dienenden Jesus nachfolgen?



    Dieser Gründonnerstagabend zeigt uns die Quellen unseres Christseins. Wir schützen diese Quellen, indem wir uns mit Glauben und Vertrauen Christus zuwenden in der Feier der Heiligen Messe. Ein besonderer Schutz der Quellen besteht heute Abend in der Anbetungszeit nach der Heiligen Messe. Denn darin machen wir deutlich: Christus, dein Handeln im Abendmahlssaal ist zwar lange her. Aber durch den Strom der Überlieferung wissen wir sehr genau um die Quellen. Wir wissen, dass du im Zeichen des Brotes bei uns bleibst, dass du im Zeichen der Fußwaschung uns dienst und unseren Dienst erwartest. Du bleibst bei uns in Zeit und Ewigkeit. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen in der Missa Chrismatis / St. Marien-Dom Hamburg / 02. 04. 2012
    (1.Lesung Jer 20,7-9; 2. Lesung Hebr 10,19-25; Evangelium Mk 14,26-31)



    Gläubiges Umgehen mit dem Skandal der christlichen Botschaft





    Verehrte, liebe Mitbrüder im Diakonen-, Priester- und Bischofsdienst,

    liebe Gemeinde,



    das ist ein Skandal. Im deutschen Text unseres Evangeliums heute wird der Skandal heruntergespielt. Ihr werdet Anstoß nehmen an mir, sagt Jesus in der deutschen Übersetzung, wie sie der Diakon gerade verkündet hat. Im griechischen Text heißt es: Skandalistäseste. Da steckt das Wort Skandal drin. Ihr werdet aus mir, so Jesus, einen Skandal machen, könnte man wörtlich übersetzen. Oder: Ihr werdet in mir einen Skandal erblicken, sagt Jesus.



    Genaues Hinschauen



    Es lohnt sich, dem griechischen Wort Skandalon bis zu seinem Ursprung nachzugehen. Skandalétron bezeichnet ursprünglich die Auslösevorrichtung in einer Tierfalle. Also: Wir gehen unseren Weg, und plötzlich schnappt die Falle zu. Ihr werdet mich für eine böse Falle halten, sagt Jesus wörtlich.



    Und dann zappeln wir in der Falle. In der Falle von Misserfolg. In der Falle von Ansehensverlust der Kirche. In der Falle von Mutlosigkeit und Erschöpfung. Und Jesus sagt das seinen Jüngern voraus, damals und heute: Skandalistäseste. Was für ein Skandal!



    Das heißt dann aber auch, es gehört zum Jünger Jesu dazu, solche Gefühle des Skandals zu haben. Wie intensiv, wie oft, wie lang solche Gefühle sind, das ist je nach Situation verschieden. Aber offensichtlich gehört das auch zur Nachfolge Jesu. Skandalistäseste – es als Skandal empfinden, was Jesus einem zumutet, was er uns, seinen Boten abverlangt, und wie er uns dabei scheinbar im Stich lässt.



    Gottes Dramatik in Geschichte und Gegenwart



    Das gibt es nicht nur heute. Denken Sie an die erste Lesung aus dem Propheten Jeremia. „Du hast mich betört, Gott, und ich ließ mich betören“, klagt Jeremia.



    Sie haben aus dem Studium der Exegese wahrscheinlich noch in Erinnerung, dass im hebräischen Wort für „betören“ die Bedeutung mitschwingt: verführen, und zwar ganz konkret ein Mädchen verführen und es dann in seiner Schande sitzen lassen. So fühlt sich Jeremia von Gott behandelt. Ich bin sicher, Sie kennen dieses Gefühl auch.



    Diese Gottesdramatik in der Bibel, am Beispiel von Petrus und Jeremia, hat mit jedem Menschen zu tun, der sich auf Gott einlässt. Also auch mit dir und mit mir. Mit dem einen vielleicht mehr, mit dem anderen weniger. So wie es jedem einzelnen von Gott zugemutet wird und so wie er es ertragen kann.



    Und heute ist diese Gottesdramatik besonders aktuell. Weil frühere Stützen wegfallen. Die Selbstverständlichkeit des Glaubens fällt weg, selbst in der nächsten Verwandtschaft und im Freundeskreis. Das Ansehen der Kirche fällt weg, nicht erst seit den Missbrauchsskandalen. Die Sinnhaftigkeit gläubigen Lebens unterliegt der Kritik vermeintlicher Wissenschaftlichkeit oder Erfahrung. Das Gemeinschaftsgefühl der Glaubenden leidet unter geografischer und mentaler Zerstreuung. Was bleibt uns da noch?



    Bewährte Heilmittel



    Es bleibt uns, dass wir uns unmittelbar an Gott wenden. So wie Jeremia. So wie schließlich auch Petrus. Dass wir all das, was uns bewegt, was uns zusetzt, was uns mutlos macht, Gott hinhalten. „Es sind geistliche Eigenschaften nötig, um die kollektive Gottesferne zu meistern“, sagte uns Pater Schönfeld beim Einkehrtag in Nütschau.



    Geistliche Eigenschaften – das heißt, dass ich in meiner konkreten Situation die lebendige Beziehung zu Gott immer wieder neu einüben muss. Dass ich mich täglich bewusst und persönlich Gott überlasse. Gebete wie die von Charles de Foucauld (Mein Vater, ich überlasse mich dir) oder von unserem Lübecker Märtyrer Eduard Müller (Herr, hier sind meine Hände) oder von Romano Guardini (Immerfort empfange ich mich aus deiner Hand) sind dafür hilfreich. Und das täglich. Denn täglich springt uns das Untier der Banalisierung, der Materialisierung und der Verspaßung an. In den Medien, in unserer Umgebung und auch in uns selbst. Wenn ich da nicht geistlich wach bin, dann zerfleischt mich dieses Untier langsam. Dann verliere ich immer mehr an Gelassenheit, an Humor und an Lebensfreude. Dann fange ich an zu nörgeln, zu projizieren und verteile Schuldzuweisungen.



    Auch das Breviergebet gehört für mich zu diesen notwendigen geistlichen Eigenschaften, von denen Pater Schönfeld in Nütschau sprach. Nicht so sehr als Pflichterfüllung, sondern mehr als geistliche Lockerungsübung.



    Mich spricht am Brevier vor allem die Verbindung von vertikaler und horizontaler Richtung an. Die vertikale Richtung auf Gott hin im Klagen, Bitten, Preisen und Danken vor ihm. Die horizontale Richtung, wenn ich mir bewusst mache, die selben Psalmen, die selbe Schriftlesung, die selben Bitten beschäftigen an diesem Morgen oder Abend auch Sie, meine Mitbrüder. Das schafft selbst in unserer Diaspora mit ihren weiten Entfernungen ein geistliches Klima. Und manchmal, bei Zeitmangel und Müdigkeit, hilft mir der Gedanke: Du darfst die Brüder bei ihrem Beten jetzt nicht im Stich lassen.



    Der Kampf zwischen Glaube und Unglaube machte vor Petrus und Jeremia nicht Halt. Er macht auch vor uns nicht Halt. Der Kampf zwischen Glaube und Unglaube spielt sich auch mitten in uns ab. Hilfreich finde ich dabei auch, was der Hebräerbrief uns heute in der zweiten Lesung mit auf den Weg gibt.



    Die Weisungen im Hebräerbrief



    Ich weiß nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, dass es in dem Abschnitt heute drei Aufforderungen gibt, die alle beginnen mit dem Aufruf „Lasst uns“. Gemeint ist nicht „Lasst uns in Ruhe“. Im Gegenteil.



    Der erste Aufruf: „Lasst uns an dem unwandelbaren Bekenntnis der Hoffnung festhalten, denn er, der die Verheißung gegeben hat, ist treu“. Offenbar gab es Hoffnungslosigkeit, Kleinmut oder Verzagtheit auch schon zur Zeit des Hebräerbriefverfassers. Sonst würde er nicht so eindringlich formulieren: „Lasst uns an der Hoffnung festhalten“.



    Der zweite Impuls: „Lasst uns aufeinander achten … und uns zu guten Taten anspornen.“ Ich freue mich darüber, dass ich diese Achtsamkeit füreinander in unserem Presbyterium immer wieder wahrnehme.



    Schließlich noch der dritte Impuls aus dem Hebräerbrief heute: „Lasst uns nicht unseren Zusammenkünften fernbleiben, wie es einigen zur Gewohnheit geworden ist.“ Auch das finde ich wichtig, damit wir uns im Ringen um lebendigen Glauben gegenseitig bestärken können.



    Liebe Mitbrüder, niemand von uns ist Petrus und niemand von uns ist Jeremia. Jeder ist persönlich vom Herrn gerufen. Jeder gibt auf den Anruf des Herrn hin seine ganz persönliche Antwort.



    Aber wir sind als Presbyterium auch gemeinsam gerufen. In der Bereitschaftserklärung geben wir auf den Ruf des Herrn jetzt unsere gemeinsame Antwort. Amen.







    Die in der Predigt genannten Gebete im vollen Wortlaut:



    Mein Vater, ich überlasse mich dir; mach mit mir, was dir gefällt. Was du auch mit mir tun magst, ich danke dir. Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an. Wenn nur dein Wille sich an mir erfüllt und an allen deinen Geschöpfen, so ersehne ich weiter nichts, mein Gott. In deine Hände lege ich meine Seele. Ich gebe sie dir, mein Gott, mit der ganzen Liebe meines Herzens, weil ich dich liebe und weil diese Liebe mich treibt, mich dir hinzugeben, mich in deine Hände zu legen, ohne Maß, mit einem grenzenlosen Vertrauen. Denn du bist mein Vater.



    Charles de Foucauld





    Herr, hier sind meine Hände. Lege darauf, was du willst. Nimm hinweg, was du willst. Führe mich, wohin du willst. In allem geschehe dein Wille.



    Eduard Müller





    Immerfort empfange ich mich aus Deiner Hand, das ist meine Wahrheit und meine Freude. Immer schaut mich dein Auge liebend an und ich lebe aus Deinem Blick, Du mein Schöpfer und mein Heil. Lehre mich in der Stille Deiner Gegenwart das Geheimnis zu verstehen, dass ich bin durch Dich und vor Dir und für Dich.



    Romano Guardini

  • Einladung zum Dialogprozess im Erzbistum Hamburg / Brief an die Gemeinden / 31. 03. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    vor 50 Jahren begann in Rom das II. Vatikanische Konzil, das unsere Kirche bis heute maßgeblich prägt. Die Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ („Die Kirche in der Welt von heute“) bietet Orientierung für das Handeln der Kirche: die Situation der Menschen erkennen, daraus die Aufgaben der Kirche in der Gesellschaft entwickeln und die Welt mit gestalten. Im Konzil hat die Kirche sich zum Dialog mit den Menschen in der jeweiligen Zeit und Lebenswelt verpflichtet (GS 40).



    Aus diesem Geist heraus haben wir Bischöfe in Deutschland einen bundesweiten Prozess initiiert, um im Dialog die drängenden Fragen unserer Zeit neu in den Blick zu nehmen.



    Der Dialogprozess im Erzbistum Hamburg greift diesen Ansatz auf, mit neuen Medien und Formaten. Als Ihr Erzbischof möchte ich gemeinsam mit unseren Weihbischöfen mit Ihnen ins Gespräch kommen. Ich möchte mit Ihnen die Themen besprechen, die Sie bewegen, und daraus Perspektiven für unsere Kirche im Norden entwickeln. Gemeinsam treten wir in einen Dialog über Auftrag und Gestalt der Kirche in der Welt von heute.



    Ausdrücklich möchte ich auch die einladen, die bislang wenig am kirchlichen Leben teilhaben, ebenso Jugendliche und junge Erwachsene, die unsere Kirche in Zukunft prägen werden.



    Wie wird sich unser Dialogprozess im Erzbistum Hamburg gestalten?





    In einem ersten Schritt sammeln wir bis Juli 2012 Themen. Gerne können Sie uns persönlich schreiben oder Themen aus Ihrer Gemeinde, Ihrer Einrichtung oder Ihrem Verband mailen. Alle Informationen finden Sie dazu auf der Homepage unseres Erzbistums unter dem Stichwort „Dialogprozess“. Sie können dort auch über die Gewichtung der einzelnen Themen mitbestimmen. (weitere Informationen unter www.dialogprozess-erzbistum-hamburg.de)



    In einem zweiten Schritt sollen diese Themen auf gemeinsamen Veranstaltungen besprochen werden, die an unterschiedlichen Orten unseres Erzbistums stattfinden werden, möglicherweise also auch bei Ihnen vor Ort. Dabei ist es mir wichtig, sowohl von Ihren Sorgen und Nöten zu hören, als auch von dem, was Ihnen in der Kirche Freude und Hoffnung macht. Ich wünsche mir, dass wir im Dialogprozess gemeinsam den Antworten auf drängende Fragen näher kommen und unser Miteinander stärken.



    Unsere Internetplattform wird Sie mit Terminen, Auswertungen und Materialien während des gesamten Prozesses auf dem Laufenden halten.



    Ich freue mich auf Ihre Beiträge und auf einen fruchtbaren und gesegneten Dialog.



    Ihr



    + Werner



    Erzbischof von Hamburg



    (weitere Informationen unter www.dialogprozess-erzbistum-hamburg.de)
  • Ökumenische Andacht für Frieden und Toleranz / St. Marien Lübeck / 31. 03. 2012
    Liebe Schwestern und Brüder,



    noch immer begegne ich an verschiedenen Stellen der Meinung, die christlichen Kirchen mögen sich aus der Politik heraushalten. Sie sollten Seelsorge betreiben, Gottesdienste feiern und karitative Dienste anbieten. Aber bitte nicht mehr.



    Ich sage „noch immer“, weil mir eine solche Meinung, gerade hier in Lübeck, unverständlich ist. Hier in Lübeck lebten vier Geistliche, die Lübecker Märtyrer, die aus ihrem Glauben heraus sich in die Politik eingemischt haben. Das taten sie gegen die herrschende Meinung der damaligen Zeit. Das war den Nationalsozialisten Grund genug, die Geistlichen zu verhaften, einzukerkern und am 10. November 1943 in Hamburg zu ermorden.

    Die vier Märtyrer hatten es nicht darauf angelegt, politisch aktiv zu werden. Sie waren jedoch Menschen, die sich in einer schwierigen Zeit ihrer gesellschaftlichen Aufgabe aus dem Glauben heraus bewusst wurden. Sie hatten mehr und mehr die Erfahrung gemacht, dass Evangelium und nationalsozialistische Ideologie nicht miteinander zu vereinbaren waren, ja, sich als Gegensätze gegenüberstanden. Ihre Entscheidung für Christus hatte die Ablehnung von Rassismus und Angriffskrieg zur Folge. Das Leben und Sterben von Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink lässt keinen Zweifel daran: Christlicher Glaube und politischer Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit sind nicht voneinander zu trennen.



    Ich sage „noch immer“ aber auch deshalb, weil mit Blick auf Jesus Christus und seine unmittelbar bevorstehende Passion jedem klar sein muss, dass das christliche Leben ohne die Einmischung nicht zu denken ist. „Ihr seid das Salz der Erde“. „Ihr seid das Licht der Welt“. Die Worte Jesu aus der Bergpredigt sind kein Parteiprogramm. Sie sind aber die klare Aufforderung, das zu tun, was die Zeit von uns erfordert: sei es in der Kirche, in der Wirtschaft oder in der Politik. Jesus fordert zur Einmischung auf: um das aufzubauen und zu stärken, was dem Frieden und der Gerechtigkeit dient; aber auch um das niederzureißen, was unter den Menschen Tod und Verderben sät.



    Ein an Unrecht und Ungerechtigkeit angepasster Glaube entspricht dem Salz, das ohne Geschmack ist. Es macht den Geschmack des Evangeliums schal. Ein solcher Glaube ist wie das Licht unterm Scheffel. Er taugt zu nichts. Vielmehr noch: Statt Licht zu spenden, verdunkelt und verbiegt ein solcher Glaube die Botschaft Christi.



    Damit die Menschen unsere guten Werke sehen und unseren Vater im Himmel preisen, haben wir uns heute hier versammelt. Es ist ein starkes Zeichen, dass das Gebet hier in St. Marien und anderswo und das demonstrierende Einstehen der Bürgerinnen und Bürger für Frieden, Fremdenliebe und Gerechtigkeit eng beieinander stehen. So wird das Licht Christi hinaus in die Welt getragen. So behält das Salz seinen Geschmack.



  • Gedanken zur Aufführung der Matthäuspassion durch den Domchor des St. Mariendomes / St. Marien-Dom Hamburg / 30. 03. 2012
    Zu Bachs Zeiten war eine Aufführung der Passion mehr noch als heute nicht Konzert, sondern Gottesdienst. Dazu gehörte dann auch die Predigt. Diese wurde genau an dieser Stelle, also zwischen dem ersten und dem zweiten Teil gehalten. Das geschah übrigens einhundert Jahre später ebenfalls, als der zwanzigjährige Felix Mendelssohn-Bartholdy 1829 in Berlin die Wiederaufführung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach leitete.



    Aber ich halte keine Predigt, sondern gebe Ihnen lediglich einige theologische Hinweise zu Bachs Matthäuspassion, die ja selbst eine einzigartige musikalische Predigt ist.



    Worin besteht die geheimnisvolle Anziehungskraft der Matthäuspassion? Das lässt sich bereits an dem groß angelegten Portal des Eingangschores ablesen.



    Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen. Mit den „Töchtern“, das wissen wir aus dem alttestamentlichen Buch Sacharja (9,9-11), ist das Volk Gottes gemeint, ursprünglich das Volk Israel, jetzt aber wir, die Hörerinnen und Hörer.



    Als Hörende werden wir von Anfang an einbezogen in einen dramatischen Dialog: Sehet – Wen? – Den Bräutigam. Seht ihn – Wie? – Als wie ein Lamm.



    Das ist als erstes festzuhalten: Dass wir als Hörende in das Geschehen einbezogen sind und zum Nachdenken, zur Reflexion, zur Meditation aufgefordert werden.



    Der Eingangschor ist ein dramatischer Dialog mit theologischer Tiefe: „Bräutigam“ ist in den Evangelien eine Chiffre für Jesus. Denken Sie an das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen mit dem Ruf: Seht der Bräutigam kommt. Mit dem Stichwort „Bräutigam“ weist der Eingangschor auf die Christologie hin. Wir sollen erfahren, wer Christus ist. Das ist ein zweites Element.



    Auch das „Lamm“ ist theologische Chiffre für Jesus, und sobald dieses Stichwort fällt: „Seht ihn- Wie? – Als wie ein Lamm“, setzt der Knabenchor ein mit dem Choral: O Lamm Gottes unschuldig. Jesus als das Lamm, das unsere Sünden getragen hat.



    Damit kommt als drittes Element die Erlösungstat Jesu in den Blick oder besser ins Ohr, also die Soteriologie, uns wird nahe gebracht, was Jesus für uns bedeutet, wer er für uns ist.



    Der Schlusssatz des Chorals „Erbarm dich unser, o Jesus“ ist Gebet, ist Liturgie, wie wir sie ja auch heute immer wieder feiern, sowohl im katholischen als auch im evangelischen Gottesdienst.



    Damit habe ich Ihnen vier theologische Gestaltungselemente der Bachschen Matthäuspassion genannt. Es sind die Bauelemente, aus denen die gewaltige Kathedrale der gesamten Mathäuspassion besteht. Also:

    1. Die Christologie: Die musikalische Präsentation der Person Jesu Christi, oder die Aussage: Wer dieser Christus ist.

    2. Die Soteriologie: Die Erlösungstat Jesu, sein Tod am Kreuz für uns Menschen oder: Was Jesus Christus für uns getan hat.

    3. Die Liturgie: Die Gebetsrufe der versammelten Gemeinde. Oder: Was wir tun sollen, wie wir darauf antworten sollen.

    4. Die Reflexion oder Meditation: Was dieses Passionsgeschehen, wie Bach es uns darbietet, mit uns zu tun hat. Oder: Wer wir sind angesichts dieser Botschaft.



    Was im Eingangschor mit diesen vier Bauelementen packend, dramatisch, anrührend grundgelegt wird, das wird nun in der gesamten Passion entfaltet. Dabei haben die einzelnen Elemente oft eigene Instrumentalbegleitung. Das im Einzelnen darzulegen, würde jetzt zu weit führen. Vielleicht achten Sie einmal darauf.



    Für den zweiten Teil, den wir gleich nach der Pause hören, gebe ich Ihnen für jedes der vier Bauelemente ein Beispiel.



    Beispiel für die Liturgie, für das, was wir tun sollen:

    Die Verleugnung des Petrus springt uns in seiner ganzen Dramatik an. Bei der ersten Magd, die sagt, du gehörst auch zu Jesus, leugnet Petrus. Bei der zweiten Magd schwört er. Als, jetzt mit dem Chor, zum dritten Mal Petrus zur Jüngergemeinschaft Jesu gezählt wird, da verflucht er sich.



    Weil aber nicht nur Petrus es ist, der Jesus verleugnet, sondern auch ich, der Hörer, folgt jetzt die Liturgie mit der bewegenden Alt-Arie: „Erbarme dich …“. Als Hörer bitte ich Jesus um Erbarmen, nicht für den Verrat des Petrus, sondern für meinen eigenen Verrat.



    Beispiel für die Reflexion, für mein, der Hörerin, des Hörers Dasein vor Gott:

    Der direkt an die Arie „Erbarme dich“ anschließende Choral: „Bin ich gleich von dir gewichen, stell ich mich doch wieder ein“. Also eine Reflexion oder auch eine Meditation über mein Weglaufen von Jesus und mein Zurückkommen.



    Als Beispiel für die Christologie, für die Frage „Wer ist dieser Christus“? nenne ich Ihnen die Sopran-Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“. Die Melodie steht in A-Moll. Sie wird begleitet von Flöte und Oboe. Jesus ist nicht Revolutionär, nicht Utopist, nicht Politiker, nicht Wunderheiler. Er ist der, der aus Liebe zu uns in den Tod geht.



    Und schließlich noch ein Beispiel für die Soteriologie, was Christus für uns bedeutet, was er für uns getan hat:

    Der Schrei Jesu: Eli, Eli Lama Asabachthani – Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, ist der Schrei des Menschen ohne Gott. Die Streicher, die sonst allen Jesusworten göttlichen Glanz geben, verstummen hier. Jesus hält die Gottferne des Menschen aus. Aber als es dann heißt: Aber Jesus schrie abermals laut und verschied, da macht der anschließende Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ deutlich: Das Sterben Jesu ist ein Sterben für mich, mein Sterben hat mit seinem Sterben zu tun, und deshalb führt auch mein Sterben zum Heil.



    Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen gleich im Herzen etwas davon aufgeht, was wir jetzt verstandesmäßig ergründet haben. Vorher aber haben Sie eine Pause verdient. Ich danke Ihnen.
  • Fastenhirtenbrief von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur österlichen Bußzeit 2012 / Erzbistum Hamburg / 27. 02. 2012
    Drei Versuchungen auf dem Weg und der Blick auf das Ziel



    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg,



    Jesus wurde vom Satan in Versuchung geführt, sagt uns heute das Evangelium.

    Hat das etwas mit uns zu tun? Mit unserer Gemeinde? Mit mir persönlich?

    Wenn sogar Jesus in Versuchung geführt wird, dann können wir davon ausgehen, dass auch auf unserem Glaubensweg Versuchungen lauern. Ich finde es wichtig, solche Versuchungen zu erkennen. Nur dann können wir sie auch bestehen. Ich nenne Ihnen drei Versuchungen, die mir zurzeit besonders auffallen.



    1. Die erste Versuchung heißt: „Mutlosigkeit“

    Es bedrängt uns, dass die Zahl der aktiven Kirchenmitglieder zurückgeht. Dass es vielfach nicht mehr selbstverständlich ist, zu beten, die Sakramente zu feiern, Fastenopfer zu bringen. Es macht uns traurig, dass es Fehler und Sünden in der Kirche gibt, wie das vor allem an den Missbrauchsskandalen deutlich wird. Wir leiden darunter, dass junge Menschen oftmals zu einer Lebenspraxis neigen, die weniger mit Glaube und Kirche zu tun hat. Es stört uns, dass durch die zurückgehende Zahl der Priester sich das kirchliche Leben stark verändert. All das wirft Fragen auf. Diese können uns verunsichern und die Freude am Glauben schmälern. Nicht selten werde ich auf solche Sorgen angesprochen. Ich finde es wichtig, darüber miteinander zu reden. Das ist weitaus besser als unsere kirchliche Situation zu beschönigen oder Belastendes zu verdrängen. Aber für eine teuflische Versuchung halte ich es, sich dadurch entmutigen zu lassen. Zu dieser Versuchung gehört auch, all das Gute zu übersehen oder abzuwerten, das sich in unseren Gemeinden, Einrichtungen und Verbänden ereignet. Der Weg des Glaubens in unserer Zeit ist wahrhaftig kein Spaziergang. Wir werden von vielen Seiten infrage gestellt. Aber haben wir es wirklich schwerer als Christen früherer Zeiten?



    Ich denke an unsere Vorfahren im Glauben, die wir im Erzbistum im Blick haben. Da sind die Lübecker Märtyrer, die gemeinsam mit ihrer Gemeinde einer feindseligen Öffentlichkeit gegenüberstanden. Ich denke an Niels Stensen, der mit einer verschwindend kleinen Zahl von Gläubigen ohne jeden äußerlichen Erfolg in Schwerin tätig war. Und auch unser Bistumsgründer Ansgar musste die niederschmetternde Erfahrung machen, dass seine Aufbauarbeit in unseren Regionen immer wieder zerstört wurde. Den Lübecker Märtyrern, Niels Stensen und Ansgar, war, auch wenn sie mit ganz unterschiedlichen Anfechtungen zu kämpfen hatten, eines gemeinsam: Sie haben sich nicht entmutigen lassen. Obwohl sie zunächst als Verlierer da standen. Jedenfalls von außen betrachtet. Auch als oft verlachte Minderheit war ihnen bewusst: „Mit Christus sind wir immer die Mehrheit, immer die Stärkeren.“ Mit diesen Worten hat Bischof Heinrich Theissing die Mecklenburger Katholiken in der Zeit des Kommunismus ermutigt. Mit Christus sind wir stark. Dieser Glaubensmut ist auch heute notwendig, damit wir der Versuchung zur Mutlosigkeit widerstehen können. Deshalb ist es ja so entscheidend, dass wir immer wieder neu die Verbindung mit Christus suchen. Vor allem im Gebet, im Gottesdienst und in tatkräftiger Liebe. Dann verbindet sich unsere Bereitschaft mit der Kraft Gottes. Dann haben wir keinen Grund, mutlos zu sein.



    2. Die zweite Versuchung heißt: „Anpassung.“



    Manchmal erlebe ich, wie katholische Christen sich mit ihrer Überzeugung in der Öffentlichkeit zurückhalten. Warum?

    Weil unsere Vorstellungen vom Leben und vom Sterben sich oft grundlegend unterscheiden von aktuellen Mehrheitsmeinungen. Auch was wir im Credo bekennen, trifft längst nicht überall auf Zustimmung. Nun gibt es aber auch katholische Merkmale, die nicht im Glaubensbekenntnis stehen. Manche sind auch nicht ausdrückliche Forderungen Jesu. Deshalb kann es gar nicht ausbleiben, dass um solche Traditionen immer wieder gerungen wird. Das muss nicht heißen, sie abschaffen zu wollen. Das kann auch heißen, deren Sinnhaftigkeit wieder neu zu entdecken. Im Dialogprozess, den unsere Bischofskonferenz angestoßen hat, geht es um die Frage, was Christus von seiner Kirche heute erwartet. Wir werden dabei wachsam der Versuchung widerstehen, uns einfach aktuellen Mehrheitsmeinungen anzupassen. Unser Maßstab ist und bleibt die Botschaft Jesu und was auf dem Glaubensweg der Kirche unter der Führung des Geistes Gottes daraus erwachsen ist. In machen Diskussionen erlebe ich die Sorge, unsere Kirche könne den Anschluss an die Gegenwart verpassen. Andere weisen darauf hin, dass wir nicht den Anschluss an Schrift und Tradition verpassen dürfen. Solche Fragen bewegten auch Papst Benedikt auf seiner Deutschlandreise im September letzten Jahres. In seiner Rede im Freiburger Konzerthaus sagte der Papst: „Die Kirche ist, wo sie wahrhaft sie selber ist, immer in Bewegung, muss sich fortwährend in den Dienst der Sendung stellen, die sie vom Herrn empfangen hat. Und deshalb muss sie sich immer neu den Sorgen der Welt öffnen . . .“



    In Erfurt im Kapitelssaal des Augustinerklosters fragte Papst Benedikt: „Muss man dem Säkularisierungsdruck nachgeben, modern werden durch Verdünnung des Glaubens?“ Dann fügte er hinzu: „Natürlich muss der Glaube heute neu gedacht und vor allem neu gelebt werden, damit er Gegenwart wird. Aber nicht Verdünnung des Glaubens hilft, sondern nur ihn ganz zu leben in unserem Heute.“ Wie sich die Öffnung der Kirche hin zu den Sorgen der Welt ohne Verdünnung des Glaubens verwirklichen lässt, darum haben wir zu ringen. Bei solchem Ringen kann uns eine dritte Versuchung bedrohen.



    3. Die Dritte Versuchung heißt: Verdächtigung und Schuldzuweisung



    Ich denke an die Haltung, Meinungen, die wir nicht teilen, zu verdächtigen oder anderen Schuld zuzuweisen.



    „Das Zweite Vatikanische Konzil ist an allem Schuld“, hörte ich kürzlich jemanden sagen. Das ist eine unsinnige Schuldzuweisung und Verdächtigung. Die kann es in unterschwelliger Art auch sonst in Kirche und Gemeinde geben. Ich finde es wichtig, auch diese Versuchung wahrzunehmen. Nämlich die Versuchung, anderen den guten Willen oder die wohlüberlegte Meinung abzusprechen. Die Versuchung, Sündenböcke zu suchen oder anderen falsche Absichten oder Vorurteile zu unterstellen.

    Wir müssen und können gar nicht in allen Fragen einer Meinung sein. Aber wir müssen und können mit Wertschätzung aufeinander hören und gegenteilige Meinungen ebenso sorgsam erwägen wie unsere eigenen. Eine solche Streitkultur hilft weiter. Dann dürfen wir darauf vertrauen, dass der heilige Geist in unseren Diskussionen nicht außen vor bleibt. Der Geist Gottes ist der Geist der Einheit. Diese Einheit betrifft sowohl unser Erzbistum als auch die Weltkirche. Erster Diener dieser Einheit ist unser Papst Benedikt. Seinem Bemühen, verlorengegangene Einheit wieder zu erlangen und neue Spaltung zu verhindern, wissen wir uns verpflichtet.



    4. Die Lebensqualität des Glaubens.



    Das Evangelium an diesem ersten Fastensonntag schließt mit den Worten Jesu: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“



    Die Zeit ist erfüllt. Das bedeutet: Mit dem Kommen Jesu in unsere Welt brauchen wir auf keine andere Zeit mehr zu warten. Alles, was für unsere Gegenwart und Zukunft entscheidend ist, ist geschehen durch Tod und Auferstehung Jesu.

    Worauf wartet ihr noch, müssen wir uns fragen lassen. Alles, was dem Leben Richtung und Sinn gibt, ist da. Weil Jesus Christus da ist. Weil das Reich Gottes nahe ist. Die Konsequenz daraus heißt dann: Kehrt um. Richtet euch nicht nach dem, was Mode oder Gewohnheit ist. Richtet euch nach dem Evangelium. Kehrt um und glaubt. Dann findet ihr die entscheidende Lebensqualität. Zu dieser Lebensqualität gehört, dass wir nicht allein sind auf unserem Glaubensweg. Gott hat uns zugesagt, dass er bei uns ist, dass er unsere Wege mitgeht. Wir können auf ihn hören. In seinem Wort, in den Regungen unseres Gewissens, in den Ereignissen unseres Lebens spricht er zu uns. Und wir können ihm antworten: Im Gebet und in Taten der Liebe. Mit uns auf dem Weg sind auch viele Schwestern und Brüder des Glaubens hier im Erzbistum und überall auf der Welt. Das ist Freude und Verpflichtung zugleich.

    Zur Lebensqualität des Glaubens gehört schließlich auch, dass unser Leben sich nicht im Kreis dreht. Wir sind nicht wie ein aufgezogener Kreisel, der irgendwann ins Trudeln gerät, umkippt und weggeräumt wird. Wir sind auf dem Weg zu einem Ziel, wo wir mit Freude erwartet werden.



    5. Der Blick auf das Ziel

    „Mit den Jahren runzelt die Haut“, sagte mir kürzlich jemand. Als ich ihn fragend anschaute, was er damit meine, fügte er hinzu: „Mit dem Verzicht auf Begeisterung runzelt die Seele.“

    Das Runzeln der Haut lässt sich nicht aufhalten. Aber unsere Seele kann jung bleiben. Denn wir gehen dem Jüngsten Tag entgegen, der vom Glauben zum Schauen führt. Auch wenn das unser Vorstellungsvermögen übersteigt, will uns Gottes Geist für dieses Ziel begeistern. Mit dem Blick auf das Ziel können wir trotz mancher Fragen und Sorgen mit Freude und Vertrauen den Weg des Glaubens gehen. Dazu segne Euch der Dreieinige Gott, der Vater und der Sohn und der heilige Geist. Amen.



    H a m b u r g, 3. Februar 2012, am Fest des Heiligen Ansgar

    † Werner

    Erzbischof von Hamburg
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen beim ökumenischen Gottesdienst zum fünfzigjährigen Flutgedenken / Emmauskirche in Wilhelmsburg / 19. 02. 2012
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    als ich gestern vor einer Woche morgens früh einen ersten Blick auf das Hamburger Abendblatt warf, durchfuhr mich ein gewaltiger Schreck. „Flutkatastrophe in Hamburg“ lautete auf der ersten Seite die Schlagzeile. Beim zweiten Blick war mir klar: Das ist nicht heute. Das war vor fünfzig Jahren.



    Ich weiß, dass manche, die vor fünfzig Jahren die Katastrophe miterlebt haben, von den furchtbaren Eindrücken bis heute begleitet werden. „Dieses Wasser läuft nie ganz ab“, sagte mir jemand, der dabei war.



    Weil alle, welche die Flut miterlebt haben, das niemals vergessen werden, deshalb ist es ein wichtiger Akt der Solidarität, dass wir alle gemeinsam zurückschauen: Betroffene und Nichtbetroffene. Weil wir in unserer Stadt zusammengehören und zusammenhalten, sind wir alle betroffen.



    Stadt der Toten, Stadt der Obdachlosen, Stadt der Armen, Stadt derer, die alles verloren haben, so hieß es damals hier. „Das kann sich nur einer vorstellen, der es miterlebt hat“, sagt mir jemand. Ich kann es mir nicht vorstellen. Dafür war die Katastrophe zu gewaltig. Aber etwas anderes kann ich mir vorstellen, auch wenn ich es nur aus Berichten weiß.



    Ich kann mir vorstellen, wie viel Anteilnahme, wie viel Hilfsbereitschaft, wie viel Solidarität damals hier gewachsen sind. Unabhängig von Sprache, Nationalität, Konfession und Religion wurde hier geholfen. Daran musste ich denken, als wir vom Apostel Paulus vorhin hörten: Glaube, Hoffnung, Liebe, das sind die großen Tugenden. Und dann sagt Paulus: Aber am größten ist die Liebe. Leid, Not und Tod waren damals hier mit Händen zu greifen. Aber die Liebe, die Hilfsbereitschaft, der Einsatz für andere, die waren auch mit Händen zu greifen.



    Und wo war Gott? Warum hat er die Katastrophe nicht verhindert? Warum passieren immer wieder Katastrophen, auch heute?



    Solches Fragen und Klagen gibt es auch in den Psalmen. „Mir bebt das Herz in der Brust, Furcht und Zittern erfassen mich“ (Ps 55). „Ich geriet in tiefe Wasser, die Strömung reißt mich fort“ (Ps 69). „Wach auf Gott, warum schläfst du?“ (Ps 44).



    Ähnliche Worte wie diese aus der Bibel werden vor fünfzig Jahren hier auch geschrien worden sein. Ich meine, es ist ehrlicher und angemessener, vor Gott so zu fragen und zu klagen als vorschnell kluge Antworten zu geben. Das gilt für jedes Leid, damals und heute. Aber ebenfalls gilt damals und heute: Am größten ist die Liebe. Dass wir nicht aufhören, der Not und dem Leid mit Liebe zu begegnen. Dass wir nicht aufhören, Deiche der Menschlichkeit zu errichten und dem Deichbruch von Gewalt und Egoismus die Liebe entgegenzusetzen.



    Vor einem Jahr habe ich in Wilhelmsburg für die Internationale Gartenausstellung den Brunnen der Religionen eingeweiht. Ich habe das Wasser gesegnet. Wasser kann Segen sein und Wasser kann Fluch sein. Wir leben in Hamburg auch vom Wasser. Es ist mit dem Wasser wie mit vielen anderen Dingen auch. Es kommt alles darauf an, dass wir sorgsam und wachsam damit umgehen. Mit dem Brunnen der Religionen setzen wir den Wassern der Zerstörung und des Todes vor fünfzig Jahren die Wasser des Lebens entgegen. Jedenfalls dann, wenn wir das Wort des Paulus beherzigen: Am größten ist die Liebe. Amen
  • Predigt des Erzbischofs aus Anlass des 85. Geburtstages von Erzbischof Dr. Ludwig Averkamp / St. Marien-Dom zu Hamburg / 16. 02. 2012
    Lieber Erzbischof Ludwig,

    verehrte, liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst,

    liebe Gemeinde,



    es war im Februar 1998. Erzbischof Ludwig wird in einem Interview der Katholischen Nachrichtenagentur aus Anlass seines 25jährigen Bischofsjubiläums sinngemäß gefragt: Was ist das wichtigste in der Seelsorge?



    Die Antwort, die er gibt, wird überall in Deutschland abgedruckt. Sie lautet: Das größte Problem in der Seelsorge ist – am besten mache ich jetzt eine Pause und frage Sie, liebe Brüder im Diakonen-, Priester- und Bischofsamt, die Sie alle Fachleute in dieser Thematik sind – wie würden Sie den Satz zu Ende bringen: Das größte Problem in der Seelsorge ist . . . Erzbischof Ludwig sagte es so, und es gilt heute mehr denn je: Das größte Problem ist der Verlust des täglichen Gebetes, des persönlichen Gebetes und des Gebetes in den Familien.



    Dann führte er dazu aus: „Wenn jemand das Beten nicht mehr gewohnt ist, besteht er nach einiger Zeit auch nicht mehr die Mitfeier des Gottesdienstes, denn die lässt sich nur betend bestehen“ (Gottesdienst Nr. 5, 19.3.1998).



    Sinngemäß fährt Erzbischof Ludwig dann fort: Beten ist die tägliche Unterstützung des christlichen Blutkreislaufes. Ohne Gebet kommt es bald zum spirituellen Kollaps.



    Aus dieser Erkenntnis heraus hat Erzbischof Ludwig dann selbst immer wieder angeboten, mit ihm das Beten einzuüben. Einmal kam er von solch einer Gebetsschule zurück und erzählte mir folgende Erfahrung: Die Teilnehmer an der Gebetsschule konnten auch zum Einzelgespräch zu ihm kommen. Eine Frau, deren Mann auch an der Gebetsschule teilnahm, klagte: Ich bete das Abendgebet immer erst still für mich im Bett, wenn das Licht aus ist. Denn ich will meinen Mann nicht beschämen. Der betet nämlich nicht.



    Später kommt dieser Mann auch zum Gespräch und sagt: Eigentlich würde ich gern gemeinsam mit meiner Frau beten. Aber ich trau mich nicht, sie darauf anzusprechen, denn meine Frau betet nicht.



    Offenbar gehört geistliches Tun zu den letzten großen Tabus, auch unter Ehepartnern.



    Gebet als Ausdruck der Freundschaft mit Gott. Da sind wir direkt beim Evangelium heute. Jesus sagt: Ihr seid meine Freunde. Für die Freundschaft mit Jesus ist das Gebet unverzichtbar. So wie es für Freunde unverzichtbar ist, miteinander zu reden.



    Ihr seid meine Freunde, sagt Jesus. Die Freunde Jesu sind auch untereinander Freunde. Das Breviergebet ist dafür ein schönes Zeichen. Wenn ich das Brevier aufschlage, dann ist mir bewusst: Dieselben Psalmen, dieselben Lesungstexte, dieselben Fürbitten haben heute auch die Mitbrüder vor Augen und im Herzen.



    Erzbischof Ludwig wies vorhin in seinem Vortrag darauf hin, dass Jesus alles tut, „um uns in das Haus des Vaters zu bringen. Das ist kein äußerliches Werk. Das geschieht innen in uns. Wir müssen bereitet werden für die Wohnungen Gottes. Daran arbeitet Jesus unser Leben lang.“



    In der Konsequenz heißt das: Wir müssen Jesus Gelegenheit geben, an uns zu arbeiten. Das Gebet ist dazu eine herausragende Möglichkeit. Wir beten ja nicht, um Gott zu verändern. Wir beten, damit Gott uns verändern kann.



    Am Ende des Vortrags von Erzbischof Ludwig vorhin hieß es von dem Schiffsjungen, der als einziger nach dem Ziel der Reise fragt: „Er geht durch die Tage, als hätte er fortwährend ein unbekanntes Lied auf den Lippen. Vielleicht fragen sie (die anderen) ihn eines Tages danach.“



    Je intensiver wir das Lied der Erlösten täglich in unserem Leben anklingen lassen, desto mehr werden auch uns die Mitmenschen danach fragen.



    Mich erinnert das Ende von Erzbischof Ludwigs Vortrag an das Ende des Buches Sacharja im alten Testament. Dort heißt es: „So spricht der Herr der Heere: In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch“ (Sach 8.23).



    Man könnte auch sagen: Denn wir haben erfahren, ihr lebt in der Freundschaft mit Jesus.



    Natürlich kann man, ja muss man fragen: Klingt das nicht nach isolierter Frömmigkeit? Ist das nicht rein spirituell? Wo bleiben die Taten? Wo bleibt das Soziale, die Sorge für die Armen?



    Auf solche Fragen hat Erzbischof Ludwig im Jahre 2000 auf dem Hamburger Katholikentag so geantwortet: „Christen leben mit dem Auferstandenen unter dem Hoffnungshorizont des Reiches Gottes . . . Sie können freigiebig sein mit ihrem irdischen Leben. Sie können es . . . verschenken an andere Menschen.“ (Sein ist die Zeit, 94. Deutscher Katholikentag, Hamburg Seite 55).



    In dem schönen Ansgarlied, welches wir zu Beginn dieses Monats so oft gesungen haben, heißt es von Ansgar: „Du hast deines Herzens Liebe ganz dem Norden zugewandt.“



    Das gilt auch für Erzbischof Ludwig. Lieber Ludwig, wir freuen uns, dass du so gelassen, glaubensstark, brüderlich und hilfsbereit mit uns bist. Eine unserer historisch herausragenden Pfarreien heißt Ludwigslust. Manchmal denke ich, Ludwigslust könnte zum zweiten Namen für unser ganzes Erzbistum werden. Denn es ist eine Lust und Freude, gemeinsam mit dir, Ludwig, hier im Norden zu sein. Herzliche Segenswünsche!
  • Predigt des Erzbischofs anlässlich des Goldenen Priesterjubiläums des Dompfarrers Georg von Oppenkowski / St. Marien-Dom zu Hamburg / 11. 02. 2012
    Lieber Mitbruder Georg von Oppenkowski,

    liebe Mitbrüder, Schwestern und Brüder,



    Ihr seid meine Zeugen – das sagt Jesus im Evangelium den Jüngern damals.



    Ihr seid meine Zeugen – das hat sich unser Dompfarrer vor fünfzig Jahren von Jesus sagen lassen bei seiner Priesterweihe, gemeinsam mit fünfzehn anderen Mitbrüdern am Fest des Heiligen Ansgar 1962.



    Ihr seid meine Zeugen – diesem Auftrag ist Georg von Oppenkowski durch fünfzig Jahre hindurch treu geblieben: Als Kaplan in Osnabrück, Bad Iburg und Quakenbrück, als Pfarrer in Meppen und Hamburg, und hier als unser Dompfarrer, als Dechant und Ehrendomherr.



    Ihr seid meine Zeugen – Zeuge Jesu Christi sein, was bedeutet das?



    Es bedeutet nicht, teilnahmslos von etwas zu berichten.

    Es bedeutet nicht, ein kostbares Paket in Empfang nehmen und es ungeöffnet wei-tergeben.

    Es bedeutet nicht, etwas darlegen, was einen selbst nichts angeht.



    Zeuge Jesu Christi sein, das bedeutet:

    - selbst gepackt sein vom Evangelium.

    - persönlich sich von Christus geliebt und gesandt wissen

    - mit Herz und Verstand sich dem Geheimnis Gottes aussetzen



    So war und ist unser Dompfarrer fünfzig Jahre Zeuge Jesu Christi. Er hat in diese Zeugenschaft seine persönlichen Begabungen eingebracht, sein theologisches Wissen, seine menschliche Zuwendung, seine Anstrengungen und Mühen. Das hat ihn nicht nur selbst jung und beweglich gehalten. Das hat auch unzählige Menschen zu lebendiger Christusverbundenheit befähigt.



    Priesterweihe 1962 – das bedeutet: Beginn des priesterlichen Dienstes und Beginn des II. Vatikanischen Konzils fielen in dasselbe Jahr. Ich war noch Theologiestudent, aber auch ich habe die Begeisterung empfunden, die aus den Worten unseres Dompfarrers spricht, wenn er das Konzil erwähnt. Jetzt, fünfzig Jahre später, müssen wir nüchtern feststellen: Noch längst nicht sind alle Impulse des Konzils aufgegriffen und verwirklicht. Als ich mit unseren Priesterkandidaten Anfang des Jahres die Heilige Messe gefeiert habe, habe ich ihnen gesagt: Lest die Konzilstexte, studiert sie, sie sind wie ein Schatz, von dem erst ein kleiner Teil gehoben ist.



    Ich nenne als Beispiel einen kurzen Abschnitt aus der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. Da ist von der Störung des Gleichgewichts die Rede, an der die moderne Welt leidet, und diese Störung des Gleichgewichts hat ihren Ursprung im Herzen des Menschen. Der Mensch fühlt sich begrenzt in seinen Möglichkeiten, aber unbegrenzt in seinem Verlangen. Das führt zu einer inneren Zwiespältigkeit. Das führt zu der Frage: Was ist der Mensch überhaupt, was ist der Sinn von allem? Und dann wird die Antwort ausgeführt. Sie beginnt mit dem Satz: Jesus Christus ist gekommen, um das Geheimnis des Menschen zu erhellen. Nur mit Christus kann der Mensch das Geheimnis seiner selbst ergründen und in vollem Sinn leben.



    Der Stadtteil, in welchem unser Dom steht, gehört zu den buntesten, schwierigsten, schönsten und vielfältigsten in Hamburg. Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen, von denen das Konzil spricht, sind hier deutlicher zu erfahren als anderswo.



    Unser Dompfarrer hatte schnell erkannt, das hier die christlichen Kirchen besonders gut zusammenhalten müssen und dass wir als Kirche offen sein müssen für alle Mensche, egal welcher Nationalität, egal auch welcher Religion. Als ich vor Jahren zum ersten Mal unsere Domschule besuchte, fragte ich ahnungslos die Lehrerin, wie viel in der Klasse denn mit fremder Muttersprache aufgewachsen sein. Da sagte sie schmunzelnd: Die Meisten sind fremder Muttersprache, die mit deutscher Muttersprache kann man an einer Hand abzählen.



    Unser Dompfarrer steht mit all den Aufgaben nicht allein. Viele unterstützen ihn, die ich jetzt gar nicht alle nennen kann. Zwei Gruppierungen aber muss ich nen-nen, denen er sich besonders verbunden fühlt. Den KKV Hansa, deren Geistlicher Beirat er seit langem ist und die Kolpingfamilie. Kürzlich wurde mir sogar zugetragen, dass unser Dompfarrer nicht nur 50 Jahre Priester ist, sondern auch fünfzig Jahre Kolpingpräses. Und vorhin wurde mir in der Sakristei eine entsprechende Urkunde gezeigt, damit auch ja niemand daran zweifelt.



    Es fügt sich gut, dass unsere Feier heute auf den Gedenktag der Mutter Gottes von Lourdes fällt. Denn hier im Mariendom fühlen wir uns allen Marienwallfahrtsorten auf der Welt verbunden. Und für unseren Dompfarrer gilt das in besonderer Weise, denn nicht nur die Dompfarrei, sondern auch seine Pfarrei in Meppen war eine Mariengemeinde.



    Ihr seid meine Zeugen. Dieses Wort Jesu hat unser Dompfarrer in einem halben Jahrhundert auf vielfache Weise mit Leben erfüllt, mit seinem Leben. Unser herzlicher Dank gilt ihm, dem treuen Zeugen und dem, der ihn berufen hat, Jesus Christus. Amen
  • Verleihung der Ansgar-Medaillen an Herrn Hermann Huck und Herrn Hubert Maus – Laudationes / St. Marien-Dom Hamburg / 10. 02. 2012
    In diesen Tagen sind sie wieder an vielen Orten in Hamburg zu sehen: die Plakate und Programmhinweise zu unserer St. Ansgar-Woche. Die Woche ist in jedem Jahr ein wichtiger Termin für unsere Kirche in Hamburg: zur Vergewisserung und Neuorientierung von uns selbst; aber auch um in der Öffentlichkeit auf unsere Anliegen aufmerksam zu machen.



    Sie, Herr Hermann Huck, sorgen Jahr für Jahr für den großen Erfolg unserer St.-Ansgar-Woche. Seit mehr als 15 Jahren sind Sie als Gemeindeglied von Heilig Kreuz in Volksdorf ehrenamtlich im Stadtpastoralrat für Hamburg tätig. Außerdem sind Sie Vorsitzender des St. Ansgar-Ausschusses.

    Als solcher prägen Sie jedes Jahr mit vielen guten Ideen unsere St. Ansgar-Woche. Sie halten die Fäden in der Hand und sorgen für ein gutes Gelingen. Ohne Ihre Geduld, Hartnäckigkeit und den Willen, das katholische Hamburg in der Öffentlichkeit zu präsentieren, wäre unsere St. Ansgar-Woche bei weitem nicht so erfolgreich.

    Sehr geehrter Herr Huck, für Ihre Verdienste verleihe ich Ihnen in großer Dankbarkeit und hoher Wertschätzung die Ansgar-Medaille des Erzbistums Hamburg.



    Während Herr Huck dafür sorgt, dass unser Erzbistum in der Öffentlichkeit gut vertreten ist, schauen Sie, Herr Hubert Maus, dass wir finanziell und wirtschaftlich auf gesunden Füßen stehen. Sie waren lange Bankdirektor im mecklenburgischen Hagenow. An Ihnen können wir sehen, dass unser Bild vom „Banker“ oftmals reichlich schief ist. Sie bringen Ihren finanziellen Sachverstand an vielen Stellen in unserem Erzbistum ein und verkörpern stets den „ehrbaren Kaufmann“, wie man sich ihn wünscht.

    Seit über zehn Jahren sind Sie für Mecklenburg in unserem Kirchensteuerrat ehrenamtlich tätig. Seit 2003 sind Sie zudem in unserem diözesanen Vermögensverwaltungsrat Mitglied. Dort sind Sie auch im Anlageausschuss vertreten. Auf diese Weise schauen Sie immer gewissenhaft und kritisch auf unser Arbeiten, geben Anregungen und üben so eine wichtige Kontrollfunktion aus.



    Auch unsere Bernostiftung profitiert stark von Ihrem Wissen und Engagement. Dort sind Sie seit 2009 Berater für wirtschaftliche Fragestellungen im Zusammenhang mit unseren Schulneubauprojekten. Selbst im Tagesgeschäft sind Sie ab und an tätig, wenn ein Engpass vorliegt.

    Sehr geehrter Herr Maus, für Ihre Verdienste verleihe ich Ihnen in großer Dankbarkeit und hoher Wertschätzung die Ansgar-Medaille des Erzbistums Hamburg.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum Abschluss der Ansgarwoche / St. Marien-Dom Hamburg / 10. 02. 2012
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    „Hier bin ich, sende mich“. Der Ausruf des Propheten Jesaja heute in der ersten Lesung hat bleibende Aktualität. „Hier bin ich, sende mich“, das passt zu unserem ernannten neuen Dompfarrer Peter Mies, der heute in das Domkapitel aufgenommen wird. „Hier bin ich, sende mich“, das passt auf je eigene Weise zu Herrn Huck und Herrn Maus, die heute mit der Ansgarmedaille ausgezeichnet werden.



    Sich senden lassen von Gott, das ist Konsequenz aus Taufe und Firmung. Sich senden lassen, das gehört in allgemeiner Weise zu allen Christen. Und doch ist es etwas sehr Persönliches. So wie es dem Alter, den familiären und beruflichen Vorraussetzungen, den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten entspricht.



    „Hier bin ich, sende mich“, wer sich so fordern lässt, der hält sich nicht heraus, der bringt sich ein. Der ist nicht in der Rolle des Zuschauers, sondern des Akteurs. Nicht zuerst in der Rolle des Kritikers, sondern zuerst in der Rolle des Handelnden. Aber wer handelt, hat auch mit Kritik zu tun, aktiv und passiv. Das ist in Ordnung.



    Zurzeit erfahren wir als Kirche viel Kritik. Auch das ist in Ordnung, wenn die Kritik sachlich ist. Offenbar reizen wir als Kirche besonders zur Kritik in der Öffentlich-keit. Und warum? Weil wir Fehler machen. Dann ist Kritik richtig und wichtig. Aber als Kirche reizen wir auch deshalb zur Kritik, weil wir feste Grundsätze haben. Nicht selbstgemachte Grundsätze. Sondern Grundsätze des Evangeliums. Grundsätze Jesu. Und immer wieder ringen wir darum, was in der Kirche Menschensatzung ist und was Gottes Satzung ist. Was veränderbar ist und was bleiben muss.



    In der vergangenen Woche ging es in den Medien vor allem um die Frage, wann menschliches Leben begonnen hat und wann noch nicht. Salopp ausgedrückt ist es die Frage nach den unterschiedlichen Wirkweisen der „Pille danach“. Durch neue medizinische Entdeckungen entstehen hier immer wieder neue Fragen, die höchst differenziert zu betrachten sind. Jede vorschnelle Antwort verbietet sich hier. Ich wundere mich, wie spontan da manche sofort Antworten parat haben.



    „Hier bin ich, sende mich“. In der Ansgarwoche, die heute Nachmittag mit der Vesper im Großen Michel zu Ende geht, lade ich immer die Mitbrüder aus der orthodoxen Kirche zu einem festlichen Mittagessen ein. Jeder erzählt dann auch von seinen Sorgen. Wenn ich dann höre, wie schwer es die Kopten etwa oder die Syrer in ihren Heimatländern haben, dann macht mich das nachdenklich. Auch wir haben es als Kirche in Deutschland nicht immer leicht. Aber wir werden nicht verfolgt. Wir können in Freiheit unseren Glauben praktizieren. Es hindert uns niemand, in Wort und Tat auf Gott hin zum Ausdruck zu bringen: „Hier bin ich, sende mich.“



    Dabei geht es uns bisweilen so wie den Jüngern am See Genezareth im Evangelium heute. Viele Stunden gearbeitet – nichts erreicht. Ja, auch heute ist unser Einsatz für das Evangelium nicht immer erfolgreich. Aber dann machen wir es wie die Jünger damals: Wir wenden uns an Jesus mit den Worten: Weil du es sagst, fangen wir wieder neu an. Weil du es sagst, antworten wir dir ganz persönlich: „Hier bin ich, sende mich“. Amen

  • Eröffnung der St. Ansgar Woche 2012 / St. Marien-Dom zu Hamburg / 29. 01. 2012
    Liebe Schwestern,

    liebe Brüder,



    was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazareth?



    So schreit der Atheist, der Widergöttliche, im Evangelium. Und das bedeutet: Wir wollen nichts mit dir zu tun haben, Jesus. Das gilt für Atheisten damals und heute: Sie wollen nicht glauben.



    Nun ist der Glaube an Gott ja nicht wie ein Naturereignis, das über einen hereinbricht. Der Glaube ist eher wie ein Liebesangebot, das man annehmen und ausschlagen kann. Der Glaube ist nicht so zwingend und beweiskräftig, dass ein vernünftiger Mensch gar nicht anders könnte, als an Gott zu glauben. Der Glaube ist sinnvoll. Der Glaube widerspricht nicht menschlichem Denken und wissenschaftlicher Logik. Der Glaube entspricht menschlicher Sehnsucht und menschlichem Empfinden. Aber es gehört zur Freiheit des Menschen, ob er Glauben will oder nicht. Der Atheist im Evangelium und auch der Atheist heute will nicht glauben. Aber er will auch nicht, dass andere glauben. Deshalb attackiert der Atheist Jesus damals. Deshalb attackiert der Atheist die Gläubigen heute.



    Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazareth? Nicht nur der Atheist kann so fragen. Auch der Gläubige kann so fragen. Was haben wir mit dir zu tun, Jesus, so können wir fragen und selbst auch die Antwort geben. Ja, wir haben mit dir zu tun, Jesus. Denn wir sind getauft und gefirmt, dein Geist ist in uns lebendig. Wir haben mit dir zu tun, weil wir Kontakt zu dir halten im Gebet, im Gottesdienst in Nächstenliebe. Wir sind dankbar und froh, Christus, dass wir mit dir zu tun haben. Denn du gibst unserem Leben Weite und Sinn. Aber wir müssen wachsam sein, weil die Attacken des Unglaubens in unserer Zeit heftig sind.



    Als Christen, als Glaubende als solche, die mit Jesus Christus zu tun haben, stehen wir in einer großen Gemeinschaft durch die Jahrhunderte hindurch. Es beginnt mit Ansgar, dem Benediktinermönch, der als erster kirchliche Strukturen hier im Norden geschaffen hat. Damals schrien die Wikinger, was haben wir mir Jesus zu tun, und sie zerstörten immer wieder all das, was Ansgar und andere christliche Missionare hier aufbauten. Aber die Spur des Glaubens hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer tiefer hier im Norden eingegraben. Über Vicelin und Ansverus, Niels Stensen bis hin zu den Lübecker Märtyrern, deren Gedenken und Seligsprechung wir im letzten Jahr feierlich begangen haben.



    Wir haben zur Geschichte unseres Glaubens im Statiogang des Domes hier eine kleine Ausstellung errichtet. Ich werde sie im Anschluss an diesen Gottesdienst eröffnen. Sie sind eingeladen, daran teilzunehmen. Sie können in der Ausstellung Antworten finden auf die Frage, was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazareth.



    Die Ausstellung erzählt davon, was Christen im Norden durch die Jahrhunderte hindurch mit Jesus zu tun hatten. Aber noch viel spannender ist ja die Frage, was wir heute mit Jesus zu tun haben. Die Ausstellung zeigt gleichsam die Wurzeln, den Stamm, die Äste des Baumes, so wie der Glaube durch die Jahrhunderte im Norden gewachsen ist und welche Früchte der Baum in der Vergangenheit hervorgebracht hat. Aber wie sieht es mit den Früchten heute aus?



    Es gibt auch heute eine große Anzahl von Früchten des Glaubens. Ich denke an Menschen, die treu im Alltag den Glauben leben. Oder an Frauen, Männer und Jugendliche, die sich um ein lebendiges Gemeindeleben mühen, die Verantwortung übernehmen in Gremien und Verbänden. Ich denke an Eltern, Großeltern, Nachbarn, Erzieherinnen, Lehrer und viele andere, die ihre Fähigkeiten einsetzen, damit auch nachkommende Generationen mit Jesus zu tun haben.



    Wir haben im Erzbistum den schönen Brauch, dass innerhalb der Ansgarwoche einige Schwestern und Brüder mit der Ansgarmedaille ausgezeichnet werden. Ich werde die Ansgarmedaille am Ende dieses Gottesdienstes sechs Damen und Herren überreichen. Nicht so, als ob es nur sechs Personen im ganzen Erzbistum gibt, welche diese Auszeichnung verdient hätten. Es ist Aufgabe unseres Domkapitels mit dem Dompropst an der Spitze zu entscheiden, wer aus all den Anträgen die Ansgarmedaille erhalten soll. Das geschieht dann auch stellvertretend für viele andere mit. Aber es handelt sich immer um Menschen, die mit ihrem Leben und Wirken Antwort geben auf die Frage des Evangeliums heute, was sie zu tun haben mit Jesus von Nazareth.



    Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazareth? Seit dem Wirken des Heiligen Ansgar im 9. Jahrhundert geben Menschen hier im Norden auf diese Frage die Antwort eines persönlichen Glaubens, in Worten und in Taten. Jetzt ist es an uns, darauf zu antworten, was wir mit Jesus zu tun haben, und das ebenfalls mit Worten und Taten. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im Jahresschlussgottesdienst / St. Marien-Dom zu Hamburg / 31. 12. 2011
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    „Maria bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach“, sagt uns heute das Evangelium.



    Ist das nicht eine gute Anregung für uns jetzt am Ende dieses Jahres: Darüber nachdenken, was das Jahr uns gebracht hat? Das, was uns dabei in den Sinn kommt, können wir mit Dank und Bitte vor Gott bringen.



    Ich sehe viel Dankenswertes in diesem Jahr. Einiges nenne ich Ihnen, weil es Sie alle mehr oder weniger betrifft.



    Wir haben nach langer Vorplanung in diesem Jahr mit den Pastoralen Räumen im Erzbistum begonnen. Dadurch verändert sich die kirchliche Landschaft wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Die Veränderung ist notwendig, weil die Zahl der Priester ebenso zurückgeht wie die Zahl der Kirchenbesucher. Dazu kommt eine notwendige andere Veränderung. Immer mehr Getaufte und Gefirmte entdecken ihre Berufung als Christen und packen in den Gemeinde mit an. Dafür danke ich Gott. Zugleich bitte ich, dass noch viel mehr Menschen entdecken, was Gott ihnen zutraut und zumutet.



    Dankbar schaue ich auf den Papstbesuch in Deutschland zurück. Keine Rede im Deutschen Bundestag ist so aufmerksam kommentiert und diskutiert worden wie die von Papst Benedikt. Wir haben einen Papst, der zu den herausragenden Geistesgrößen unserer Zeit gehört. Dankbar wollen wir für Papst Benedikt beten.



    Dankbar schaue ich auf die Feiern in Lübeck mit der Seligsprechung und dem ehrenden Gedenken der vier Märtyrer. Die katholischen und evangelischen Geistlichen sind uns Vorbilder. Ich bitte Gott, dass uns die gemeinsame Verehrung der Märtyrer weiter voranbringt auf unserem Weg zur Einheit der Christen.



    Dankbar schaue ich auf die Arbeit unserer Fachstelle für Kinder- und Jugendschutz. Wir haben sie in diesem Jahr eingerichtet nach den Erfahrungen mit den Missbrauchsfällen. Ich bitte Gott, dass Kinder in der Kirche und in der ganzen Gesellschaft intensiv Schutz und Hilfe erfahren.



    Umso erschrockener bin ich darüber, dass ein Kind bei der Krippenfeier in Bad Segeberg so schwere Brandverletzungen erlitten hat. Gott sei Dank ist es außer Lebensgefahr. Und ich danke Gott für den mutigen Helfer, der mit bloßen Händen gegen die Flammen vorging und so Schlimmeres verhindert hat. Ich habe der Familie des verletzten Kindes und der Familie des verletzten Helfers versprochen, dass ich sie auch weiterhin mit meinem Gebet begleite. Tun wir es alle gemeinsam.



    Als ich über all das Dankenswerte nachdachte und es wie Maria im Herzen erwog, da kamen mir noch viele andere Ereignisse in den Sinn, für die ich danken möchte. Und dann hat jeder von Ihnen ja noch all das ganz Persönliche, wofür er dankbar ist in diesem Jahr.



    Aber eine Frage stelle ich Ihnen und mir: Kann es sein, dass wir viel stärker ausgerichtet sind auf das, was misslungen ist, was fehlerhaft war, was uns bedrückt, und dass darüber dann das Danken zu kurz kommt? Ich wünsche Ihnen, dass Sie all das Dankenswerte dieses Jahres, auch das ganz persönliche, vor Gott zum Ausdruck bringen.



    In der Lesung vorhin wies Paulus uns darauf hin, dass wir nicht Sklaven sind. Wir sind nicht Sklaven, sondern Kinder Gottes. Das regt uns an, Gott auch freimütig unsere Bitten zu sagen. Vielleicht können Sie sich entscheiden, was Ihre stärkste Bitte an Gott ist für das neue Jahr. Es tut so gut, diese Bitte dann auch an Gott zu richten. Dieser Gottesdienst ist dazu ja eine gute Möglichkeit. Aber vielleicht wollen Sie sich auch am Beginn des neuen Jahres dafür zu Hause Zeit nehmen.



    Bei den Sorgen, die uns alle betreffen und die wir als Bitten Gott hinhalten, nenne ich Ihnen drei Bereiche.



    Es hat sich in diesem Jahr herausgestellt, wie stark die Aktivitäten von Neonazis in unserem Land sind. Das geht bis zu Morden, deren Verursacher die staatlichen Stellen lange Zeit nicht erkannt haben. In unserer Bistumsregion Mecklenburg sind Neonazis besonders aktiv, auch im Anwerben junger Menschen. Beten wir um erhöhte Wachsamkeit bei allen Menschen guten Willens.



    Am ersten Weihnachtstag sind in Nigeria im Umfeld der Gottesdienste über vierzig Christen ermordet worden. Weltweit sind Christen die am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft mit den meisten Todesopfern. Die religiösen Gegensätze sind dabei oft nur ein Vorwand. Menschenrechte und eben auch Religionsfreiheit werden mit Füßen getreten. Aber immer noch werden von Deutschland aus Waffen geliefert an Länder, die brutal Menschenrechte verletzen. Auch hier ist die Bitte um Wachsamkeit wichtig.



    Kürzlich sprach mich jemand an, ob ich auch für die Soldaten in Afghanistan bete. Die Frage kam aus der Sorge um einen angehörigen Soldaten, der dort Dienst tut. Ich finde es wichtig, dass wir alle in unser Gebet mit einschließen, die sich wie die Soldaten in Afghanistan für den Frieden einsetzen. Am Ende des Gesprächs habe ich gesagt: Jeder Gottesdienst bei uns ist auch Ausdruck der Solidarität mit allen Menschen guten Willens.



    Liebe Schwestern, liebe Brüder, Dank und Bitte am Jahreswechsel helfen uns, genau das zu tun, was im Evangelium heute von Maria gesagt wird: Die Ereignisse des Jahres im Herzen bewahren und darüber nachdenken. Amen

  • Mehr Weihnachten geht nicht - Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen in der Christmette 2011 / St. Marien-Dom zu Hamburg / 24. 12. 2011
    Liebe Schwestern und Brüder,



    mehr Weihnachten geht nicht. So steht es vor einer der großen Einkaufspassagen hier in Hamburg.



    Die tiefere Sehnsucht



    Ich habe mir die wunderbaren Auslagen angeschaut, all das Schöne, was wir uns wünschen können. Und hinter manchem Wunsch verbirgt sich eine noch viel tiefere Sehnsucht.



    Hinter dem Wunsch nach trendiger Kleidung kann sich die Sehnsucht verbergen: Die Anderen sollen mich nicht übersehen. Hinter dem Wunsch nach duftendem Parfüm kann sich die Sehnsucht verbergen: Die Anderen sollen mich riechen können. Hinter dem Wunsch nach dem neuesten iPhone kann sich die Sehnsucht verbergen: Ich möchte mit anderen in guter Verbindung sein.



    In all unseren Wünschen steckt die Sehnsucht nach mehr: mehr Leben, mehr Erfüllung, mehr Freude.



    Aber jeder erfüllte Wunsch erzeugt über kurz oder lang neue Wünsche. Auch der Wunsch nach Weihnachtsbaum, Weihnachtsplätzchen und Weihnachtsbraten ist etwas Wunderbares, wenn er erfüllt wird. Aber irgendwann haben wir genug davon. Der einzige Wunsche, von dem wir nie genug haben können, die einzige Sehnsucht, die immer noch stärker wird, je mehr sie Erfüllung findet, ist die Sehnsucht nach Gott. Nur in Verbindung mit ihm gilt: Mehr Weihnachten geht nicht.



    Der einzige Wunsch



    Ich war noch ganz erfüllt von den wunderbaren Angeboten in der Einkaufspassage, da meldet sich mein Handy. Eine schlimme Nachricht: Einer unserer Diakone ist mit seiner Frau im Auto lebensgefährlich verunglückt. Blitzeis.



    Auf der Intensivstation kann ich ihn vor lauter Apparaten und Schläuchen zuerst nicht finden. Dann spende ich ihm die Krankensalbung: „Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen“, bete ich, während ich ihm Stirn und Hände mit dem Öl der Kranken salbe.



    Danach besuche ich seine Frau. Anders als ihr Mann ist sie bei Bewusstsein. „Ich habe nur einen einzigen Weihnachtswunsch“, sagt sie, „dass wir beide wieder gesund werden.“ Mehr Weihnachten ginge für sie in diesem Augenblick gar nicht, schießt es mir durch den Kopf.



    Nicht ohne das Kind



    Als ich mich vom Arzt verabschiede, erzählt dieser noch kurz von seinen beiden Kindern. „Weihnachten ohne Kinder ist kein Weihnachten“, sagt er. „Das Schönste an Weihnachten sind die leuchtenden Kinderaugen.“



    Ich sage dem Arzt: „Ja, wenigstens ein Kind muss dabei sein zu Weihnachten.“ Ich weiß aber nicht, ob er jetzt auch an das Kind von Bethlehem denkt.



    Auf dieses Kind von Bethlehem lenkt das Weihnachtsevangelium unseren Blick. „Ihr werdet ein Kind finden. Es liegt in einer Krippe. Weil in der Herberge kein Platz für das Kind ist.“



    Wenn ich mit diesem Kind von Bethlehem in Kontakt trete, dann erst trifft das Wort aus der Einkaufspassage in vollem Maße zu: Mehr Weihnachten geht nicht.



    Aber wie kann dieser Kontakt gelingen?



    Aufbrechen nach Bethlehem



    Von den Hirten auf Bethlehems Feldern hören wir die Worte: „Kommt, wir gehen nach Bethlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr verkünden ließ.“



    Wie können wir uns den Hirten anschließen? Auch wenn seitdem zweitausend Jahre vergangen sind?



    Einige von uns werden im wörtlichen Sinn nächstes Jahr nach Bethlehem gehen. 2012 machen wir dorthin die Pilgerfahrt unseres Erzbistums. Mich beeindruckt immer wieder neu der Eingang zur Geburtskirche. Die Eingangstür ist so niedrig, dass man sich tief bücken muss beim Eintreten.



    Dazu passt die chassidische Geschichte, in welcher der Rabbi gefragt wird, warum heutzutage die Menschen so wenig Erfahrung mit der Gegenwart Gottes haben. Die Antwort des Rabbi: „Weil sich niemand mehr so tief bücken will.“



    Wenn ich mich klein mache vor Gott, wenn ich mich sehnsuchtsvoll und demütig dem Kind in der Krippe zuwende, mit den Worten, die mir gerade in den Sinn kommen, dann stimmt es: Mehr Weihnachten geht nicht.



    Kommt, wir gehen nach Bethlehem. Das kann für uns auch bedeuten: Wir sorgen uns um die, die unsere Hilfe brauchen. Denn dafür steht das Haus Bethlehem auf St. Pauli mit den Schwestern von Mutter Teresa. Dafür steht auch die Adveniatkollekte für die Armen in Südamerika, die wir auch an diesem Weihnachtsfest wieder halten. Wer mit den Armen teilt, der teilt mit dem Kind von Bethlehem. Denn es gilt das Wort Jesu: „Was ihr für die Armen tut, das tut ihr für mich.“ Wahrhaftig, mehr Weihnachten geht nicht.



    Kommt, wir gehen nach Bethlehem. Sie sind in dieser Nacht der Aufforderung bereits gefolgt. Denn auch hier im Mariendom ist jetzt Bethlehem. Die Krippe ist dafür auch ein Zeichen. Aber das entscheidende Zeichen ist gleich das Brot, über das wir im Auftrag Jesu sprechen: „Das ist mein Leib für euch.“ Das Kind von Bethlehem damals und das Brot der Wandlung heute sind identisch. Mehr Weihnachten geht nun wirklich nicht.



    In dieser Perspektive werden dann auch alle Geschenke unvergleichlich kostbar. Denn sie sind dann Zeichen des Teilens. Teilen als Hinweis auf den lebendigen Gott, der unser Menschsein mit uns geteilt hat. In ihm erfüllt sich alle menschliche Sehnsucht. Mit ihm können wir Mensch sein, menschlich handeln, menschlich teilen. Und dann gilt im umfassenden Sinn: Mehr Weihnachten geht nicht. Amen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum „Anderen Advent“ / Hauptkirche St. Petri, Hamburg / 13. 12. 2011
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    Feuer, das ist das Thema dieser 3. Adventswoche.



    Vorgestern hat hier der Leiter der Feuerwehr gesprochen. Feuer ist gefährlich. Feu-er kann furchtbar wüten.



    Gestern waren die Pfadfinder hier mit dem Friedenslicht aus Bethlehem. Feuer, das in der Geburtsgrotte entzündet wurde. Feuer als Zeichen des Friedens.



    Ist Gott wie Feuer? Furchtbar und Friede zugleich?



    Furchtbar bist du (Ps 76,5; Ps 66,3 u.a.), wird Gott angesprochen in den Gebeten Israels, den Psalmen. Aber die Bibel sagt uns auch: Gott ist unser Friede (Eph 2,14).



    Was bist du, Gott, für mich? Bist du furchtbar oder bist du Friede, oder vielleicht beides zugleich?



    Gott ist Geheimnis. Wir können ihn nicht definieren, nicht begrenzen. Gott sprengt alle Grenzen. Deshalb suchen wir Bilder für Gott. Um überhaupt eine Vorstellung von ihm zu haben. Feuer ist ein solches Bild für Gott. Feuer sagt uns: Gott ist furchtbar wie Feuer. Gott ist aber auch wärmend und erhellend wie Feuer.



    Der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal schreibt in der Nacht seiner Bekeh-rung: „Feuer. Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Gott . . . der Gelehrten.“



    Nicht der Gott der Gelehrten? Klar, nicht der ausgedachte Gott. Nicht der Gott, der gerade Mode ist, nicht der Gott der Schlagzeilen. Nicht der Gott meiner Phantasien und Wünsche.



    Feuer. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Der Gott, der sich in der Geschichte wirksam gezeigt hat. Der Gott, der Israel auf seiner Wüstenwanderung in einer Feuersäule voranleuchtete (Ex 13,21 f). Der Gott, von dem der Prophet Joël sagt: Vor ihm her verzehrendes Feuer, hinter ihm lodernde Flammen (Joël 2,1.3). Das ist der Gott der Bibel, der Gott Jesu Christi.



    Feuer. Jesus sagt. Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe. Wer mit Gott zu tun bekommt, erlebt beides: das schmerzlich Brennende, weil Gott so ganz anders ist, weil sein verzehrendes Feuer mir manches wegnimmt, wegbrennt. Wer mit Gott zu tun bekommt, erlebt aber auch die Wärme seiner Zuwendung, das Licht auf dem Lebensweg.



    Feuer. Wie gehe ich mit diesem Feuer um, welches Gott für mich sein will? Halte ich Gott auf kleiner Flamme in meinem Leben, damit er mir ja nicht zu nahe kommt? Errichte ich Brandmauern gegen Gott, wenn er mir meine Schuld weg-brennen will? Oder wenn er mir schmerzliche Veränderungsprozesse zumutet?



    Lege ich für das Feuer, das Gott in meinem Leben sein will, genügend Holz nach? Beten ist wie Holz nachlegen, damit das Feuer Gottes in meinem Leben aufleuchten kann. Nächstenliebe ist wie Holz nachlegen, damit das Feuer Gottes in meinem Leben genügend Nahrung bekommt. Auch dieser „Andere Advent“ jetzt ist wie Holz nachlegen, damit das Feuer Gottes mich erwärmen kann. So bezeuge ich Gott. So lege ich für ihn die Hand ins Feuer.



    Gott, du bist wie Feuer in meinem Leben. Du willst alles Ungute in meinem Leben ausbrennen. Du willst mein Leben erwärmen und erhellen. Du, der Gott in der Geschichte Israels. Du, der Gott in der Geschichte der Kirche. Du, der Gott in meiner ganz persönlichen Geschichte. Du bist wie Feuer. Und ich entbrenne nach dir. Amen.
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen anläßlich der Einführung von Pröpstin Kirsten Fehrs als evangelische Bischöfin für Hamburg und Lübeck / Dom zu Lübeck / 26. 11. 2011
    Sehr geehrte Frau Bischöfin Fehrs,

    sehr geehrter Herr Bischof Ulrich,

    sehr geehrter Herr Minister Dr. Klug,

    sehr geehrter Herr Senator Neumann,

    sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin Schopenhauer,

    sehr geehrter Herr Landesbischof Bohl,

    sehr geehrte Frau Dontsova,



    im Auftrag aller Gläubigen im Erzbistum Hamburg habe ich heute mit Ihnen, sehr geehrte Frau Bischöfin Fehrs, Ihre Einführung zur evangelischen Bischöfin für Hamburg und Lübeck gefeiert. Ich weiß, dass viele Segenswünsche und Gebete auch aus dem Erzbistum Sie an diesem Tag begleiten. Das freut mich sehr.



    Die Einführung in ein verantwortungsvolles Amt ist ja stimmungsmäßig eine widersprüchliche Angelegenheit. Man ist sich sicher: Gott geht mit. Und dennoch sind da Fragen: Wie wird das wohl werden? Was kommt da alles auf mich zu? Der diesjährige Literaturnobelpreisträger, der schwedische Dichter Tomas Tranströmer, drückt diese Stimmung so aus: „Gottes Wind im Rücken./ Der Schuß, der geräuschlos kommt.“



    Sehr geehrte, liebe Schwester Fehrs! Ich kann mir gut vorstellen, dass die Wahl zur Bischöfin von Hamburg und Lübeck und die heutige Einführung, bei aller Freude, für Sie auch so etwas sind wie ein aufschreckender Schuss. Denn die Verantwortung, die Sie übernommen haben, ist enorm. Ohne den Wind des heiligen Geists und den Segen Gottes ist Ihre Aufgabe wahrlich nicht zu meistern.



    Ihre Kirche geht auf einen großen Zusammenschluss im nächsten Jahr zu. Aus Drei wird Eins. Auch nach der feierlichen Vereinigung am Pfingsttag nächstes Jahr werden Sie und Ihre evangelischen Schwestern und Brüder von der polnischen bis zur dänischen Grenze viel Kraft und Konzentration in das Zusammenwachsen der verschiedenen Regionen einbringen. Ich spüre bei uns im Erzbistum, wie viel Einfühlungsvermögen und Geduld das Zusammenwachsen von Ost und West auch in der Kirche benötigt.

    Ich wünsche mir sehr, dass Sie den Wind Gottes auch im gemeinsamen ökumenischen Wirken erfahren werden. Dieser geisterfüllte Wind war für mich deutlich zu spüren, als wir vor fünf Monaten hier im Dom und in der unmittelbaren Nachbarschaft das Gedenken der vier Lübecker Märtyrer feierten.



    In vielen ökumenischen Gesprächen und Begegnungen, im gemeinschaftlichen Beten und Feiern, im gemeinsamen Zeugnis von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist zwischen der Nordelbischen Kirche und dem Erzbistum Hamburg viel Gutes gewachsen. Im Glauben an den dreifaltigen Gott haben wir eine tief wurzelnde Geschwisterschaft gefunden. Diese Geschwisterschaft macht es uns möglich, die ökumenische Hoffnung bei allem Auf und Ab stets mit Leben und Kraft zu erfüllen.

    Ich freue mich sehr darauf, zusammen mit Ihnen die Menschen im Norden zum Evangelium Christi einzuladen. Besonders liegt es mir am Herzen, gemeinsam dem Auftrag Jesu zu folgen und der weitverbreiteten Perspektivlosigkeit in unserem Land die Stirn zu bieten.

    Sehr geehrte Frau Bischöfin Fehrs! Zu Ihrer Einführung wünsche ich Ihnen von Herzen Gottes Segen!
  • Märtyrergedenken. Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen / Lübeck. Herz-Jesu-Kirche / 10. 11. 2011
    Lieber Schwestern, liebe Brüder,



    „Als Lübecks Türme, Zeugen vergangener Frömmigkeit, zusammengebrochen waren, gefiel es Gott, sich neue Türme zu bauen, Zeichen lebendigen Glaubens“. So wurde es vorhin wieder verkündet aus dem Lübecker Martyrologium.



    Neue Türme, Zeichen lebendigen Glaubens – wahrhaftig, unsere vier Märtyrer sind Leuchttürme lebendigen Glaubens auch in unserer Zeit.



    Werden sie es bleiben? Auch in Zukunft? Auch wenn die Zeitzeugen und die Kinder und Enkel der Zeitzeugen nicht mehr auf die Türme hinweisen können?



    Damit diese neuen Türme, diese Zeichen lebendigen Glaubens auch in ferner Zukunft nicht in Vergessenheit geraten, nicht einstürzen, nicht abgetragen werden, deshalb haben wir im Juni hier das große Gedenkfest gefeiert. Und wenn es einmal niemanden mehr gibt, der sich an den 10. November 1943 erinnern kann, dann wird es immer noch viele geben, die sich an den 24. und 25. Juni 2011 erinnern.



    Mit unseren Feiern in der Lutherkirche und auf der Parade haben wir eine weitere Phase des Gedenkens eingeleitet. Diese wird sich immer auf den Tag des Martyriums stützen, den 10. November. Aber sie wird ab jetzt immer auch die drei Tage im Juni in den Blick nehmen. Den 23. Juni aus dem Jahr 1943 als Tag der Verurteilung zum Tod und aus diesem Jahr 2011 den 24. Juni als Tag des ehrenden Gedenkens in der Lutherkirche und den 25. Juni als Tag der Seligsprechung auf der Parade. Und immer wird das Gedenken allen vier Märtyrern gelten. Dazu verpflichtet uns die Bitte Jesu aus dem Evangelium heute, dass wir eins sein sollen.



    Die Zeit fließt dahin. Wie ein unaufhörlicher Strom. Mit unseren Gedenktagen können wir die Zeit nicht aufhalten. Aber wir geben der Zeit eine Struktur durch die Gedenktage. Und so geben wir unserem Leben und unserem Glauben ein Profil.



    Gedenktage sind wichtig. Ebenso wichtig sind Gedenkorte. Die Lutherkirche mit der Urne Karl Friedrich Stellbrinks und die Herz-Jesu-Kirche mit der Urne Hermann Langes bleiben unüberbietbare Orte des Gedenkens.



    Dass die Asche von Eduard Müller und Johannes Prassek auf die Felder rings um das Krematorium Neuengamme verstreut worden ist, und nicht mehr auffindbar ist, nicht mehr an einem Ort zusammengetragen werden kann, nehme ich als Zeichen dafür, dass jetzt an jedem Ort unserer vier Märtyrer gedacht werden kann. An jedem Ort, an dem das Evangelium verkündet und gelebt wird. An jedem Ort, an dem Gebet und Nächstenliebe praktiziert werden, an jedem Ort, an dem der Glaube der Märtyrer lebendig ist.



    Deshalb ist es auch gut, dass es inzwischen viele Ort gibt, die auf die Lübecker Märtyrer hinweisen: Straßennamen und Schulen, Plätze, Parks und Pfarrheime. Und das nicht nur in Lübeck, nicht nur in Schleswig-Holstein, nicht nur im Norden. Orte des Alltags mit Namen der Lübecker Märtyrer lassen die Lübecker Türme des Glaubens weit hinausstrahlen in unserer Zeit und Gesellschaft.



    Gedenktage, Gedenktorte – ich will auch noch Gedenkaktionen nennen. Aus Anlass der Feiern im Juni sind Lieder getextet und komponiert worden. Filme wurden gedreht, Ausstellungen arrangiert, Kunstwerke entworfen, Bücher und Artikel geschrieben. Das alles und vieles mehr ist sehr dankenswert und anregend.



    Mir persönlich geht es so, dass ich in Leben und Sterben unserer Märtyrer einen sehr geeigneten Stoff sehe für ein Oratorium. Die Uraufführung vielleicht einmal in Verbindung mit dem Schleswig-Holstein-Musikfestival. So gibt es mit Sicherheit noch viele Ideen, die verwirklicht werden können. Denn wir sind Menschen mit Augen und Ohren, mit Herz und Verstand. Je vielfältiger alle unsere Sinne und Kräfte angesprochen werden, desto mehr erfüllen die neuen Lübecker Türme ihre Aufgabe als Leuchttürme des Glaubens.



    Denn egal ob Gedenkzeiten, Gedenkorte, Gedenkaktionen, es geht darum, dass die Lübecker Märtyrer für uns nicht umsonst gestorben sind, dass ihr Leben und Sterben nicht ohne Wirkung bleibt für unseren Glauben. Ihr Gedenken hilft uns dazu, tot zu sein für die Sünde und zu leben für Gott, wie es in der zweiten Lesung heute heißt.



    Durch die Forschungsergebnisse gerade auch der letzten Jahre können wir ziemlich genau erfassen, wie sehr die Lübecker Märtyrer gelitten haben. Stellen Sie sich nur einmal folgende Szene vor. Nach der Verkündigung des Todesurteils wird einem der Märtyrer gesagt: „Sie brauchen nur aus der Kirche auszutreten, dann sind Sie sofort frei. Entscheiden Sie sich bis morgen.“ Und dann sitzt er einsam und schockiert in seiner Zelle und grübelt: Kirche oder Freiheit, sich anpassen oder sterben, zu Christus halten oder den Tod erleiden . . .



    Hätten wir es einem verdenken können, wenn er versucht hätte, seine Haut zu retten? Wir wissen nicht, ob die Vier die Möglichkeit dazu gehabt hätten. Aber wir wissen, dass die Vier so fest in Christus verwurzelt waren, dass sie ihm bis in den Tod hinein die Treue hielten.



    Aber wissen wir das wirklich so genau? Ist es nicht naheliegend, dass sie auch Stunden des Zweifels durchmachten? Stunden, wo sie Gott und die Welt nicht mehr verstanden, als ihnen von den Nazis vorgelogen wurde: Der Bischof hat euch fallengelassen? Auch Stunden furchtbarer Depressionen, als es hieß: Todesstrafe? Dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnten vor Todesangst und Sterbensnot? Wir müssen davon ausgehen, dass jeder der Vier in seiner einsamen Gefängniszelle durch qualvolle Dunkelheiten hindurchgegangen ist. Denken Sie an die erste Lesung vorhin, wo die Rede ist von den Lippen treuloser Lügner, von Not und Bedrängnis. Es liegt nahe, dass die Märtyrer viele innerliche Kämpfe durchzustehen hatten, bis endlich das Licht wieder stärker war als die Dunkelheit, der Glaube stärker als der Zweifel. Das übersteigt menschliche Kräfte. Dazu brauchte es die Kraft Gottes, für die sie offen waren.



    Das alles müssen wir uns bewusst machen. Denn es geht beim Gedenken der Märtyrer um uns, um unsere Zweifel, um unsere Anpassung an den Zeitgeist, um unseren oft so kleinen Glauben. Es geht darum, dass wir uns mit Hilfe des Märtyrergedenkens so in den Glauben an Gott einüben, dass wir den Anfechtungen, die uns zugemutet werden, standhalten können. Ich persönlich bin zuversichtlich, dass ich auch bei der letzten großen Anfechtung meines Lebens, nämlich beim Sterben, durch mein Denken an die Lübecker Märtyrer Trost und Stärkung erfahre.



    Deshalb ist das Gedenken an die Märtyrer nicht irgendeine religiöse Beliebigkeit, sondern eine existenzielle Anfrage an uns. Die vier Märtyrer stellen dich und mich vor die Frage: Und du, wie steht es mit deinem Glauben? Was tust du, damit dein Glaube wachsen kann, so wie er bei uns gewachsen ist? Was tust du, damit Christus in dir Wurzeln schlagen kann, so wie er in uns Wurzeln geschlagen hat?



    Die neuen Lübecker Türme, die Türme der glaubensstarken Märtyrer, geben uns die Chance, dass unser Glaube wachsen kann. Gedenktage, Gedenkorte, Gedenkaktionen können dabei ein wirksame Hilfe sein. Amen
  • Erzbischof Dr. Werner Thissen anlässlich der Verabschiedung der Ordensschwestern des Heiligen Karl Borromäus / Hamburg / 09. 11. 2011
    Begrüßung im Gottesdienst



    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    herzlich begrüße ich Sie zu diesem Gottesdienst. Mit dieser Feier gehen einhundertfünfzig Jahre segensreichen Wirkens der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Karl Borromäus in Hamburg zu Ende. Der Abschied tut richtig weh. Denn die Schwestern haben die katholische Kirche in Hamburg wesentlich mitgeprägt. Und sie haben enorm viel geleistet für Hamburger Bürgerinnen und Bürger.



    Fragend stehen wir vor dem lebendigen Gott. Ich frage vor allem: Was willst du uns damit sagen, Gott, dass auch die Berufungen zum Ordensleben so stark zurückgehen, so dass jetzt die letzten Schwestern dieses Ordens Hamburg verlassen?

    Willst du uns damit sagen, dass wir inzwischen gelernt haben müssen, dass alle Getauften dem Vorbild der Schwestern nacheifern müssen?



    Heute ist der Weihetag der Lateranbasilika in Rom. Das Fest ist über eintausendsechshundert Jahre alt. Vieles hat sich durch die Jahrhunderte hindurch in Kirche und Gesellschaft verändert. Wir müssen auch mit dieser Veränderung leben, dass wir nun auf absehbare Zeit diese liebenswerte Ordensgemeinschaft nicht mehr bei uns haben werden in Hamburg.

    Vor allem aber wollen wir Gott dafür danken, dass die Schwestern so segensreich bei uns waren. Für sie und für uns wenden wir uns an Jesus Christus. Wir huldigen ihm im Kyrie und bitten ihn um sein Erbarmen.





    Begrüßung beim Festakt



    Sehr geehrte Frau Senatorin Prüfer-Storcks,

    sehr geehrte Schwester Generaloberin Elisabeth Mues,

    sehr geehrter Herr Koch, mit allen, die im Marienkrankenhaus Verantwortung tragen,

    liebe Schwester Ansgara, mit allen Ihren Mitschwestern vom Heiligen Karl Borromäus, liebe Seelsorgerinnen und Seelsorger,

    sehr geehrte Damen und Herren,



    auch hier heiße ich Sie noch einmal herzlich willkommen. Es ist gut, dass wir auch nach dem Gottesdienst noch zusammenbleiben, um diesen denkwürdigen Tag gemeinsam zu begehen.

    Vor einiger Zeit sprach mich eine junge, schwangere Frau an: Sie möchte ihr Kind gerne im Marienkrankenhaus zur Welt bringen. Ob sie dazu denn katholisch sein müsse?

    Ich habe der jungen Dame versichert, dass in unserem Marienkrankenhaus alle Menschen, die Hilfe benötigen, diese auch bekommen. Die Konfession sei nicht entscheidend. Sie und ihr Kind seien in unserem Haus bestens aufgehoben.



    Die Episode hat mich schmunzeln lassen, aber auch nachdenklich gemacht. Zum einen: Das Marienkrankenhaus wird in Hamburg durchaus als ein kirchliches Haus wahrgenommen. Das hat mich sehr gefreut. Und zweitens: Wir sind jedoch noch nicht am Ende unserer Bemühungen, klar zu machen, dass alle die „sich plagen und schwere Lasten tragen“ (Mt 11, 28) in unseren kirchlichen Einrichtungen willkommen sind. Und dazu gehören insbesondere auch unsere Krankenhäuser.



    Damit habe ich schon deutlich gemacht, was Sie, verehrte Schwestern vom heiligen Karl Borromäus, in den letzten 150 Jahren hier geleistet haben. Und welchen Auftrag Sie uns für die Zukunft mit auf den Weg geben.

    Hier in der Danziger Straße gründeten Sie damals vor den Toren der Stadt mit einem Lazarett für die Verletzten des Deutsch-Dänischen Krieges die Keimzelle unseres Marienkrankenhauses. Hierher waren im Jahr 1861 schon Ihre „Vorläuferinnen“ gekommen, um ein Kinderheim zu führen, das später nach Bergedorf umzog. Auch die Gründung unserer Domschule ging auf die Initiative der Schwestern vom heiligen Karl Borromäus zurück.



    Von St. Georg aus entwickelte sich dann seit dem Jahr 1864 auch das Marienkrankenhaus im Stadtteil Hohenfelde. 1864, zwanzig Jahre vor der Gründung des heutigen Universitätsklinikums in Eppendorf, haben Sie nicht einfach nur ein Krankenhaus gegründet und dessen Entwicklung bis zum heutigen Tag begleitet.

    Durch die Jahre hindurch sind Sie vor allen Dingen dem urchristlichen Auftrag nachgekommen, den Kranken ein Arzt zu sein und die Schwachen zu pflegen. In den Spitzenzeiten waren bis zu siebzig Ihrer Schwestern hier in Hamburg tätig. Dadurch haben Sie hier in Hamburg auf ganz praktische Weise Zeugnis vom Evangelium abgelegt.

    Es ist Ihnen zu verdanken, dass das Marienkrankenhaus auch heute nicht „irgendein“ Krankenhaus ist. Ihre Präsenz am Krankenbett der Menschen und Ihr ständiges Gebet in Konvent und Kapelle haben das Krankenhaus durch und durch geprägt. Wenn Sie sich jetzt dazu entscheiden müssen, das Krankenhaus zu verlassen, dann können Sie sicher sein, dass die gute Saat, die Sie über viele Jahre gesät haben, auch weiterhin aufgeht.

    Gerade heute ist es wichtig, dass in einem Krankenhaus nicht nur medizinische Fälle abgewickelt werden, sondern der ganze Mensch in den Blick kommt. Das gilt für Anfang, Mitte und Ende seines Lebens. Wie wir mit kranken Menschen umgehen, sagt Wichtiges über unseren Glauben und über die Qualität unseres Zeugnisses aus. Wenn katholische Krankenhäuser zu einer Vertiefung der ethischen Reflexion im medizinischen und pflegerischen Alltag beitragen, dann ist Vieles gewonnen. Ihr praktisches Glaubenszeugnis hat für diese Reflexion den wertvollen Boden bereitet.



    Ich bin Ihnen, Schwester Ansgara, und Ihren Mitschwestern sehr dankbar für Ihren langjährigen Dienst in unserer Mitte. Wenn Sie nun aus Hamburg fortgehen, dann ist dies für uns alle sehr traurig. Und unsere besten Segenswünsche und Gebete gehen mit Ihnen. Sie haben Ihren Acker in Hamburg gut bestellt. Das Marienkrankenhaus wird auch in Zukunft ein Ort sein, an dem im Auftrag Christi der Mensch Beistand und Hilfe findet. Sei er katholisch oder nicht.

  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen anläßlich des zwanzigjährigen Jubiläums von IN VIA Hamburg e.V. / Hamburg - St. Marien-Dom / 28. 10. 2011
    Sehr geehrte Frau Anhaus,

    sehr geehrte Damen und Herren,



    das soziale Gewissen unserer Kirche ist in besonderer Weise mit den beiden Gedenktagen des Heiligen Joseph am 19. März und am 1. Mai („Joseph der Arbeiter“) verbunden. Der Handwerker Joseph steht als Heiliger ein für die Verbundenheit des Menschen mit Beruf und Arbeit.



    In Via geht besonders auf die Menschen zu, die beim Einstieg in die Welt von Beruf und Arbeit Unterstützung benötigen: junge Männer und Frauen, Migrantinnen und Migranten. Von daher fand ich es sehr passend, zum letzten Josephstag am 19. März 2011 ein Projekt von In Via besuchen zu können: das Sozialkaufhaus „fairkauf“ in Harburg. Ich war beeindruckt, wie dort zwei Ziele miteinander verbunden wurden: Zum einen können in diesem Kaufhaus Menschen ohne Arbeit Erfahrungen in verschiedenen Aspekten des Berufslebens sammeln. Zum anderen haben Bedürftige dort die Möglichkeit, günstig einzukaufen.



    Seit meiner Ankunft im Erzbistum Hamburg vor acht Jahren habe ich das Wirken von IN VIA an vielen Orten in unserer Stadt aus erster Hand miterlebt. Neben dem Besuch im Sozialkaufhaus am diesjährigen Josephstag ist mir besonders noch das Projekt in guter Erinnerung, bei dem IN VIA unter dem Namen „Startklar“ junge Menschen auf das Berufsleben vorbereitet. Persönlich habe ich dies in unserer Wilhelmsburger Bonifatiusschule kennengelernt.



    Zahlreiche weitere Besuche und Begegnungen sind mir in bester Erinnerung. Dabei wurde ich stets davon überzeugt: In einer Stadt wie Hamburg sind die vielfältigen Angebote, die IN VIA initiiert, unverzichtbar. Besonders junge Menschen, die in Schule und Ausbildung nach einer Lebensperspektive suchen, und Menschen, die aus anderen Ländern zugezogen sind, profitieren davon. Die Angebote von IN VIA bieten Orientierung und Unterstützung bei der herausfordernden Suche nach einem Platz im Leben unserer Gesellschaft.



    Ihnen Frau Anhaus und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bin ich für ihren unermüdlichen Einsatz sehr dankbar. Ich freue mich sehr, dass so viele Menschen IN VIA unterstützen. Möge der Segen Gottes auf die Fürsprache des heiligen Josephs Ihre wichtige Arbeit auch weiterhin begleiten.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum 20jährigen Jubiläum von In Via Hamburg e.V. / Hamburg - St. Marien-Dom / 28. 10. 2011
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    was unterscheidet die Apostel, deren Erwählung wir gerade gehört haben, von den Mitarbeiterinnen, Förderern, Fürsprechern und Freunden von In Via? Die Apostel sind das Fundament, auf dem der Bau der Kirche steht. Und alle, die sich für In Via engagieren, sind Steine in diesem Bau der Kirche. Deshalb passt es gut, dass In Via sein Jubiläum an einem Apostelfest feiert.



    Ohne die Steine der einzelnen Mitglieder und Förderer fehlte dem Bau der Kirche in Hamburg etwas Wichtiges. Es fehlte ihr Festigkeit, Stabilität, Überzeugungskraft. Ohne die Steine der einzelnen Mitarbeiterinnen und Freunde von In Via fehlte vie-len Menschen in Hamburg Mut und Zuversicht, Anregung und konkrete Hilfe.



    Bei meinen Besuchen von einzelnen Projekten von In Via habe ich gelernt, wie sehr die Stärken von In Via in Hamburg zum Tragen kommen. Zu diesen Stärken gehören Weckung und Förderung von Eigeninitiative, konkrete, praktische Hilfe, Zuwendung zu jedem einzelnen Menschen, beste Vernetzung in Politik und Gesell-schaft hinein.



    You can’t stop the wave, but you can learn to surf. Das englische Sprichwort passt gut zu In Via. Du kannst die Welle nicht stoppen, nicht aufhalten. Die Welle von Armut, die Welle von Isolierung, die Welle von mangelnder Eigeninitiative, die Welle von Hoffnungslosigkeit, you can’t stop the wave. Auch In Via kann diese Welle nicht stoppen. Aber In Via nimmt sich dieser Welle an und surft darauf. Das heißt, In Via nutzt die Welle, um andere voranzubringen.



    Im Evangelium heute heißt es von Jesus: Alle Leute wollten Kontakt mit ihm, denn es ging eine Kraft von ihm aus. Auf In Via übertragen könnte man sagen: Viele Leu-te wollen mit In Via zu tun haben, wollen Kontakt mit In Via, denn dieser Kontakt hat heilende, hat heilsame Wirkung. Weil es ein Kontakt ist, der motiviert ist vom Evangelium.



    Aber sieht der Alltag nicht doch anders aus? Es gibt so viele Probleme in Hamburg, so wie in jeder Millionenstadt. Ja, die Fülle der Herausforderungen kann auch mutlos machen. Die sozialen Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtteilen in Hamburg sind gewaltig. Da gibt es große Probleme.



    Aus Brasilien habe ich das Wort mitgebracht: Sage nie deinem Gott, dass du ein großes Problem hast. Sage deinem Problem, dass du einen großen Gott hast. Wir sind Steine im Bau der Kirche. Wir sind gegründet auf das Fundament der Apostel. Und Christus ist der Schlussstein, der den Bau zusammenhält, wie es in der Le-sung heute heißt. Als Stein in diesem Bau müssen wir auch vor großen Problemen keine Angst haben. Sage deinem Problem, dass du einen großen Gott hast.



    Und sage das nicht nur. Sondern lebe mit diesem großen Gott. Halte Verbindung zu ihm im Gebet. Halte Verbindung zu ihm in der Feier der Sakramente. Halte Verbindung zu ihm, in dem du in jedem Hilfesuchenden ein Kind dieses großen Gottes siehst.



    Deshalb sind jetzt alle, um die In Via sich sorgt, in unserem Beten mit dabei. Ich denke an die Schülerin, die sich so schwer tat mit einem Bewerbungsschreiben und die es dann doch lernte. Ich denke an die Kreativstunde, wo es darum ging, dass ein rohes Ei nicht zu Bruch ging. Ich denke an den Deutschkurs, wo jemand neues Selbstbewusstsein bekam, weil er einen Satz fehlerfrei aussprechen konnte. Diese und alle anderen, um die In Via sich sorgt, halten wir in dieser Feier dem lebendigen Gott hin. Nicht in erster Linie weil wir ein großes Problem haben. Sondern weil wir einen großen Gott haben.



    Vor einigen Wochen haben wir die Seligsprechung der Lübecker Märtyrer gefeiert. Kaplan Prassek, einer von ihnen, schreibt aus dem Gefängnis: „Wir brauchen nie und nimmer zu fürchten, dass uns auf der Seite Gottes auch nur irgendetwas Wertvolles verloren geht.“



    Man kann es auch umgekehrt sagen: Wir können sicher sein, dass wir im Auftrag Gottes nicht auf die Probleme hilfesuchender Menschen fixiert sind, sondern ihre Begabungen entdecken, ihre wertvollen Seiten fördern und zur Entfaltung bringen. Dafür ist In Via in Hamburg unverzichtbar. Amen
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen anläßlich der Präsentation der Internet-Platform www.gewalt-los.de / St. Joseph Kirche, Hamburg St. Pauli / 26. 10. 2011
    Sehr geehrte Frau Dr. von Spiegel,

    sehr geehrter, lieber Herr Pfarrer Schulz

    sehr geehrte Damen und Herren



    „In Frieden leg ich mich nieder und schlafe ein; denn du allein, Herr, läßt mich sorglos ruhen.“ Zu diesem Vers aus Psalm 4 haben uns Sie, lieber Herr Pfarrer, soeben einige geistliche Gedanken vorgetragen.

    Mit diesem Psalmwort im Herz habe ich Ihrer Präsentation, Frau Ossmann, von www.gewalt-los.de zugehört. Dabei hat sich bei mir immer mehr die Spannung in den Vordergrund geschoben: die Spannung zwischen dem versprochenen Frieden und der Ruhe auf der einen Seite und den Erfahrungen von vielen Mädchen und Frauen auf der anderen Seite. Für diese ist die Aussage des Psalms eher eine ferne Hoffnung als nahe Wirklichkeit.



    Besonders deutlich wird mir dies, wenn ich mir die Texte und Nachrichten in dem öffentlich zugänglichen Bereich von www.gewalt-los.de durchlese. Dort berichten Mädchen und Frauen von der Gewalt, die ihnen oftmals schon seit Jahren angetan wurde und wird. Es sind schockierende und traurige Geschichten. Es sind die Geschichten einer Gesellschaft, in der der sexuelle Missbrauch und die häusliche Gewalt weiterhin Tabuthemen sind – trotz der intensiven Diskussionen, die seit dem letzten Jahr auch in der Kirche geführt werden.



    www.gewalt-los.de setzt bewusst auf die Möglichkeiten des Internets. Es wird in den vergangenen Wochen immer wieder vom Cyber-Mobbing berichtet, von der Aggression, die im Internet auf Menschen von Menschen losgelassen wird unter dem Schutze der Anonymität. Auch in kirchlichen Kreisen ist dieses Phänomen nicht unbekannt.



    www.gewalt-los.de ist ein sich markant absetzender Kontrast zu diesen dunklen Auswüchsen der virtuellen Welt. Die Anonymität bietet hier nicht den Tätern Schutz, sondern den Opfern. Untereinander können sie sich über ihre Erfahrungen austauschen. Und – das hat uns die Präsentation gezeigt – sie haben auch die Möglichkeit, eine kompetente Beratung einer SkF-Mitarbeiterin in Anspruch zu nehmen.



    Wer die Berichte im Forum von www.gewalt-los.de liest, der erkennt sogleich: der Schritt nach draußen fällt den meisten Opfern von Gewalt schwer. Wer Missbrauch und Gewalt erlebt hat, für den ist ein solcher Schritt ganz und gar nicht selbstverständlich. www.gewalt-los.de macht diesen Schritt einfacher. Die Frauen und Mädchen können sich vortasten, ohne gleich ihre Identität preisgeben oder das Haus einer Einrichtung aufsuchen zu müssen. Ich möchte diese Menschen ausdrücklich dazu ermutigen, www.gewalt-los.de zu nutzen.



    Ich danke Ihnen, Frau Dr. von Spiegel, und Ihren Mitarbeiterinnen in Stiftung und Verband sehr herzlich für Ihren Einsatz für die Opfer von Missbrauch und Gewalt. Es freut mich sehr, daß Sie für www.gewalt-los.de vom Deutschen Engagementpreis ausgezeichnet wurden. Ich wünsche mir, daß www.gewalt-los.de auch innerhalb der Kirche und ihren Einrichtungen und Verbänden bekannter wird. Denn es ist als ein zeitgemäßes Angebot der Beratung und der Unterstützung.

    Ich wünsche www.gewalt-los.de weiterhin ein gutes Wachsen und allen daran Beteiligten von Herzen Gottes Segen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen in der Liturgie der Osternacht am 24. April 2011 / St. Marien Dom / 24. 04. 2011
    Liebe Schwestern und Brüder,



    ein starkes Zeichen an diesem frühen Ostermorgen ist das Licht. Das Licht des Osterfeuers, das die Nacht erhellt hat. Das Licht des Morgens, welches die Nacht ablöst. Das Licht der Osterkerze, das sich verteilt hat auf die Kerzen in unseren Händen. Ostern bringt Licht ins Dunkel.



    Lumen Christi – Christus ist das Licht, hat der Diakon vorhin beim Einzug in die dunkle Kirche gesungen. Christus bringt Licht in das Dunkel unserer Zeit.



    Wer Augen und Ohren offen hält, der kann ein Lied singen von all dem Dunklen in unserer Zeit. Das Lied hat viele Strophen: Fukushima, Libyen, Guantanamo, das Kloster Mor Gabriel in der Türkei, um nur einige zu nennen. Hinzu kommen unsere ganz persönlichen Strophen mit den Dunkelheiten, die uns selbst hautnah bedrängen. Eigentlich müssten wir jetzt eine Pause machen, damit jeder und jede sich die eigenen Erfahrungen von Dunkelheit bewusst macht. Nicht um darin unterzugehen. Sondern um die persönlichen Erfahrungen von Dunkelheit in das Licht der Osterbotschaft zu halten.



    Auch die Osterbotschaft verschweigt das Dunkel nicht. Von Furcht und Zittern ist im Evangelium die Rede. Vom alten Menschen der Sünde spricht Paulus in der Le-sung. Die Dunkelheit ist Realität. Aber das Licht ist auch Realität. Wir feiern Os-tern, weil das Licht des Glaubens die Dunkelheit vertreiben kann.



    Vorgestern fragte mich ein Journalist: Glauben Sie denn wirklich, dass die Auferstehung Realität ist? Ich habe ihm mit den Worten des Apostels Paulus geantwortet: Wenn Christus nicht auferstanden ist, dann ist unser Glaube nutzlos, dann sind wir über kurz oder lang verloren.



    Warum tun wir uns oft so schwer mit dem Glauben an die Auferstehung? An die Auferstehung Jesu und an unsere eigene Auferstehung?



    Weil mit der Auferstehung Jesu Gottes Ewigkeit in unsere Zeit hereinbricht, Gottes Unendlichkeit in unsere Endlichkeit. Das ist allein mit diesseitigen Koordinaten nicht mehr darzustellen. Weil es sich um eine Dimension mehr handelt als wir erfassen können. Weil es sich um göttliches Entgegenkommen handelt.



    Und doch entspricht solch göttliches Entgegenkommen unserer tiefsten Sehnsucht. Ostern ist die Antwort auf die tiefste menschliche Sehnsucht.



    Aber daran glauben kann man doch nur, wenn es wirklich bewiesen ist, entgegnet mir der Journalist.

    Ich habe ihm erwidert: Wenn ich bis zum Beweis gewartet hätte, dass es für mich richtig ist, Priester zu werden, wäre ich es nie geworden. Und wenn Sie gewartet hätten bis zum Beweis, dass es für Sie richtig ist, Ihre Frau zu heiraten, hätten Sie es nie getan. Die wichtigsten Entscheidungen lassen sich nicht beweisen. Sondern sie erweisen sich im Vollzug als das, was sie sind.



    So ist das auch mit dem Glauben. Ich muss auch an die Osterbotschaft glauben wollen und mich auf den Weg des Glaubens machen. Und das ganz konkret: Im Betrachten der heiligen Schrift, im Gebet, in der Feier der Sakramente, in Werken der Liebe. Dann erweist Jesus Christus sich als das Licht. Auch und gerade in den Dunkelheiten des Lebens.



    Goethe hat damit offenbar ein Problem gehabt. Im west-östlichen Divan schreibt er „Dunkel ist die Nacht,

    bei Gott ist Licht.

    Warum hat er uns

    nicht auch so zugericht?“

    Goethe hat Recht: Wir sind nicht von uns aus Licht wie Gott. Aber Gott hat uns von seinem Licht mitgeteilt. Wer bereitwillig und beständig sich in das Licht Gottes stellt, der macht damit Erfahrungen. Erfahrungen, die das Leben hell machen.



    Das feiern wir an diesem Ostermorgen: Dass der Glaube an Gott Licht bringt in das Dunkel. In das Dunkel der Welt. Und in unser ganz persönliches Dunkel. Amen
  • Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen auf dem Lübecker Kreuzweg am Karfreitag, 22. April 2011 / Lübeck / 22. 04. 2011
    Sich heute zu Christus bekennen – so steht es über unserem Kreuzweg in diesem Jahr. Dass unser Lübecker Kreuzweg nicht ein Spaziergang ist, sondern ein Bekenntnis zu Christus, das wollen wir uns bewusst machen.



    Aber ist unser Kreuzweg wirklich ein Bekenntnis?



    Unsere vier Lübecker Märtyrer würden uns wohl sagen:

    Ihr habt es leicht, ihr lebt in Freiheit. Euch sperrt niemand ins Gefängnis, wenn ihr euch zu Christus bekennt.

    Ihr könnt euch als Christen in der Gesellschaft einsetzen. Ihr könnt laut eure Meinung sagen. Auch dann habt ihr keine Nachteile zu befürchten.



    Freut euch, dass ihr in Freiheit lebt, würden uns die vier Lübecker Märtyrer zuru-fen. Aber gebraucht eure Freiheit als Christen.

    Gebraucht eure Freiheit, wenn der Sonntag immer mehr zum Werktag gemacht wird, zum Tag von Kaufen und Verkaufen, bis alles käuflich ist, bis ihr auch eure Seele verkauft habt.



    Gebraucht eure Freiheit, wenn das menschliche Leben an seinem Anfang, wo es noch völlig wehrlos ist, viel zu wenig Schutz erfährt.



    Gebraucht eure Freiheit, wenn alte Menschen als Last in unserer Gesellschaft an-gesehen werden.



    Gebraucht eure Freiheit, wenn Wirtschaft und Profit wichtiger werden als Klima-schutz und Bewahrung der Schöpfung.



    Unsere vier Märtyrer würden uns darauf hinweisen, dass auch heute Menschen um ihres Glaubens Willen ermordet werden.



    Von hundert Menschen, die heute weltweit wegen ihres Glaubens ermordet werden, sind fünfundsiebzig Christen. Schweigt ihr dazu in Deutschland, fragen uns die Märtyrer. So wie damals die meisten in Lübeck geschwiegen haben, als wir vier Geistlichen gefangen genommen und ermordet wurden?



    Christenverfolgung gab es nicht nur 1942. Christenverfolgung gibt es heute.



    Darauf machen wir die Öffentlichkeit, die Politiker und die Medien aufmerksam, dass heute Christen verfolgt werden. In Ägypten, im Irak und Iran, in der Türkei, in Nigeria und in vielen anderen Ländern.



    Das Menschenrecht der Religionsfreiheit ist ein hohes Gut. Aber es wird auch heute oft mit Füßen getreten.



    Der Kreuzweg Jesu hatte mit Schmerzen und Blut zu tun.



    Der Kreuzweg der Lübecker Märtyrer hatte mit Schmerzen und Blut zu tun.



    Unser Kreuzweg heute hat nicht mit Schmerzen und Blut zu tun.

    Gott sei Dank. Aber er mahnt uns zur Wachsamkeit, wo heute Schmerzen und Blut verharmlost, verschwiegen und vertuscht werden.



    Dann wird unser Kreuzweg wirklich zum Bekenntnis.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen bei der Diakonen- und Priesterweihe im St. Marien-Dom / Hamburg - St. Marien-Dom / 09. 04. 2011
    Liebe Mitbrüder, verehrte Angehörige,

    Freunde und Bekannte unserer Weihkandidaten,



    und vor allem, liebe Brüder, die Sie heute zu Diakonen und zum Priester geweiht werden, am liebsten würde ich jetzt Sie, die fünf Weihekandidaten, fragen: Warum haben Sie gerade dieses Evangelium für Ihren Weihegottesdienst ausgewählt?



    Die Antwort lautet mit Sicherheit: Weil hier unsere Situation geschildert wird. Unsere Situation als Diakone. Unsere Situation als Priester. Unsere Situation als Kirche. Unser aller Situation als gläubige Menschen.



    Was sagt uns das Evangelium über unsere Situation?



    Eine erste Antwort heißt: Wir haben Angst. Zweimal kommt Angst in diesen elf Versen vor. Angst und: Wir sind erschrocken. Wenn das der Evangelist von den Jüngern zugibt, dann dürfen wir es auch von uns zugeben.



    Wir sind erschrocken über die Situation der Kirche, jedenfalls in Deutschland und Europa. Wir haben Angst, wie es mit uns als Kirche weitergeht. Das Schiff der Kirche heute wird wie das Schiff mit den Jüngern damals hin und her geworfen. Auch wir spüren den Gegenwind. Es ist so. Da gibt es nichts zu verschweigen und nichts zu verharmlosen.



    Eine zweite Antwort des Evangeliums heißt: Wir erkennen Jesus nicht. Wie die Jünger halten wir ihn oft für ein Gespenst, für Einbildung, für irreal, unwirklich. Und wenn Jesus uns anspricht wie damals die Jünger, dann kommen wir erstrecht ins Schleudern. Dann wollen wir es drauf ankommen lassen wie Petrus. Und dann steht uns das Wasser bis zum Hals, und wir können im Untergehen nur noch schreien: Herr, rette uns. Weil wir Kleingläubige sind. Weil wir Zweifler sind. Wie Petrus. Weil wir genau das nicht tun, was Jesus uns zumutet. Fürchtet euch nicht, sagt Jesus. Aber wir fürchten uns so oft. Habt Vertrauen, sagt Jesus. Aber wir vertrauen ihm oft nicht.



    Noch ein Drittes sagt uns das Evangelium über unsere Situation.



    Von Jesus heißt es: „Er stieg auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Am späten Abend war er immer noch allein auf dem Berg.“



    Jesus, der Beter. Wir orientieren uns gern an dem aktiven Jesus, dem helfenden Jesus, der sich den Menschen zuwendet, der Hunger und Not lindert. Es ist unverzichtbar, dass wir uns an diesem Jesus orientieren. Aber ebenso unverzichtbar ist, dass wir uns wie Jesus Zeit nehmen zum Gebet. Nicht zufällig werden die Weihekandidaten gleich auch danach gefragt: Seid ihr bereit, Männer des Gebetes zu werden. Und jeder und jede hier im Mariendom darf und soll sich mitgefragt fühlen: Wie sieht es aus mit deinem Beten? Ohne beten wird Jesus all zu schnell für uns zum Gespenst, irrational, unwirklich.



    Jetzt frage ich Sie: Was machen wir mit diesen drei Antworten, die wir aus dem Evangelium gefunden haben? Was machen wir mit unserer Angst, mit unserem kleinen Glauben, mit unserem flüchtigen Beten?



    Die Antwort: Wir halten das alles Jesus hin. Sie und die Weihekandidaten und ich, wir halten es Jesus hin, so wie es zu jedem und jeder von uns gehört.



    Und dann?



    Dann spielt sich etwas ab zwischen Jesus und uns. Dann kommt etwas in Bewegung. Wie bei den Jüngern damals. Wer Jesus seine Ängste und Sorgen hinhält, in dem bewegt sich etwas. Wer Jesus seinen kleinen Glauben und seine großen Fragen hinhält, in dem bewegt sich etwas. Wer sich Zeit nimmt zum Gebet, in dem bewegt sich etwas. Der kann die Erfahrung machen: Gott ist da, mitten in meinem Leben.



    So wie es uns in der Lesung beim Propheten Jesaja zugesagt wird: Wenn du durchs Wasser gehst, bin ich bei dir, sagt Gott. Auch wenn uns als Kirche das Wasser manchmal bis zum Hals steht, Gott ist da.



    Oder wenn es bei Jesaja weiter heißt: Wenn du durchs Feuer gehst, sagt Gott, wirst du nicht verbrennen. Ja, bei aller hitzigen Diskussion über Veränderungen in der Kirche wollen wir nicht vergessen, dass wir für Gott durchs Feuer gehen, dass wir Feuer und Flamme sind für Gott.



    Aus alldem wird deutlich, wer mit Gott seinen Lebensweg geht, der ist nicht auf einem Spaziergang. Der weiß um die Höhen und Tiefen des Weges, nicht nur um das Oberflächliche.



    Unsere Zeit ist in manchen Dingen erschreckend oberflächlich. Da schreibt doch tatsächlich eine Tageszeitung auf einer ganzen Seite, wie schlimm das ist, dass sonntags nicht immer alle Geschäfte geöffnet sind. Ohne Shopping hätte man doch nichts vom Sonntag.



    Oder, noch viel gewichtiger, wenn bis in den Deutschen Bundestag hinein jetzt gestritten wird, ob Embryonenauswahl statthaft ist. Das Wort dafür heißt Präimplantationsdiagnostik. Auf Deutsch: Der eine darf leben, der andere darf nicht leben, je nachdem, welche Gene er hat.



    Für diese beiden Beispiele und auch für viele andere gilt, was Paulus uns heute in der Lesung zuruft: Passt euch nicht dieser Welt an, prüft und erkennt, was der Wille Gottes ist.



    Unsere fünf Weihekandidaten haben erkannt, was für sie der Wille Gottes ist. Und das feiern wir jetzt, dass sich in der Diakonenweihe und Priesterweihe der Wille Gottes an ihnen vollzieht. Zugleich wollen wir offen dafür sein, dass auch wir alle den Willen Gottes in unserem Leben erkennen.



    Amen.
  • Predigt beim Gedenkgottesdienst für Japan / Kiel - Landtag / 23. 03. 2011
    Text aus dem Propheten Jesaja:



    Der Herr der Heere wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen, mit besten erlesenen Weinen. Er zerreißt auf diesem Berg die Hülle, die alle Nationen verhüllt, und die Decke, die alle Völker bedeckt. Er beseitigt den Tod für immer. Gott, der Herr, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht. Auf der ganzen Erde nimmt er von seinem Volk die Schande hinweg. Ja, der Herr hat gesprochen. An jenem Tag wird man sagen: Seht, das ist unser Gott, auf ihn haben wir unsere Hoffnung gesetzt, er wird uns retten. Das ist der Herr, auf ihn setzen wir unsere Hoffnung. Wir wollen jubeln und uns freuen über seine rettende Tat.





    Verehrte, liebe Schwestern und Brüder,



    was würden die Menschen in Japan sagen, wenn sie diesen Text hören? Oder die Menschen in Libyen? Oder in den anderen Kriegs- und Krisen- und Katastrophengebieten der Erde?



    Feinste Speisen, erlesene Weine – die Menschen in den Notunterkünften würden sagen: Wenn wir nur überhaupt etwas zu essen hätten.



    Der Herr wird ein Festmahl geben – wenn wir nur Nahrung hätten, die nicht verstrahlt ist.



    Gott beseitigt den Tod für immer – die Nachrichten über die Zahl der Toten in Japan wächst täglich.



    Wir spüren, wie quer diese große Verheißung des Propheten Jesaja steht zu den Schlagzeilen, die uns täglich begegnen.



    Festmahl, feinste Speisen, erlesene Weine – die Verheißung steht auch quer zu den Erfahrungen der vier Lübecker Märtyrer.



    Kaplan Prassek schreibt aus dem Gefängnis an ein Gemeindemitglied: „Weißt du, was Hunger ist? Wenn der Magen knurrt und man hat dieses unangenehme Hungergefühl, das ist noch kein Hunger.“



    Und dann schildert er, wie er den Hunger erlebt: Es stinkt einem aus allen Poren, man wird an Beinen und Armen nicht mehr warm, man holt sich die Reste von Pellkartoffeln, die der Hund neben seinem Napf liegengelassen hat. „Und wegen eines Stückchens Brot könnte ich jemanden umbringen“. Und dann „diese schreckliche Unzufriedenheit mit sich selbst, mit den Mitmenschen und auch mit Gott.“ Das ist Hunger.



    Und was ist dann mit der Vision den Propheten Jesaja, mit dem Festmahl, mit den feinsten Speisen, mit erlesenen Weinen?



    Es ist schwer, die Erfahrungen unserer vier Märtyrer im Gefängnis und die Erfahrungen der Menschen in Japan oder Libyen und manchmal auch unsere eigenen dunklen Erfahrungen – all das Leidvolle in der Welt – zusammenzubringen mit der Vision beim Propheten Jesaja.



    Und doch zeigen uns die vier Lübecker Märtyrer den Weg. Johannes Prassek schreibt am Tag seines Todes an seine Familie: „Seid nicht traurig. Was mich erwartet ist Freude und Glück, gegen das alles Glück hier auf der Erde nichts gilt.“



    Klingt da nicht auch die Vision des Propheten Jesaja an, mitten in Todesnot?



    Die Lübecker Märtyrer zeigen uns, wie sehr das Vertrauen auf Gott Kraft gibt. Kraft gibt, um auch in schlimmster Not nicht den Mut zu verlieren. Kraft gibt, um nicht zum Mitläufer zu werden mit der Masse, sondern nach dem eigenen Gewissen zu handeln. Kraft gibt, um selbst im Angesicht des Todes auf Gott zu vertrauen. Und auf die Verheißungen Gottes zu vertrauen, die im Bild vom Festmahl mit erlesenen Speisen und feinsten Weinen zum Ausdruck kommt.
  • Brief von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur österlichen Bußzeit 2011 / Hamburg / 12. 03. 2011
    Herr, hier sind meine Hände

    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg!



    Mit diesem Brief lenke ich Ihren Blick auf das große Bistumsfest in Lübeck.

    Am 24. und 25. Juni werden wir in festlicher Weise das Gedenken an die vier Lübecker Märtyrer feiern. Die drei Kapläne werden im Auftrag von Papst Benedikt seliggesprochen. Der evangelische Pastor wird mit einem besonderen Gedenken geehrt. Da die evangelische Kirche die Form der Seligsprechung nicht kennt, haben wir vereinbart, dass jede Konfession ihre eigene Art des Gedenkens einbringt. Beim Gottesdienst am Freitagabend in der Lübecker Lutherkirche steht die Erinnerung an Pastor Stellbrink im Vordergrund. In der Eucharistiefeier am Samstagvormittag auf der Parade vor der Herz Jesu Kirche geht es vor allem um das Gedenken an unsere drei Kapläne. Aber immer werden alle vier Märtyrer namentlich erwähnt.



    1. Was bedeutet Seligsprechung und warum ist sie ein so wichtiges

    Ereignis?



    „Kommen die Märtyrer jetzt eine Stufe höher in den Himmel?“, werde ich ironisch gefragt. Nein, unsere Märtyrer sind für immer in seliger Gemeinschaft bei Gott. Für sie ändert sich nichts. Aber für uns ändert sich viel. Wir dürfen sie mit offizieller Zustimmung und Weisung der Kirche als Vorbilder verehren und als Fürsprecher bei Gott anrufen. Aus der mehr lokalen Verehrung, die sich bisher hauptsächlich auf das Dekanat Lübeck erstreckte, wird jetzt eine Verehrung im ganzen Erzbistum und überall dort, wo die Märtyrer bekannt gemacht werden. Die sofort nach dem Martyrium 1943 und verstärkt nach dem Krieg einsetzende Verehrung in Lübeck hat dafür den Weg bereitet. Im Jahre 2004 habe ich dann das Seligsprechungsverfahren eröffnet. Dokumente wurden gesammelt und Zeitzeugen befragt. Frömmigkeit, Seelsorge und Theologie der Kapläne wurden begutachtet. All das wurde der zuständigen Kongregation in Rom vorgelegt, dort geprüft und einer kritischen Würdigung unterzogen.



    Vor einigen Monaten erreichte uns dann die Nachricht, dass Papst Benedikt die Seligsprechung der Kapläne in einem Dekret fest gesetzt hat. In der Regel dauert ein solches Verfahren Jahrzehnte. Dass es für unsere Märtyrer ungewöhnlich schnell durchgeführt wurde, verdanken wir der persönlichen Weisung von Papst Benedikt. Der Unterschied zwischen Seligen und Heiligen besteht darin, dass Heilige im allgemeinen Kalender der Weltkirche verzeichnet sind und auf der ganzen Welt verehrt werden, während Selige in bestimmten Ländern, Bistümern oder Orden offizielle Verehrung erfahren. Seit Beginn des Seligsprechungsverfahrens wuchs nicht nur in unserem Erzbistum das Interesse an den Märtyrern, sondern auch weit darüber hinaus. Sogar aus Übersee kamen Anfragen. Briefe und andere Dokumente, die längst als verschollen galten, wurden in Privathäusern und Archiven gesucht und gefunden. Aus der räumlich begrenzten Wertschätzung der Märtyrer wurde eine immer weiter um sich greifende, öffentliche Verehrung. Auch das ist ein erfreuliches Ergebnis des Seligsprechungsverfahrens.



    2. Worin sind uns die neuen Seligen Vorbild?



    Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen. Als die Diktatur Hitlers die Freiheit des Gewissens und das Wirken der Kirche immer mehr einengte, haben sich viele Christen angepasst oder sich von Glaube und Kirche abgewandt. Es erforderte Mut und Glaubenstreue, sich zu den Weisungen des Evangeliums zu bekennen und für die Gebote Gottes einzusetzen. Das haben ja auch unsere Schwestern und Brüder in Mecklenburg erlebt. Die Lübecker Märtyrer haben mit Entschiedenheit die Botschaft Jesu verkündet, obwohl diese der Botschaft Hitlers radikal widersprach. Sie haben sich für die Würde aller Menschen eingesetzt, obwohl Betreuung und Hilfe für polnische Zwangsarbeiter streng verboten waren. Sie haben vielen Menschen zu einem wachen Gewissen verholfen, obwohl statt Gewissensentscheidung blinder Gehorsam erwartet wurde. Mit den Lübecker Märtyrern bleiben auch die achtzehn Gemeindemitglieder in Erinnerung, die ebenfalls verhaftet wurden. Und wir wollen auch die Personen nicht vergessen, welche die Kapläne während der langen Gefängniszeit unterstützt haben. Ohne die mutige Haushälterin Johanna Rechtien, welche Hostien und Messwein ins Gefängnis schmuggelte, wäre die geheime Feier der Eucharistie dort nicht möglich gewesen.



    3. Woher nahmen die Märtyrer die Kraft?



    Die Kapläne waren lebenslustige junge Leute. Unterschiedlich in ihrem Wesen, schwärmten sie für Kunst und Literatur oder für Natur, Reisen oder Fotografieren. Aber alles, was sie arbeiteten und erlebten, planten und gestalteten, hatte einen eindeutigen Bezugspunkt: Sie wollten in allem den Willen Gottes erfüllen. Das war ihr wichtigstes Motiv. In ihren Briefen, die im Zuge des Seligsprechungsverfahrens gesammelt wurden, kommt das bei allen Dreien eindeutig zum Ausdruck. Mich bewegt vor allem das Gebet von Kaplan Eduard Müller, das ich selbst täglich zu beten versuche:

    „Herr, hier sind meine Hände.

    Lege darauf, was du willst.

    Nimm hinweg, was du willst.

    Führe mich, wohin du willst.

    In allem geschehe dein Wille.“



    Je mehr das sogenannte Gerichtsverfahren gegen die Geistlichen auf die Todesstrafe zuläuft, desto intensiver sprechen alle von ihrem festen Glauben an das ewige Leben. Kaplan Lange schreibt an seinem Todestag an seine Eltern: „Jetzt wird für mich der Glaube übergehen in Schauen, die Hoffnung in Besitz und für immer werde ich Anteil haben an dem, der die Liebe ist … Da gibt es keine Geheimnisse und quälende Rätsel mehr.“ So kann jemand im Angesicht des Todes nur empfinden, wenn er schon lange solchen Glauben praktiziert hat. Den Geistlichen war bewusst, dass das menschliche Leben der zeitliche Weg ist zur Ewigkeit Gottes. Dafür waren sie Priester geworden. Das wollten sie vorleben und verkünden. Diesen Weg wollten sie mit den ihnen anvertrauten Menschen gehen. Davon machten sie keine Abstriche. Auch dann nicht, als dieser Weg sie in äußerste Bedrängnis führte. Ein weiteres gemeinsames Glaubensmotiv war für sie, dass sie vom Himmel aus noch viel mehr für die Menschen tun können als auf Erden. Aus ihren Briefen geht hervor, wie gern sie weiter als Seelsorger gewirkt hätten. Aber ihnen ist auch bewusst, dass die Gemeinschaft der Glaubenden im Tode nicht zerreißt. Kaplan Prassek schreibt an eine Ordensschwester:

    Bleiben Sie

    gut, lassen Sie niemals den Mut sinken. Ich habe in den Monaten im Gefängnis täglich für Sie gebetet. Wenn ich jetzt nahe bei Gott bin, werde ich es noch viel mehr tun. Haben Sie niemals Angst!“



    Das sind drei starke Glaubensmotive, die uns die Kapläne vorgelebt

    haben:

    – der Wille Gottes als entscheidender Lebensimpuls

    – das ewige Leben als Ziel vor Augen haben

    – die Zugehörigkeit zu Christus als starke Verbindung zwischen Lebenden und Verstorbenen.

    Mit diesen drei Glaubensmotiven gehen auch wir auf den Spuren der Märtyrer.



    4. Die ökumenische Dimension



    Kardinal Kasper, der in dem Gottesdienst der Seligsprechung die Predigt halten wird, sagt: „Die ökumenische Bewegung wurzelt in der Missions- und Diasporaerfahrung, in Leidenserfahrung konfessionsverschiedener Ehen und Familien, aber auch in der Erfahrung von Gemeinschaft, welche katholische und evangelische Christen in den Schützengräben und in den Luftschutzbunkern des Zweiten Weltkriegs und nicht zuletzt im gemeinsamen Widerstand gegen ein brutales, inhumanes System machten.“



    Ich füge hinzu: Denken und Fühlen der Zusammengehörigkeit zwischen katholischen und evangelischen Christen wurzelt auch im gemeinsamen Wirken und Sterben der vier Lübecker Märtyrer. Die wachsenden Kontakte zwischen dem evangelischen Pastor Stellbrink und Kaplan Prassek führten auch zur freundschaftlichen Verbindung der Familien Stellbrink und von de Berg. Herr von de Berg war angesehenes Mitglied der katholischen Gemeinde. Vater Stellbrink und Vater von de Berg beteten gemeinsam vor dem Kruzifi x im Esszimmer. Was damals ungewöhnlich war, ist heute selbstverständlich geworden. Als ich im Jahre 2003 erstmals das Wort „Seligsprechung“ erwähnte, war bei manchem die Sorge groß, die Erinnerung an die vier Märtyrer könnte dadurch getrennt werden. Das Gegenteil war beabsichtigt und trifft auch immer mehr zu. Die unterschiedliche Art des Gedenkens und der Verehrung in der katholischen und evangelischen Kirche ist vor allem ein Unterschied in der Form.



    Vieles an gemeinsamem Inhalt und an vorhandener Wertschätzung bleibt davon unberührt. Die Deutsche Bischofskonferenz und die Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands sagen in einer Erklärung aus dem Jahre 2000, dass die Verehrung der Heiligen und Seligen vor allem eine Form der Gottesverehrung ist. Deshalb kann man mit Recht sagen: Sofern die alleinige Mittlerschaft Christi nicht beeinträchtigt wird, sind unterschiedliche Formen der Verehrung nicht kirchentrennend. Die Sorge um die Trennung der vier Märtyrer ist der Hoffnung auf noch mehr Gemeinsamkeit gewichen. Dies habe ich auch in meinem Wort an die gemeinsame evangelische Synode der Nordelbischen, Mecklenburgischen und Pommerschen Kirche kürzlich dargelegt. Der starke Beifall der Versammlung bestärkt diese Hoffnung. Gemeinsam mit Bischof Gerhard Ulrich, dem leitenden Bischof der Nordelbischen Kirche, habe ich kürzlich in Rom Kardinal Amato besucht. Dieser wird die Seligsprechung in Lübeck proklamieren im Auftrag von Papst Benedikt. Wir kamen schnell zu der gemeinsamen Auffassung, dass die Feiern in Lübeck wichtige Schritte sind zu noch mehr Gemeinsamkeit zwischen den Konfessionen. Dasselbe klang bei Kardinal Kasper an, als wir ihn besuchten.



    5. Einladung



    Liebe Schwestern und Brüder, herzlich lade ich Sie ein nach Lübeck.

    An der Lebensgeschichte der vier Geistlichen können wir ablesen, was es an Lebensqualität bedeutet, mit Christus den Weg durch die Zeit zu gehen und auf Christus seine Hoffnung zu setzen in der Gemeinschaft der Christenheit. Dass wir dafür aufgeschlossen sind und mit Entschiedenheit den Weg des Glaubens in unserer Zeit gehen, dazu segne Euch der dreifaltige Gott, der Vater und der Sohn und der heilige Geist.







    Hamburg, 3. Februar 2011, am Fest des heiligen Ansgar

    Dr. Werner Thissen

    Erzbischof von Hamburg

  • Ansprache im ökumenischen Gottesdienst zur konstituierenden Sitzung der Hamburger Bürgerschaft / Hauptkirche St. Petri Hamburg / 07. 03. 2011
    „Die Deutschen sorgen sich laut einer Umfrage am meisten um soziale Gerechtigkeit und die Gefahr des beruflichen Abstiegs.“ So heißt es in einer Pressemitteilung.

    Und heute hören wir im Brief an die Philipper: „Sorgt euch um nichts.“ Kann das angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen wir in unserer Gesellschaft stehen, ernstgemeint sein? Darf man das: Sich um nichts Sorgen machen? Keine Vorsorge treffen?



    Das Anliegen des Apostels Paulus wird deutlich, wenn wir weiterlesen: „Bringt in jeder Lage betend eure Bitten vor Gott.“ Die Aufforderung heißt also: Ihr sollt nicht grübeln, sondern beten. Grübeln – das führt zu Lethargie und Ausweglosigkeit. Gebet – das befreit und eröffnet neue Möglichkeiten zum Handeln.

    Also: Es gibt zwei Arten von Sorgen: Erstens, die grübelnde Sorge, die niemanden weiterbringt und einen Menschen lähmen kann. Diese meint Paulus, wenn er uns auffordert: Sorgt euch nicht. Und es gibt eine zweite Sorge, die mit Verantwortungsgefühl den Blick auf die Zukunft unseres Zusammenlebens öffnet. Die zum Beten und Handeln führt. Die hilft, sinnvolle Vorsorge zu treffen. Die anregt, Entscheidungen zu fällen. Für uns selbst und für die Menschen, die uns anvertraut sind: in der Familie, im Beruf, in dieser Stadt.



    Sorgen hinsichtlich der Zukunft unserer Stadt und unserer Gesellschaft mache auch ich mir. Auch die Sorge um die soziale Gerechtigkeit. Wenn ich daran denke, welche Unterschiede es zwischen unseren Kirchengemeinden gibt, dann stehen wir vor einem großen Handlungsbedarf. Denn unsere Gemeinden sind in Vielem ein Abbild der Gesellschaft, in der sie leben. Wenn ich an einem Tag die Gemeinde St. Elisabeth in Harvestehude besuche und an einem anderen Tag die Gemeinde St. Paulus in Billstedt, dann wird mir das gesellschaftliche Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Stadtteilen deutlich. Zum Beispiel Integration: Die Herausforderungen hinsichtlich der Integration von Menschen aus anderen Ländern, Kontinenten und Kulturkreisen sind zwischen Harvestehude und Billstedt sehr ungleich verteilt.



    Neben all den guten Errungenschaften in Hamburg, darf dieser Graben zwischen Arm und Reich nicht verkannt werden. Wir dürfen uns damit nicht abfinden, als sei dieser Graben ein Naturgesetz. Einrichtungen wie Elternschulen, Jugendtreffs und Beratungsstellen tun Vieles, um das Antlitz unserer Stadt menschlich erscheinen zu lassen. Auch in den Schulen wird viel erreicht. Von unseren 21 katholischen Schulen in Hamburg weiß ich, dass die dort verankerte Pflege sozialer Tugenden, kultureller Werte und musischer Erfahrung für unser städtisches Zusammenleben unabdingbar ist. Seitens der Bürgerschaft und des Senats verdienen all diese Einrichtungen auch weiterhin volle Unterstützung.

    In seinem Brief an die Philipper erinnert uns Paulus daran, welches Verhalten anstatt der falschen Sorgen unser Leben prägen soll: Was ansprechend ist, was Tugend heißt, was lobenswert ist, darauf seid bedacht! Der Aufruf könnte nicht aktueller sein!



    Die Glaubwürdigkeit der Politik steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit der Politiker. Wie auch immer Sie von Ihrer Arbeit und Ihrem Mandat denken mögen: Für die Menschen dieser Stadt sind Sie Vorbilder. Wer an Ihren Handlungen ablesen kann, dass Sie sich aufrichtig um soziale Gerechtigkeit, um Bewahrung der Schöpfung und um nachhaltiges Wirtschaften hier in Hamburg „sorgen“, der wird dazu auch in seinem privaten Umfeld motiviert.



    All das müssen wir nicht im Alleingang bewerkstelligen. „Der Gott des Friedens wird mit euch sein“ schreibt der Apostel. Ich wünsche Ihnen und uns, dass wir dies in den kommenden Jahren erfahren. Wie die Mariensterne im Wappen unserer Stadt über der Hammaburg schweben, so soll auch der Segen Gottes über Ihrem Einsatz zum Wohle der Menschen liegen.
  • Grußwort anlässlich der Eröffnung der „Fachstelle Kinder- und Jugendschutz im Erzbistum Hamburg“ / Hamburg / 28. 02. 2011
    Sehr geehrte Damen und Herren,



    es war wie ein Schock jetzt vor einem Jahr: Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass auch im Erzbistum Hamburg sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Priester und kirchliche Mitarbeiter verübt worden ist.



    Inzwischen konnten wir mit Opfern Gespräche führen. Uns wurde bewusst, dass wir in der Kirche durch Jahrzehnte hindurch viel zu wenig die Opfer im Blick hatten. Mir ist in erschreckendem Umfang deutlich geworden, wie viel Leid diesen Menschen auch im kirchlichen Bereich zugefügt worden ist. Manche konnten erst nach Jahrzehnten zum ersten Mal darüber sprechen. Meine Gespräche mit Opfern gehören für mich zu den bewegendsten Erfahrungen der vergangenen Monate. Wir mussten lernen: Opferschutz ist wichtiger als Schutz der Kirche.



    Wir haben als Kirche Schuld auf uns geladen. Das habe ich ohne Wenn und Aber bei verschiedenen Gelegenheiten betont und wiederhole es jetzt. Wir bitten die Opfer um Vergebung. Und wir bitten Gott um Vergebung. Auf unserer nächsten Vollversammlung der Bischofskonferenz im März in Paderborn werden wir das in einem Akt der Buße zum Ausdruck bringen.



    Wir haben uns im Erzbistum Hamburg, aber auch auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz, eingehend mit Fragen sexuellen Missbrauchs beschäftigt.



    Wir haben im Erzbistum Hamburg eine Verfahrensordnung im Falle des Verdachts auf sexuellen Missbrauch erstellt. Wir haben auf der Ebene der Bischofskonferenz die Leitlinien für den Umgang mit den Tätern verschärft und die Rahmenordnung für Prävention in Kraft gesetzt.



    Im Erzbistum Hamburg habe ich im Oktober 2010 das „Gesetz zur Vermeidung von Kindeswohlgefährdung“ erlassen.



    Ich hoffe, dass wir kirchlicherseits aber auch bereits in den nächsten Wochen konkrete Summen benennen können, die den Opfern zukommen. Das ist keine Entschädigung, denn der entstandene Schaden kann nicht wieder gutgemacht werden. Aber es soll ein Signal dafür sein, dass das Leid der Opfer bei uns angekommen ist und in seiner Tragweite von uns anerkannt wird.



    Mit der Eröffnung unserer „Fachstelle Kinder- und Jugendschutz im Erzbistum Hamburg“ setzen wir heute ein zukunftsweisendes Signal für Prävention, Aufarbeitung und Opferschutz. Uns ist bewusst: Kinder- und Jugendschutz ist ein vorrangiges Anliegen, das als Querschnittsaufgabe unser kirchliches Wirken begleiten muss.



    Unser Ziel ist, dass wir vorbeugend gegen sexuellen Missbrauch vorgehen. Wir wollen die vielen Menschen in unseren Gemeinde, Gruppen und Kreisen für diese Thematik sensibilisieren. Auf diese Weise können wir der gesamten Gesellschaft einen wichtigen Dienst erweisen.



    Ich bin allen dankbar, die auf die Eröffnung dieser Fachstelle hingearbeitet haben. Das betrifft nicht nur kirchliche Kreise. Auch aus Opferschutzverbänden und nichtkirchlichen Beratungsstellen haben wir viele Anregungen erhalten, für die wir dankbar sind. Ich finde es wichtig, dass wir mit allen gesellschaftlichen Gruppen eng zusammenarbeiten, die sich dafür stark machen, gegen sexuellen Missbrauch vorzugehen, den Opfern zu helfen und Maßnahmen der Prävention zu ergreifen.



    Die Fachstelle ist Teil unserer bischöflichen Kurie. Aufgrund der notwendigen Vertraulichkeit, welche die Arbeit der Fachstelle auszeichnen soll, sind deren Räume aber außerhalb des Generalvikariates angesiedelt. Ich lade Sie ein, mit mir nachher den kurzen Weg in die Koppel 83 zu gehen, um die Räume und damit auch die Arbeit der Fachstelle unter den Segen Gottes zu stellen.
  • Predigt in der Vesper am 60. Geburtstag von Bischof Dr. Franz-Josef Bode / Dom zu Osnabrück / 16. 02. 2011
    Gott ist größer



    Verehrte, liebe Mitbrüder, liebe Schwestern und Brüder

    und vor allem: Liebes Geburtstagskind Franz-Josef,

    Geburtstagskind, da komme ich schon ins Stocken. Kann man zu einem, der 60 Jahre alt wird, Geburtstagskind sagen?



    Ja, der Sprachgebrauch ist so. Man sagt nicht „Geburtstagsmann“ oder „Geburtstagsmensch“, sondern Geburtstagskind. Auch zu einem Erwachsenem, auch zu einem Bischof.



    Warum ist das so? Wahrscheinlich deshalb, weil mit dem Geburtstag Neues beginnt, neues Lebensjahr, neue Pläne, neue Vorhaben, neue Ideen in den Blick genommen werden, Zukunft konkret angeschaut wird, wie mit dem Blick eines Kindes. Ich finde es wichtig, diese Zukunftsperspektive am Geburtstag wahrzunehmen.



    Natürlich ist Geburtstag, zumal der Sechzigste, immer auch Rückschau. Da gibt es bei Bischof Franz-Josef viel zu entdecken. Ich beschränke mich dabei mit einer kleinen Auswahl auf die gut eineinhalb Jahrzehnte, in denen er das Bistum Osnabrück leitet.



    Geteiltes Bistum



    Armes Bistum Osnabrück, so hieß es damals, als das Erzbistum Hamburg vom Mutterbistum Osnabrück abgetrennt wurde. Armes Bistum Osnabrück. Es verliert vierzig Prozent der Katholiken. Es verliert fast zweidrittel seiner Fläche. Dazu gehören die drei Landeshauptstädte Hamburg, Kiel und Schwerin, viele Urlaubsgebiete an Meeresstränden und Binnenseen, Hansestädte wie Lübeck und Rostock und vieles andere mehr. Armes Bistum Osnabrück, so meinten damals viele.



    Zukunftsfähiges Bistum



    Und dann kommt ein junger glaubensstarker Bischof und öffnet seinen Diözesanen die Augen für all das Schöne und all die Chancen, die im Bistum Osnabrück gegeben sind.



    Das bleibt auch in der Bischofskonferenz nicht verborgen. Bald ist Bischof Franz-Josef Jugendbischof, und diese Aufgabe färbt ab auf das ganze Bistum Osnabrück. Statt „armes Bistum Osnabrück“ heißt es jetzt „jugendliches Bistum Osnabrück“, Bistum mit Zukunft, lebendiges Bistum.



    Das schlägt sich dann auch in zahlreichen Veröffentlichungen von Bischof Franz-Josef nieder. Zum Beispiel in „7x7 Glaubens-Impulse“, „Unterwegs zum ganz Anderen“ oder „Zeit mit Gott“.



    Es ist die Zeit des Weltjugendtages in Köln. Da ist der Jugendbischof besonders gefordert. Das großartige Gelingen dieses Glaubensfestes mit Papst Benedikt ist vor allem auch ihm zu verdanken.



    Dabei weiß Bischof Franz-Josef: Allein kann er nichts ausrichten. Der Kontakt zu Priestern und pastoralen Mitarbeitern ist für ihn lebenswichtig. Auch daraus entstehen lesenswerte Bücher wie „Du hast mich betört, Herr“ oder „Er hat uns geschenkt, ihm furchtlos zu dienen“ u.a.



    Ihm ist bewusst: Ein Bischof ohne Priester und Diakone, ohne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ohne engagierte Ehrenamtliche ist wie ein Auto mit platten Reifen. Es ist alles da. Aber es bewegt sich nichts. Weil Bischof Franz-Josef intensiv geistliche Kommunikation pflegt und entfaltet, gelingt ihm etwas, was in ganz Deutschland Bewunderung hervorruft. Davon soll jetzt die Rede sein.



    Glückliches Bistum



    Es ist das Jahr 2008. Der Katholikentag, der eigentlich in Essen stattfinden sollte, wird vom dortigen Bistum abgesagt. Aus finanzieller und personeller Not. Da greift Bischof Franz-Josef zu. Der Katholikentag in Osnabrück wird ein wunderbares Fest des Glaubens, voller Kraft des Geistes in lebendiger Beziehung zu Gott und zu allen, die in Osnabrück dabei sind.



    All das ist so überzeugend im Wirken von Bischof Franz-Josef, dass unsere Bischofskonferenz ihn im vergangenen Jahr zum Vorsitzenden der Pastoralkommission gewählt hat. Es gibt vierzehn solcher Kommissionen. Aber dass Bischof Franz-Josef für die beiden Kommissionen gewählt worden ist, zuerst die Jugendkommission und jetzt die Pastoralkommission, die besonders wichtig für die Seelsorge sind, davon profitiert auch das ganze Bistum Osnabrück. Statt „armes Bistum Osnabrück“ heißt es jetzt überall „glückliches Bistum Osnabrück“.



    Die Frage nach den Wurzeln



    Wo liegen die Wurzeln für solch geistgewirktes Tun von Bischof Franz-Josef? Die Antwort lässt sich aus seinem Wahlspruch ablesen: „Gott ist größer als unser Herz“ (1 Joh 3,22).



    Gott ist größer – deus semper major. Wer sich nicht selbst groß macht, wer Gott groß sein lässt, der hat den richtigen Maßstab.



    Gott ist größer, das bedeutet: Auf ihn kommt es an, auf ihn richte ich mich aus, nach dir, Gott, strecke ich mich aus.



    „Ad te levavi animam meam“, zu dir erhebe ich mein Inneres, heißt es in Psalm 25. Wörtlich übersetzt: Auf dich hin, Gott, mache ich mich leicht, werfe ich Ballast ab, Ballast von Sorgen, von Schwermut, von Bedrückung. Denn du, Gott, bist größer. Dir vertraue ich mich an.



    Nur in dieser Haltung lässt sich der Bischofsdienst tragen und ertragen. Aber in dieser Haltung können wir auch heute mutig Schritte setzen, so wie Bischof Franz-Josef uns dabei vorangeht.



    In dem Priesterbuch, in welchem Bischof Franz-Josef gemeinsam mit den Bischöfen Franz Kamphaus und Felix Genn seine Gedanken formuliert hat, heißt es: „Der Gott über uns bleibt nicht im Oben. Er kommt ins Unten, bis in die tiefste Tiefe des Unten. Er wird einer von uns, ein Gott mit uns, ganz und gar.“



    Gott ist größer – deus semper major – Gott ist aber immer auch kleiner – deus semper minor – bis in die kleinsten Bausteine der Wirklichkeit hinein – so umfasst er unsere ganze Existenz, so sind wir ganz von ihm gehalten und umfangen.



    Mit dieser Erfahrung können wir in Freude Kirche sein. Trotz all der vielen Fragen, die uns bedrängen. Trotz all der kontroversen Themen, um die wir ringen. Eines ist dabei gewiss: Kirche ist heute alles andere als langweilig. Kirche ist spannend. Wenn wir den Wahlspruch von Bischof Franz-Josef beherzigen „Gott ist größer als unser Herz“, dann finden wir im Dschungel der Meinungen und Ansichten die richtige Orientierung.



    Die Zukunftsperspektive



    Damit sind wir wieder bei der Zukunftsperspektive des Geburtstagskindes. Wie wird es in Zukunft mit der Kirche weitergehen? Auf keinen Fall so, dass wir uns an das anpassen, was gerade Mode ist. Gott ist größer als unser Herz. Nicht das menschliche Herz mit seinen Wünschen, seinem Wollen, seinem Begehren, seinen Verletzungen zeigt uns den Weg. Sondern der je größere Gott zeigt uns den Weg. Was das im Einzelnen bedeutet, darum werden wir zu ringen haben. Aber darum darf man auch ringen, offen, freimütig. Darum dürfen wir streiten, fair, aber entschieden. Die Gesprächsinitiative unserer Bischofskonferenz und die Perspektivkommission, zu der Bischof Franz-Josef gehört, ermutigen uns dazu.



    Beim Propheten Jeremia sagt Gott: „Sucht ihr mich, so findet ihr mich. Wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, lasse ich mich von euch finden“ (Jer 29,13 a).



    Von ganzem Herzen nach dem fragen, der größer ist als unser Herz. In dieser Bereitschaft sind wir gern mit Bischof Franz-Josef unterwegs in die Zukunft, vertrauensvoll und dankbar. Amen
  • Predigt im Jahresschlussgottesdienst 2010 / Hamburg / St. Marien-Dom / 31. 12. 2010
    Liebe Gemeinde,



    gestern Abend war ich bei der Jahresschlusssitzung der Handwerkskammer, heute Mittag bei der Jahresschlussfeier der Handelskammer. Dort und auch an vielen anderen Stellen heißt es in diesen letzten Tagen des Jahres: Rückblick und Ausblick. Was hat das zu Ende gehende Jahr geprägt? Was dürfen wir vom neuen Jahr erwarten?



    Auch als Kirche fragen wir so. Im Rückblick auf dieses Jahr steht ein Thema dunkel und bedrängend wie ein undurchdringlicher Schatten im Vordergrund: Die Missbrauchsfälle. Dass es durch fünf Jahrzehnte hindurch immer wieder sexuellen Missbrauch an Kindern auch in der Kirche gab und auch auf dem Gebiet unseres Erzbistums, das hat mich zutiefst beschämt und erschüttert. Dass wir uns viel zu lange mehr um die Täter und viel zu wenig um die Opfer gesorgt haben, das lastet als schwere Schuld auf uns. Dass wir mehr um das Ansehen der Kirche besorgt waren als um Offenlegen und Bearbeiten der Missstände, das zeigt ein völlig abwegiges Selbstverständnis von Kirche. All das müssen wir bekennen. Und für all das bitten wir um Vergebung.



    Wir haben aus Fehlern und Sünden gelernt. Die einzelnen Maßnahmen, die wir ergriffen haben, können Sie im Internet nachlesen. Sowohl auf der Homepage unseres Erzbistums als auch unter katholisch.de für ganz Deutschland. Inzwischen nehmen wir als Kirche in der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in Deutschland eine Vorreiterrolle ein. Das sind wir der Gesellschaft schuldig. Denn das Entsetzen in der Bevölkerung sagt uns ja deutlich: Bei euch als Kirche hätten wir Missbrauch am wenigsten erwartet. Dann darf man jetzt auch mit Recht von uns erwarten, dass wir vorbildlich sind in Aufklärung, Sorge um die Opfer und vorbeugende Maßnahmen.



    Ich persönlich muss aber auch bekennen, dass ich zwei Priester vorübergehend aus dem Dienst genommen habe, die grundlos angezeigt worden waren. Die Motive für die Anzeigen waren unterschiedlich. Aber es war auch pure Böswilligkeit dabei, wie sich später in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft herausstellte.



    In diesem Jahr habe ich besonders deutlich erlebt, wie sehr das Böse Realität ist. Ich erinnere mich an ein Wort von Papst Paul VI, der einmal sagte: Der Pestgestank des Bösen ist in die Kirche eingedrungen. Ja, es hat schon seinen tiefen Sinn, dass wir täglich im Vater Unser beten: Erlöse uns von dem Bösen.



    Weil Jesus uns so zu beten gelehrt hat, verzagen wir nicht. Wir müssen nicht mutlos sein. Aber wir müssen wachsam sein. Damit uns das Böse nicht überwältigt. Das hat dieses Jahr deutlich gezeigt.



    Ein ganz anderes Gesicht des Bösen zeigte sich in diesem Jahr, als Wissenschaftler zu dem Ergebnis kamen, wie sehr Diplomaten des auswärtigen Amtes in der Hitlerzeit verwickelt waren in die Ermordung von Juden. Das Dokument über ein Dienstreisegesuch mit dem Zweck „Liquidation von Juden“ war ja überall in den Medien abgebildet. Das hat nun nicht direkt mit der Kirche zu tun. Aber auch in dieser Zeit des Nationalsozialismus hätten wir als Kirche stärker dem Bösen widerstehen müssen.



    Ich sage das vor allem deshalb, weil diejenigen, die nicht nach den Weisungen Hitlers, sondern nach den Weisungen ihres am Glauben geschulten Gewissens gehandelt haben, die dem Bösen widerstanden haben, umso mehr als Vorbilder aufleuchten.



    Solche Vorbilder sind unsere vier Lübecker Märtyrer. Wie werden im kommenden Jahr die Seligsprechung der drei Kapläne und das ehrende Gedenken für den evangelischen Pastor begehen. Das gehört zu den hellen Seiten dieses Jahres, dass Papst Benedikt nach mehrjähriger Prüfung, wie das immer üblich und notwendig ist, das Seligsprechungsdekret unterschrieben hat.



    Ich freue mich, dass wir gemeinsam mit der evangelischen Kirche einen Weg gefunden haben, der vier Märtyrer feierlich zu gedenken unter Wahrung und Achtung der unterschiedlichen Traditionen unserer Kirchen. Papst Benedikt bin ich dankbar, dass er in einer Ansprache hervorgehoben hat, wie bemerkenswert das ökumenische Miteinander der vier Märtyrer war. Der Papst spricht von einem „eindrucksvollem Zeugnis der Ökumene des Gebetes und des Leidens“ der vier Lübecker Märtyrer. Ich füge gerne hinzu: Deren Ökumene im Sterben verpflichtet uns zur Ökumene im Leben.



    Wir wollen aber nicht vergessen, dass auch heute Christen ermordet werden. Christen sind gegenwärtig die am meisten verfolgte Religionsgruppe in der Welt. Das gilt zurzeit in Nigeria, im Irak und in Teilen Indiens. Aber auch in China und Vietnam sind Christen in einer äußerst gefährdeten Lage. Dass wir in Deutschland unseren Glauben in Freiheit leben können, ist nach weltweitem Maßstab alles andere als selbstverständlich. Umso mehr wollen wir diese Freiheit nutzen, während in Basra, Bagdad und Mossul auch aus Sicherheitsgründen die Gottesdienste abgesagt werden mussten.



    Wir verabschieden das alte Jahr mit Reue, mit Bitte und mit Dank. Ja, auch der Dank darf nicht fehlen für all das Gute, das uns dieses Jahr gebracht hat. Möge das neue Jahr für Sie alle und Ihre Lieben reich gesegnet sein.



    Amen.
  • Weihnachtserfahrungen - Drei Schritte / Hamburg St. Marien-Dom / 24. 12. 2010
    Liebe Schwestern und Brüder,



    im Grunde ist alles ganz einfach im Stall von Bethlehem. Eine Frau, ein Mann, ein neugeborenes Kind. Eine armselige Umgebung. Das kennen wir doch.

    In den biblischen Texten dieser Nacht aber wird uns verkündet: In diesem Kind von Bethlehem kommt Gott auf uns zu. Weihnachten ist eine gute Gelegenheit, mit Gott Erfahrungen zu machen. Und auch mit uns selbst. Und wie das ist zwischen Gott und uns.



    Die Tage vor Weihnachten waren hektisch und laut. Jetzt geht es um Stille. Die Geschäfte mit ihren verlockenden Auslagen boten Äußerliches. Jetzt geht es um Innerliches. Manchmal wurde ich gefragt, was ich mir wünsche. Jetzt frage ich das Kind von Bethlehem: Was wünschst du von mir?



    Drei Schritte



    Stille, der Weg nach Innen und die Frage, was willst du, Gott, von mir? Diese drei Schritte können zu wichtigen Weihnachtserfahrungen führen.

    Stille. Ja, das hat mich beeindruckt, wie in dem Film „Von Menschen und Göttern“ die Mönche in der Weihnachtsnacht in feierlicher Prozession das Jesuskind zur Krippe tragen. In Stille. Und mit Gesang. Gesang kann wie Stille sein. Stille kann wie

    Gesang sein. Indem ich still auf das Jesuskind schaue, in der Kirche oder zu Hause, komme ich dem Geheimnis Gottes näher, komme ich zum Staunen darüber, wie Gott mir entgegenkommt.



    Auf einmal bin ich dann nicht nur bei dem Kind in der Krippe. Auf einmal bin ich bei dem Kind, das ich selbst einmal war. Und bei dem Weg, den ich seitdem zurückgelegt habe. Meister Eckhart, ein großer Theologe des Mittelalters, sagt sinngemäß: Gott ist in unserem Inneren zu Hause. Aber wir sind oft nicht zu Hause

    bei uns selbst.



    Ich denke an mein schönstes Weihnachtsgeschenk, das ich als Kind bekam. Ein großes Buch über ferne Länder. Mit herrlichen Bildern. Ich habe es heute noch. Im Lesen und Schauen vergaß ich die Zeit. Überhörte das Rufen zum Essen. Da war ich ganz bei mir zu Hause. Wenn ich bei mir zu Hause bin, kann sich etwas abspielen zwischen Gott und mir. Dann kann ich Gott fragen: Was erwartest du von mir?



    Die Erzählungen der Bibel sagen mir: Gott ist Wort. Der Mensch ist Antwort. Das Wort ist Fleisch geworden. Meine Antwort soll auch Fleisch werden, soll mich prägen. Das Wort, das Fleisch geworden ist, wird zum Brot. Zum Brot des Lebens in der

    Heiligen Messe. Meine Antwort hat auch mit Brot zu tun, wird für andere Mittel zum Leben, zum Lebensmittel. Etwa in der Adveniataktion für Menschen in Lateinamerika. Oder im aufmerksamen Blick für Menschen in meiner Umgebung, die meine Hilfe brauchen. Oder in einer versöhnenden Geste, einem aufmunternden Wort.



    Auf Augenhöhe



    Die erste Weihnachtsmesse vorhin habe ich in Bethlehem gefeiert. So heißt das Haus hier in Hamburg, wo die Schwestern von Mutter Teresa sich um Obdachlose sorgen. Wir haben die alten Lieder gesungen. Von früher erzählt. Da waren leuchtende Augen. Aber auch Tränen. Manchmal beides zugleich.



    Ich möchte nicht mit einem Obdachlosen tauschen. Wir wollen alles tun, um Armut zu verringern. Aber manchmal habe ich den Eindruck, Arme sind oft eher bei Gott zu Hause. Vielleicht, weil ihre Situation Ähnlichkeit hat mit dem Stall von Bethlehem. Aber je mehr ich meine eigene Bedürftigkeit nicht überspiele, sondern eingestehe, desto eher kann auch ich Gott nahe sein. Wir bemühen uns als Kirche, auf Augenhöhe mit der Welt zu sein. Das ist wichtig. Aber noch viel wichtiger ist es, auf Augenhöhe mit dem Kind in der Krippe zu sein. Dafür müssen wir uns tief bücken.

    Aber dann sind wir auch auf Augenhöhe mit den Armen dieser Welt.



    Bei einer Pilgerreise ins Heilige Land bewegt es mich immer wieder neu, wenn ich vor der Geburtskirche in Bethlehem stehe. Wenn ich sie betreten will, muss ich mich tief bücken. So niedrig ist der Eingang. Und dann denke ich an den Rabbi, der von seinem Schüler gefragt wird: Warum machen heutzutage so wenige Menschen Erfahrung mit Gott. Die Antwort: Weil sich niemand mehr so tief bücken will.



    Sie merken: Im Grunde ist alles ganz einfach in dieser Nacht. Wir schauen auf das Kind in der Krippe. Und auf das Kind, das wir selbst einmal waren. Wir fragen das Kind, Wie ist das zwischen Gott und mir. Was spielt sich da ab? Die Antwort stellt sich in meinem Innern ein. Ich kann sie erfahren, je mehr ich bei mir selbst zu Hause bin.



    Amen.
  • Einführung von Pater Dr. Hermann Breulmann als geistlicher Rektor der Katholischen Akademie / Hamburg / 24. 10. 2010
    Liebe Schwestern und Brüder,



    herzlich begrüße ich Sie zu diesem Gottesdienst. Mein besonderer Gruß gilt Pater Breulmann aus der Gemeinschaft der Jesuiten. Ihn führe ich mit dieser Eucharistiefeier in sein Amt ein. Er übernimmt es als Nachfolger von Msgr. Wilm Sanders, der mit Vollendung des 75. Lebensjahres emeritiert worden ist.



    Eine wichtige Aufgabe unserer Akademie ist es, Kirche und Welt, Glaube und Gesellschaft, Evangelium und Medien miteinander ins Gespräch zu bringen. Dazu passt es gut, dass im Anschluss an diesen Gottesdienst ein ausgewiesener Medienfachmann, Herr Tom Buhrow, in einer Veranstaltung unserer Akademie mit Pater Breulmann ein Gespräch führen wird. Und Sie alle sind dazu herzlich eingeladen.



    Am vergangenen Sonntag hatte ich in München zu tun. In der St. Michael Kirche, wo ebenfalls die Jesuiten tätig sind, sitze ich zu einer kurzen Besinnung. Da stürzt jemand auf mich zu und sagt: "Sie sind doch der Erzbischof von Hamburg. Sie haben München einen großen Verlust bereitet. Denn Pater Breulmann hat hier in München segensreich gewirkt." Wir haben uns dann noch etwas unterhalten, und es hat mich beeindruckt, wie sehr die Arbeit von Pater Breulmann in München geschätzt wurde. Ich freue mich, dass er dieses segensreiche Wirken jetzt hier in Hamburg weiterführt.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am 3. Oktober 2010 / St. Marien-Dom Hamburg / 06. 10. 2010
    Liebe Gemeinde,



    „ich saß vor dem Fernseher. Die ganze Nacht. Menschen standen in Berlin auf der Mauer. Menschen aus beiden Teilen der noch nicht geeinten Stadt waren fassungslos vor Freude. Menschen, die sich nicht kannten, lagen sich weinend in den Armen. Es war überwältigend, so tief berührend. Und ich weinte auch.“



    Mit diesen Worten schildert Rolf Beck, der Intendant des Schleswig-Holstein Musikfestivals den Fall der Mauer.



    Was vor zwanzig Jahren eine nicht für möglich gehaltene Sensation war, das ist heute normal: Die Einheit Deutschlands ohne Krieg, ohne Blutvergießen. So wird immer gesagt. Ohne Krieg stimmt. Ohne Blutvergießen stimmt nicht. Wir wollen die nahezu tausend Toten nicht vergessen, die an der innerdeutschen Grenze bei Fluchtversuchen starben. Und auch die Zehntausende wollen wir nicht vergessen, die an der Mauer verwundet, verhaftet und verurteilt wurden. Und die Zigtausende, die für die Freiheit sich eingesetzt haben und dafür Nachteile bis zu langer Gefängnishaft in Kauf genommen haben, wollen wir nicht vergessen. Wir wollen überhaupt nicht vergessen.



    „Vergessen ist Mangel an Treue“, sagt der Philosoph Gabriel Marcel. Wir brauchen diese Treue zu unserer Geschichte. Wir brauchen diese Treue zu uns selbst in Ost und West. Und wir brauchen diese Treue zu Gott.



    Diese Treue kann uns davor bewahren, dass Geschenk der Deutschen Einheit kleinzureden und daran herumzunörgeln. Natürlich ist es eine große Herausforderung, wenn Menschen nach Jahrzehntelanger ganz unterschiedlicher Erfahrung auf einmal zusammengehören.



    Wir im Erzbistum erleben das besonders spannend. Schließlich sind wir ein Kind der Deutschen Einheit, zusammengewachsen aus Ost und West. In unseren diözesanen Gremien versuchen wir aufeinander zu hören und einander zu verstehen. Wir wachsen immer mehr zusammen. Aber es gibt auch immer wieder Wachstumsstörungen. Zum Beispiel im Freiheitsverständnis. Wenn Mecklenburger wahrnehmen, dass das hohe Gut der Freiheit in Hamburg zu Beliebigkeit zu werden droht. Oder dass Christ-sein unter der Bedingung der Freiheit auch eine großer Herausforderung ist. Allerdings eine ganz andere als in einer atheistischen Diktatur. Da müssen wir noch viel aufeinander hören und voneinander lernen.



    Vor allem dürfen wir im Westen nicht vergessen, dass wir den Menschen im Osten eine Befreiungsbewegung verdanken, die einmalig in der Geschichte ist. Wir sprechen von der Wende. Aber das war keine Wende. Das war eine Revolution. Zur Treue zu unserer Geschichte gehört, dass wir den Menschen im Osten für diese Revolution bleibende Hochachtung zollen. Auch deshalb, weil die Menschen in den neuen Bundesländern sich völlig neu orientieren mussten, während man im Westen so weiterleben konnte wie bisher.



    Unser Weihbischof in Schwerin, Norbert Werbs, weist in einem Interview darauf hin, dass die Freiheit im Osten keine Hinwendung zu Glaube und Kirche gebracht hat. Das ist enttäuschend.



    Umso wichtiger ist der Aufruf des Apostel Paulus in der Lesung heute: Gott hat uns nicht den Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Nicht so selten erlebe ich sowohl im Ostteil als auch im Westteil unseres Bistums Verzagtheit.



    „Der Glaube hat keine Konjunktur“, sagte mir kürzlich jemand. Aber Gott ist kein Wirtschaftssystem. Gott ist eine Lebensquelle. Es ist an uns, in Ost und West deutlich zu machen, was das für eine Lebensqualität ist, ein gläubiger Mensch zu sein.



    Herr, stärke unseren Glauben, bitten die Apostel Jesus heute im Evangelium. Glaube ist ja etwas, was schwach sein kann und was stark sein kann, was klein sein kann oder groß sein kann. Bevor Sie jetzt überlegen, ob Ihr Glaube klein oder groß ist, schwach oder stark, achten Sie auf das, was Jesus dazu sagt: Selbst wenn euer Glaube klein ist wie ein Senfkorn, sagt er, euer Glaube kann wachsen, sich entfalten, groß werden.



    Auch das kann eine wichtige Frage heute am Tag der Deutschen Einheit sein: Ist mein Glaube in diesen zwanzig Jahren der Einheit größer geworden oder kleiner, stärker oder schwächer? Und was kann ich tun, damit mein Glaube größer wird, stärker wird, wachsen kann? Jedes Gebet, jeder Gottesdienst, jede Art von Nächstenliebe lässt im Glauben wachsen, gibt dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit Raum.



    Zu Beginn hatte ich Rolf Beck zitiert: „Menschen, die sich nicht kannten, lagen sich weinend in den Armen. Es war überwältigend, so tief berührend, damals als die Einheit Deutschlands möglich wurde.“



    So ähnlich formuliert es Rolf Beck in dem neuen Kalender unseres Erzbistums. Der Titel des Kalenders: Grenz – Erfahrung. Auf dem Titelblatt sehen Sie die Erfahrung an der Grenze, die Schlange fahrender Trabis. Sie können den Kalender nach dieser Messe kaufen. Nicht zu kaufen waren und sind Freiheit und Einheit in Deutsch-land. Aber Freiheit und Einheit sind und bleiben Auftrag für uns Christen. Jeden Tag neu. Amen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen anlässlich der Priesterweihe am 2. Oktober 2010 / St. Marien-Dom Hamburg / 06. 10. 2010
    Liebe Weihekandidaten, verehrte, liebe Angehörige, Freunde und Bekannte,

    liebe Mitbrüder, Schwestern und Brüder,



    ob es Ihnen ähnlich geht wie mir? Am Ende dieses Evangeliums? Da heißt es ja: „Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten!“



    Wer denkt da nicht an die Missbrauchsvorfälle! Die waren und sind ja eine kaum zu überbietende Verachtung der Kleinen.



    Als ich im Vorgespräch zu dieser Feier die Weihekandidaten darauf hinwies, sagte einer: Ja und? Das ist die Realität. Der müssen wir uns stellen. Und er ergänzte dann: Ein Priester hat Schutzengelfunktion. Er übernimmt Verantwortung für Schutzbefohlene. Deshalb empört sich die Öffentlichkeit mit Recht besonders lautstark beim Versagen eines Priesters.



    Schutzengelfest und Priesterweihe. Dieses Zusammentreffen legt den Widerspruch offen, in den wir als Kirche geraten sind. Ein abgrundtiefer Widerspruch. Wir können ihn nur überwinden, wenn wir genau das tun, was Jesus in diesem Evangelium des Weihetages von uns allen fordert: Umkehren, klein werden. Wir sollen als Kirche nicht auf dem hohen Ross sitzen. Wir müssen eine demütige Kirche sein. So habe ich es auch in der vergangenen Woche in der Bischofskonferenz gesagt. Klein werden, demütig werden. Das kommt zum Ausdruck, wenn sich die Weihekandidaten gleich flach auf dem Boden ausstrecken. Im Geiste können wir uns alle dazulegen.



    Und nicht nur wir selbst werden dann klein. Alles wird klein. Alles wird unansehnlich. Ja, alles wird Verlust, Unrat, Dreck im Vergleich zu Jesus Christus, wie Paulus es uns heute in der Lesung sagt. Wenn der Maßstab meines Lebens Jesus Christus ist, verliere ich selbst und verlieren die Dinge Größe und Glanz. Ja und dann? Wenn der Maßstab meines Lebens Jesus Christus ist, gewinne ich selbst und gewinnen die Dinge neue Größe und neuen Glanz. Denn dann geht es mir nicht mehr um Selbstbewusstsein. Dann geht es um Christusbewusstsein. Dann blenden mich die Dinge nicht mehr, sondern werden mir Wegweiser zu einem Leben mit Gott. Wenn Jesus Christus Maßstab meines Lebens ist, dann lässt sich tatsächlich Gott „in allen Dingen finden“. Sogar in den Abgründen von Schuld und Verstrickung.



    Aber Paulus sieht das nüchtern und realistisch. Nicht dass ich es schon erreicht hätte, sagt er. Nicht dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen. Das ist ein mutiges Wort: Ich strecke mich danach aus, Christus zu ergreifen.



    Das muss man sich mal bildlich vorstellen. Wenn ich mich nach Christus ausstrecke, das ist ja so, als wollte ich die Gewölbe unseres Domes berühren. Ja noch viel mehr, als wollte ich bis zum Himmel greifen.



    Nein, sagt Paulus, das geht nicht. Ich kann die Christuswirklichkeit nur deshalb in meinem Leben ergreifen, weil ich schon selbst von Christus ergriffen bin. Nicht ich bin ergreifend. Christus ist ergreifend. Aktiv und passiv. Weil ich von ihm ergriffen bin, kann ich ihn ergreifen. Ich kann ihn suchen, in allen Stationen meines Lebens kann ich ihn suchen, weil er mich schon längst gefunden hat.



    Weil das so ist, ist eine demütige Kirche keine traurige, triste, depressive Kirche. Im Gegenteil: Seid nicht traurig und weint nicht, sagt uns der Prophet Nehemia heute in der ersten Lesung. Und dann ist von Festmahl und Wein und Freude die Rede. Als demütige Kirche, als Kirche, die ihre Schuld eingesteht, als Kirche, die nicht aus sich selbst heraus stark ist, sondern deren Kraft die Freude an Gott ist, eine solche Kirche weckt Sehnsucht und stillt Sehnsucht, auch und gerade in unserer Zeit.



    Dann kann die Priesterweihe heute am Schutzengelfest tatsächlich zu dem führen, was der Name „Schutzengel“ bezeichnet: Menschen schützen, Menschen begleiten, Menschen zum Ziel ihrer irdischen Pilgerschaft führen. Dazu will diese Feier unsere drei Weihekandidaten ermutigen und befähigen. Und uns alle mit ihnen. Amen
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen anlässlich der Präsentation des Buches „Geführte Wege“ von Peter Voswinckel am 28. September 2010 in Lübeck / Lübeck / 29. 09. 2010
    Sehr geehrte Damen und Herren,



    über die frühe Christenheit schreibt der am vorletzten Sonntag selig gesprochene John Henry Newman: „Es war das Zeitalter der Märtyrer. Es war das Zeitalter des Handelns, nicht des Denkens.“[1] Er will damit sagen: Am Beginn stand das Zeugnis und das Bekenntnis. Am Beginn stand das aktive Einstehen für den Glauben und das Tragen der damit einhergehenden, oftmals furchtbaren Konsequenzen.



    Die Jahre zwischen 1933 und 1945 waren ebenfalls eine Zeit, die das Handeln notwendig machte. Natürlich gehören Handeln und Denken zusammen. Das eine befruchtet das andere und umgekehrt. Doch gibt es Zeiten, da ist auf Grundlage all des schon Gedachten vor allem ein aktives Tun notwendig, um den Glauben zu bewahren und Frieden und Gerechtigkeit weiterhin zum Durchbruch zu verhelfen.



    Was während der Zeit des nationalsozialistischen Regimes dieses christliche Handeln so schwierig machte, war der Umstand, dass aktives Handeln gleichzusetzen war mit Widerstand. Das Regime duldete keinerlei Opposition. Und wer sich für Gerechtigkeit und Recht, für Frieden und Versöhnung einsetzte, hatte sich damit gegen die Herrschenden gewandt. Vielen Menschen fielen das christliche Handeln und das mutige Bekenntnis deshalb schwer. Im Sinne des Evangeliums zu handeln provozierte eine Gegenreaktion. Verfolgung, Haft und Tod konnten die Folge sein. Die Zahl der Märtyrer aus diesen Jahren ist groß.



    Märtyrer wurden von Beginn der Kirchengeschichte an dort am meisten verehrt, wo sie gelebt und gehandelt hatten und letztlich auch den Tod fanden. Lokal haben sie ihren Glauben bezeugt. Global wurden sie oftmals verehrt. Denn allen Gläubigen war klar: Diese Männer und Frauen, die um Christi Willen sterben, sind Zeugen des einen Glaubens und der ganzen Kirche. Um es etwas umständlich auszudrücken: Märtyrer sind partikulare Zeugen eines universalen Heils. Das drückt seitens der katholischen Kirche eine Seligsprechung aus.



    Für Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl-Friedrich Stellbrink gilt das ebenso. Gelebt und gewirkt haben sie hier in Lübeck. Dabei standen ihnen das mutige Bekenntnis und der Widerstand anfangs keineswegs nahe. Es bedurfte auch bei ihnen großer Überwindung und innerer Umkehr, um sich der christlichen Verantwortung für Glauben, Frieden und Gerechtigkeit in diesen Schreckensjahren bewusst zu werden. Sie haben sich dieser Verantwortung gestellt. Hier in Lübeck. Ihr Handeln und ihr Märtyrertod machen diese Vier aber auch zu Zeugen eines universalen Heils. Sie bekennen, dass Gott der Herr der Welt ist und nicht Hitler oder ein anderer Diktator.



    Das hat vor kurzem Papst Benedikt bestätigt. In einer Rede vom Anfang September sprach er: „Die bezeugte Freundschaft der vier [Lübecker] Geistlichen im Gefängnis ist ein eindrucksvolles Zeugnis der Ökumene des Gebets und des Leidens, wie sie vielerorts in jenen dunklen Tagen nationalsozialistischen Terrors unter Christen verschiedener Konfessionen aufgeblüht ist. Für unser gemeinsames Voranschreiten in der Ökumene dürfen wir diese Zeugen dankbar als leuchtende Wegmarken wahrnehmen. An diesen Märtyrern wird exemplarisch deutlich, wie Menschen aus ihrer christlichen Überzeugung heraus für den Glauben, für das Recht der ungehinderten Religionsausübung und der freien Meinungsäußerung, für Frieden in Freiheit und für die Menschenwürde ihr Leben hinzugeben bereit sind.“[2]



    Ich freue mich sehr, dass sich Herr Professor Voswinckel mit seinem Buch „Geführte Wege“ des Zeugnisses der vier Lübecker Märtyrer angenommen hat. Ich habe das Buch von der ersten bis zur letzten Seite mit Herzklopfen gelesen. Drei Stichworte durchziehen das ganze Werk: Zeugnis für Christus – Ökumene – menschliches Verhalten in unmenschlicher Umgebung.



    Die Seligsprechung der drei Lübecker Kapläne und das ehrende Gedenken für Pastor Stellbrink sagen uns: Das Handeln der vier Märtyrer ist nicht in der Vergangenheit konserviert. Ihr Leben, ihre Taten, ihr Bekenntnis wirken auch heute mächtig weiter.



    Das alles wird in dem Buch anschaulich, anspruchsvoll und ansprechend geschildert.





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    [1] Newman, John Henry 1927: An Essay on the Development of Christian Doctrine, 17. Auflage, London: Longmans, S. 361, Übersetzung BC.



    [2] Benedikt XVI.: Ansprache an Herrn Walter Jürgen Schmid, neuer Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Hl. Stuhl, Montag, 13. September 2010.

  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum Medienempfang am 8. September 2010 / Hamburg / 08. 09. 2010
    Sehr geehrter Herr Stückl,

    sehr geehrte Damen und Herren,



    viele Fäden laufen heute Abend hier zusammen.

    Der erste Faden sind Sie, Herr Stückl, und die Passionsfestspiele in Oberammergau. Zum dritten Mal nach 1990 und 2000 waren Sie für die Festspiele verantwortlich. Unter Ihrer Regie haben die Spiele den Spagat zwischen Tradition und Erneuerung immer wieder versucht. Und stets ist er gelungen. So höre ich es auf jeden Fall von denen, welche auch in diesem Sommer in Oberammergau zu Besuch waren. Auch eine Reisegruppe aus unserem Erzbistum war darunter, und sie kehrten sehr beeindruckt zurück.

    Ich bin gespannt, was Sie uns heute Abend von Ihrer Arbeit in Oberammergau und im Volkstheater in München zu berichten haben. Vor allem interessiert mich die Verbindung zwischen Theater und Glaubenszeugnis, zwischen Inszenierung und Wahrhaftigkeit. Wenn vom Hamburger Ballett die „Matthäus-Passion“ von John Neumeier getanzt wird oder in der hiesigen Oper die „Dialogues des Carmélites“ von Francis Poulenc aufgeführt werden, dann verbinden sich darin auch Glaubenszeugnis und performative Kunst. Auch wenn das noch einmal etwas anderes ist als die Passionsspiele in Oberammergau. In jedem Fall danke ich Ihnen sehr, dass Sie sich auf den weiten Weg nach Hamburg gemacht haben.



    Zwei weitere Fäden verbinden sich mit dem Ort, an dem wir zusammengekommen sind: der Gemeinde Sankt Sophien und dem Kloster St. Johannis der Dominikaner. In der Gemeinde Sankt Sophien wurde Johannes Prassek, einer der vier Lübecker Märtyrer, im Jahre 1911 geboren und getauft. Hier wuchs er auf und ging zur Grundschule. Schon lange wird sein Andenken hier in Ehren gehalten. An einem der Seitenaltäre der Kirche werden Sie sein Bildnis finden. Und wenn im kommenden Jahr die Lübecker Märtyrer seliggesprochen werden, dann werden auch viele Menschen aus Barmbek mit dabei sein, um „ihren“ Johannes Prassek zu feiern.

    Mit dem hiesigen Kloster St. Johannis verbindet sich auch ein ganz Großer des Ordens der Prediger, wie die Dominikaner offiziell heißen. Ich spreche von Meister Eckhart. Vor 750 Jahren wurde Meister Eckart geboren. Anfang September des Jahres 1310, also vor genau 700 Jahren, trafen sich die Dominikaner zur ihrer Kapitelversammlung hier in Hamburg. Als deren Provinzial wird Meister Eckart ebenfall in der Hansestadt gewesen sein, um diese zu eröffnen. Aufgrund dieses doppelten Anlasses wird im Rahmen der „Nacht der Kirchen“ am 18. September hier die 6. Mystische Nacht stattfinden. Sie wird sich ganz um die Person und das Werk Meister Eckarts drehen. P. Thomas Krauth, Pfarrer und Prior, danke ich recht herzlich, dass wir heute Abend hier zu Gast sein dürfen.



    Danken möchte ich ganz besonders auch Ihnen, den Vertreterinnen und Vertretern der Medien. Seit unserem letzten Medienempfang vor einem Jahr, haben Sie unsere Arbeit stets wohlwollend begleitet. Sie können sich vorstellen, dass die letzten Monate für uns als Kirche eine schwere Zeit waren. Wir haben dadurch sehr viel dazu gelernt. Dieser Lernprozess, so wünsche ich mir, sollte auf die ganze Gesellschaft ausstrahlen. Ich bin der Meinung, dass die deutliche und faire Berichterstattung der Medien, welche die Enthüllungen der jüngeren Zeit begleitet hat, uns weitergeholfen hat.

    Ich wünsche uns allen einen schönen Abend. Herr Stückl, ich übergebe nun das Wort an Sie.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel am 15. August 2010 in Kevelaer / Kevelaer / 17. 08. 2010
    Wallfahrtsweg – Lebensweg



    Liebe Schwestern und Brüder,



    auf einem Parkplatz an der Autobahn treffe ich zwei Motorradfahrer. Kurzes Gespräch. Mit der Frage nach dem Woher und Wohin. Wir fahren nur so herum, sagt einer, ein richtiges Ziel haben wir gar nicht, einfach so, Fahrt ins Blaue.



    Dass unser Leben nicht wie eine Fahrt ins Blaue ist, das zeigt uns das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel. Wir leben nicht einfach nur so herum. Wir haben ein Ziel. Es ist dasselbe Ziel wie bei Maria. Das Ziel heißt: Himmel.



    1. Der persönliche Weg



    Die Frage nach dem Ziel und nach dem Weg gehört zur Wallfahrt. Am Wallfahrtsort schaue ich auf meinen Weg. Was bedrückt mich? Was macht mich froh? Wofür will ich danken? Worum will ich bitten? Was liegt gerade hinter mir? Was liegt vor mir?



    Für meinen Lebensweg habe ich kein Navigationssystem, das mich führt. Aber ich habe mein Gewissen, das mich führt und das mir Auskunft gibt, was jetzt für mich dran ist, was für meine jetzige Lebenssituation wichtig ist.



    Kürzlich im Zug hörte ich, wie der Schaffner einer Frau zurief: Sie müssen hier umsteigen, schnell, beeilen Sie sich, Sie müssen umsteigen.



    Gilt das auch für meinen Lebensweg? Dass ich umsteigen muss? Eine andere Richtung einschlagen muss? Umsteigen – der Ruf des Schaffners ist mir noch im Ohr. Umsteigen – was soll bei mir nicht mehr so weitergehen? Wo muss ich mein Leben ändern? Umsteigen – wo gilt das für mich?



    In Hamburg besuche ich immer mal wieder einen großen Betrieb, der für die Stadt von besonderer Bedeutung ist.



    Kürzlich war ich bei der Hamburger Bahn. Die ist auch zuständig für die U-Bahnen in Hamburg.



    Nach dem Gespräch über persönliche, wirtschaftliche und verkehrstechnische Fragen sagt mir der Chef: Wollen Sie nicht mal selbst einen U-Bahnzug fahren? Wenige Minuten später sitze ich im Sessel des U-Bahnführers. Die wichtigsten Knöpfe und Schalter sind schnell erklärt. Und los geht die Fahrt. Selten habe ich mich so konzentriert. Und dann sagt mir der Chef noch, der hinter mir steht, um im Notfall einzugreifen: Jetzt haben Sie die volle Verantwortung für alle anderen im Zug. Das waren zwar alles Mitarbeiter der Hochbahn oder des Erzbistums, aber immerhin. Wer im Führerabteil den Zug bedient, der hat die volle Verantwortung.



    Das gilt auch für meinen Lebenszug. Ich habe zu allererst für mein eigenes Leben die Verantwortung. Aber niemand fährt mutterseelenallein. In meinem Lebenszug gibt es viele Andere, für die ich auch Verantwortung habe. Auch das gehört zur Wallfahrt: Dass ich Verwandte, Bekannte, Freunde, ja, unsere ganze Gesellschaft und die ganze Welt, mitnehme in meinen Gedanken und Gebeten. Das kann auch zu handfesten Konsequenzen führen.



    Wir gehen unseren Lebensweg in der Gemeinschaft der Kirche. Mit Papst Benedikt, mit allen, die sich in unseren Diözesen und Pfarrgemeinden einsetzen.



    Zuerst haben wir auf unseren persönlichen Weg geschaut. Jetzt schauen wir auf unseren Weg in der Gemeinschaft der Kirche.



    2. Unser Weg innerhalb der Kirche



    In den Sommerferien gibt es in der Innenstadt von Hamburg manche Baustellen. Das ist ärgerlich. Viele schimpfen.



    So ist das zur Zeit auch in der Kirche. Es gibt manche Baustellen: die Missbrauchsfragen, die Zusammenlegung von Pfarreien, die immer mehr zurückgehende Zahl der Priester, die abnehmende Zahl der Gottesdienstbesucher. Das ist bedrückend und viele schimpfen.



    Auch hier haben wir kein Navigationssystem, das uns den richtigen Weg der Kirche in die Zukunft zeigt.



    Aber mit auf unserem Weg ist der Herr der Kirche, Jesus Christus. Ihm können wir uns anvertrauen. Vor ihm können wir klagen darüber, dass es in der Kirche solchen Schmutz gibt, wie Papst Benedikt sagt. Den wir fragen können, was willst du uns mit den Baustellen in der Kirche sagen, Christus? Und den wir bitten können: Zeig uns den richtigen Weg.



    Aber die Richtung für den Weg der Kirche im 21. Jahrhundert kann uns nicht der Zeitgeist zeigen. Nicht die Anpassung an das, was gerade Mode ist, ist der richtige Weg. Die Richtung für den Weg der Kirche im 21. Jahrhundert kannst nur du uns zeigen, Christus. Nur im Hören auf dich finden wir den richtigen Weg. Das wird kein leichter Weg sein. Die Zeit der Volkskirche in unserem Land ist vorbei. Die Einsicht tut weh. Aber sie ist Realität. Aber möglicherweise eröffnet das ganz neue Chancen.



    Wir werden die Baustellen in der Kirche am besten bewältigen, wenn jeder und jede Einzelne sich im Gewissen fragt: Was ist meine Aufgabe dabei, welchen Auftrag ha-be ich, was kann ich beitragen, so wie es meiner Glaubens- und Lebenssituation entspricht? Die Antwort auf solch persönliche Frage ist nur im Gebet zu finden.



    Mir fällt auf, dass in beiden Lesungen heute von Kampf und von Feinden die Rede ist: Der Drache, der das Kind verschlingen will in der Lesung aus der Offenbarung. Die Feinde, auf die Christus seinen Fuß setzt im ersten Korintherbrief.



    Jesus sagt uns, wir sollen unsere Feinde lieben. Aber wir sollen uns von ihnen nicht überwältigen lassen. Auch nicht von einem aggressiven Säkularismus, der so tut, als sei nur seine Argumentation vernünftig.



    Auch nicht von Ideologien, die uns von Moden, Markt oder Medien aufgedrängt werden.



    Wir haben es doch in den totalitären Regimen des vorigen Jahrhunderts erlebt, wie sie dabei waren, die Menschen zu vernichten. Eine Gesellschaft ohne Gott zerstört sich selbst, egal ob unter dem Deckmantel einer Ideologie oder unter dem Deckmantel der Beliebigkeit.



    Unser Glaube ist nicht die Welterklärungsformel, die alles klar macht. Das kam ja bei der bewegenden Trauerfeier in Duisburg deutlich zum Ausdruck. Aber es wurde auch deutlich, wie sehr wir auf den grenzenlosen Gott angewiesen sind, gerade dann, wenn wir selbst an unsere eigenen Grenzen stoßen.



    3. Wir halten Rast auf unserem Lebensweg



    Das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel lässt uns innehalten auf unserem Weg und Ausschau halten nach dem Ziel.



    Wir wissen nicht, unter welchen Umständen wir unser Ziel erreichen werden. Ob unter so furchtbaren Umständen wie die 21 Toten in Duisburg. Oder ob sanfter nach langem Leben. Aber das wissen wir: Unser Leben ist keine Fahrt ins Blaue. Wir haben ein Ziel, für das es sich lohnt zu leben und dann, wenn es für uns vorge-sehen ist, auch zu sterben.



    Wir verbinden unseren Weg heute und immer wieder neu mit unserem Ziel, wenn wir beten: Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt – und in der Stunde unseres Todes. Amen.

  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am Pfingstsonntag, in der Eucharistiefeier mit den Grabesrittern / St. Marien-Dom Hamburg / 08. 06. 2010
    Verehrte, liebe Consorores und Confratres aus der Gemeinschaft der Grabesritter, liebe Gemeinde,



    in der vergangenen Woche hatte ich im Norddeutschen Rundfunk die Morgenan-dachten zu halten. Es ging, wie könnte es in den Tagen vor Pfingsten anders sein, um den Heiligen Geist.



    Manche Hörerinnen und Hörer melden sich dann, stellen Fragen, üben Kritik, be-danken sich, sagen ihre Meinung. Eine Reaktion lautete: „Sie sprechen immer vom Heiligen Geist. Ich habe dazu zwei Fragen: Sagen Sie mir in einem Satz, wer das ist, der Heilige Geist. Und in einem zweiten Satz, warum Sie den Heiligen Geist so wich-tig finden.“



    Wer bist du, Heiliger Geist? In der Verkündigung Jesu spielt er eine entscheidende Rolle. Sie haben das gerade in den biblischen Texten wieder gehört. Die äußeren Zeichen von Feuer und Sturm in Jerusalem am ersten Pfingstfest bleiben einmalig. Aber die bezeichnete Wirklichkeit, die bleibt gültig. Vom Anfang der Kirche bis heu-te und weiter bis zum Ende der Zeit.



    Deshalb können wir auch mit Zuversicht unseren Weg in der Kirche gehen. Trotz allem. Deshalb freue ich mich darauf, heute Nachmittag mit achthundertfünfzig Pfadfindern aus unserem Erzbistum den Gottesdienst im Zeltlager feiern zu kön-nen. Deshalb freue ich mich auf die zweiundachtzig erwachsenen Firmbewerber, die morgen hier im Mariendom das Sakrament der Firmung empfangen.



    Aber wer bist du, Heiliger Geist? Wenn ich nach einem Menschen frage, wer er ist, dann kann ich Namen, Alter, Wohnort, Beruf und vieles andere nennen. Aber weiß ich dann, wer er ist? So sind in theologischen Büchern alle Schriftstellen der Bibel über den Heiligen Geist aufgeschrieben und ausgedeutet. Aber weiß ich dann, wer er ist?



    Bei einem Menschen kann ich erst dann erfahren, wer er ist, wenn ich mich auf ihn einlasse. So ist das auch mit dem Heiligen Geist. Ich erfahre, wer er ist und was er für mich bedeutet, wenn ich mich auf ihn einlasse.



    Aber wenn ich mich auf einen Menschen einlasse, ihn immer mehr kennenlerne, dann kann ich wohl ein Stichwort nennen, das diesen Menschen besonders charak-terisiert.



    Gibt es auch ein Stichwort, das den Heiligen Geist besonders charakterisiert? Für mich heißt das charakteristische Stichwort für den Heiligen Geist: Beziehung.



    Der Heilige Geist ist lebendige Beziehung zwischen Gottvater und Sohn. Und eben-so ist der Heilige Geist lebendige Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Er ist Beziehung der Menschen untereinander. Beziehung horizontal in der Gegenwart. Beziehung vertikal durch die Zeiten hindurch. Der Heilige Geist ist wie eine Brücke, von einem Ufer zum anderen. Das ließe sich jetzt durch viele Stellen der Bibel bele-gen.



    Aber interessanter, weil existenzieller, ist vielleicht für Sie etwas anderes. Die Frage nämlich für jeden und jede einzelne hier: Wie sehr bin ich denn geprägt vom Heili-gen Geist? Und das heißt auch: Wie beziehungsfähig bin ich?



    Vorsicht, da lauern viele Missverständnisse. Gemeint ist nicht: Kann ich leicht auf andere zugehen? Finde ich schnell Kontakt? Bin ich ein guter Unterhalter? Habe ich viele Bekannte? Das alles ist nicht gemeint.



    Gemeint ist: Ist bei mir die dreifache Beziehung lebendig? Also: Die Beziehung zu Menschen, die Beziehung zu Gott und die Beziehung zu mir selbst. Anders gefragt: Kann ich Ja sagen zu Menschen, zu Gott und zu mir selbst.



    Ja sagen zu Menschen, auch wenn sie mich enttäuscht, verletzt oder gelangweilt haben. Oder lasse ich sie dann fallen? Das ist eine Frage der Beziehungsfähigkeit.



    Ja sagen zu Gott, auch aus guter Gewohnheit, aber auch spontan im Gebet oder in einer Tat der Nächstenliebe.



    Ja sagen zu mir selbst, auch mit meinen Fehlern, auch mit meinen negativen Sei-ten, auch mit meinen Verletzungen.



    Der Heilige Geist ist Beziehung, und ihm öffnen wir uns an diesem Pfingstfest, da-mit sich die Beziehung zu Menschen, zu Gott und zu uns selbst weiter entfalten kann. Und dann kann es zur Gewissensfrage werden, welches Ja ich verstärken muss, das Ja zu bestimmten Menschen, das Ja zu Gott oder das Ja zu mir selbst – und das nicht theoretisch, sondern praktisch.



    Für uns in der Gemeinschaft der Grabesritter spielt wegen des Heiligen Landes, des Landes Jesu, die Beziehung zu Gott und zu den Menschen in Israel eine besondere Rolle. Ich empfinde es als starke Herausforderung und als große Bereicherung, für das Land Jesu und für die Menschen dort mich einzusetzen. Auch das ist eine Be-ziehung, die sich im Heiligen Geist immer mehr entfalten soll.



    Jetzt müssten wir eigentlich gemeinsam über die Gaben des Heiligen Geistes nach-denken. Dazu gehört auch die Frage, welche der sieben Gaben mir am meisten gegenwärtig ist. Aber das würde zu lang dauern. Über die Gaben des Heiligen Geistes ging es in den Morgenandachten der letzten Woche. Sie können sie leicht aus dem Internet herunterladen.



    Aber eines sollten wir jetzt noch tun: Dass wir uns öffnen für das dreifache Ja. Zu Gott, zu den Menschen, zu uns selbst. Wie das geht? Indem Sie als ständigen Be-gleiter durch diesen Tag und die kommenden Tage das Gebetswort wählen: Komm, Heiliger Geist. Amen.
  • Brief von Erzbischof Dr. Werner Thissen an die Gemeinden im Erzbistum Hamburg zum Thema des sexuellen Missbrauchs / Hamburg / 27. 05. 2010
    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg,



    das Dreifaltigkeitsfest, das wir heute feiern, stellt uns das Geheimnis Gottes vor Augen. Wir glauben an den einen Gott in drei Personen. Wir verehren ihn als den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.



    Niemals hätten Menschen von sich aus dieses Geheimnis Gottes auch nur erahnen können. Jesus Christus hat es uns verkündet.



    Die Kirche hat die Aufgabe, diese Botschaft zu bezeugen. Als Kirche sind wir alle gleichsam der Wagen, der das Geheimnis Gottes durch die Zeiten transportiert, damit es für alle Men-schen erfahrbar wird.



    Dieser Wagen ist heftig ins Schleudern geraten. Nicht wegen der Botschaft. Aber wegen man-cher Boten. Ich meine die Missbrauchshandlungen, die schweren Schaden angerichtet haben.



    Um mit diesem Schaden angemessen umzugehen, sind vor allem drei Bereiche zu beachten:



    Der realistische Blick auf das, was geschehen ist.



    Die Sorge um die Opfer.



    Und eine neue Wachsamkeit.



    1. Der Blick auf das, was geschehen ist.



    Wir müssen bekennen, dass mehrere Priester und Mitarbeiter der Kirche sich schwer versün-digt haben an Kindern und Jugendlichen. Auch in den drei Regionen unseres Erzbistums, in Hamburg, Mecklenburg und Schleswig-Holstein. Das belastet uns sehr.



    Manche sagen mir, dass das Fehlverhalten innerhalb der Kirche doch nur ein ganz geringer Prozentsatz ist im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen. Das ist richtig und lässt sich durch Zahlen belegen. Aber das entschuldigt uns in gar keiner Weise.



    Andere erklären, dass die weitaus überwiegende Zahl der Priester, Diakone und Ordensleute sowie der hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit großem Einsatz und ohne Fehlverhalten ihren Dienst tut. Gott sei Dank ist das so. Und das wollen wir diesen gegenüber auch immer wieder dankbar zum Ausdruck bringen. Ich freue mich, dass auch unser Bundespräsident das beim Ökumenischen Kirchentag in München betont hat.



    Dennoch liegt das Missbrauchsverhalten Einzelner wie ein dunkler Schatten auf uns allen. Vielen wird es dadurch zur Zeit schwer, mit Freude und Vertrauen den Glauben zu leben und ihn öffentlich zu bezeugen.



    Aber warum gilt die Anklage so stark der katholischen Kirche, wenn doch auch andere gesell-schaftliche Gruppen vom Kindesmissbrauch betroffen sind, und dies sogar noch viel stärker als bei uns?



    Dafür gibt es Gründe, die uns einerseits ehren, aber andererseits die Schamröte umso mehr ins Gesicht treiben.



    Es ehrt uns, weil darin zum Ausdruck kommt: Bei euch hätten wir das am wenigsten erwartet.



    Es beschämt uns aber noch viel stärker, weil das Vertrauensverhältnis, ohne das Seelsorge nicht möglich ist, verraten worden ist. Denn wir verkünden den Vater im Himmel, der es gut meint mit seinen Kindern. Wenn dann ein Kind die Erfahrung machen muss, dass ein Ver-künder dieser Botschaft schlecht mit ihm umgeht, dann ist das ein besonders schlimmer Ver-trauensbruch.



    Deshalb zeigen wir nicht auf andere, die auch Schuld haben. Wir relativieren unser Versagen nicht. Wir schlagen an unsere Brust und bitten wie der verlorene Sohn im Evangelium um Vergebung.



    2. Die Sorge um die Opfer



    Wir haben uns in der Vergangenheit zu wenig um die Opfer gekümmert. Uns war erschre-ckend wenig bewusst, wie sehr Kindesmissbrauch Wunden für ein ganzes Leben schlagen kann. Erst recht dann, wenn alles verheimlicht wird und so keine Hilfe durch Gespräch oder Therapie gegeben werden kann.



    Das ist dann wie eine eiternde Wunde, die verheimlicht wird, statt dass sie gereinigt, behan-delt und verbunden wird.



    Deshalb heißt es in den Leitlinien unserer Bischofskonferenz: „Die Sorge um die Opfer hat Vorrang.“ Wir bekennen uns dazu, dass die Opfer noch mehr unserer Sorge anvertraut sind als die Täter oder der gute Ruf der Kirche.



    Aber auch die Täter brauchen unsere Zuwendung. Die meisten von ihnen haben ihre Verge-hen vor vielen Jahren verübt. Viele haben längst bereut und Buße getan. Aber jetzt werden sie auch in der Öffentlichkeit von ihrem Versagen eingeholt.



    Was an rechtlichen Konsequenzen geboten ist, wird geschehen. Deshalb arbeiten wir eng mit der Staatsanwaltschaft zusammen. Ob und wieweit ein Täter wieder seelsorglich tätig sein kann, hängt vom Ergebnis der staatlichen Gerichte und der kirchlichen Untersuchung ab. Zur kirchlichen Untersuchung gehört auch ein Gutachten der zuständigen Kongregation im Vati-kan. Dieser wird jeder Missbrauchsfall vorgelegt.



    Wir hatten in unserem Erzbistum auch zwei Vorgänge, in denen Priester auf verleumderische Weise angeklagt wurden, ohne schuldig zu sein. Hier zeigt sich ein anderes erschreckendes Gesicht des Bösen, dem wir widerstehen müssen. Von Herzen danke ich allen, die mitgehol-fen haben, damit einem dauerhaften Schaden vorgebeugt wird.



    3. Wachsamkeit und Mut



    Jetzt werden vor allem Eltern und Großeltern besorgt fragen: Wem können wir denn unsere Kinder noch anvertrauen?



    Die Missbrauchsfälle veranlassen uns zu einer neuen Wachsamkeit. Aber sie sollen nicht zu einer übertriebenen Ängstlichkeit führen. Wir wollen alle, die in unserer Kinder- und Jugend-arbeit tätig sind, noch mehr dazu befähigen, angemessene Verhaltensweisen einzuüben, auch was Nähe und Distanz zu Heranwachsenden betrifft.



    Ebenfalls werden wir uns an den staatlichen Gesprächsforen beteiligen, die dafür sorgen sol-len, dass das Thema „Missbrauch“ auch in Zukunft nicht mehr verdrängt werden kann. Denn wir wollen nie mehr vergessen, wie gewaltig der Schaden ist, der dadurch entsteht.



    Liebe Schwestern und Brüder, Papst Benedikt hat gerade auf seiner Reise nach Fatima gesagt, dass die größte Verfolgung der Kirche nicht von außen kommt. Sie kommt von innen durch die Sünde innerhalb der Kirche. Und der Papst nennt die notwendigen Konsequenzen: Um-kehr, Buße und Gebet sowie ein stärkeres Bemühen um Glaube, Hoffnung und Liebe.



    Dann weist der Papst darauf hin, man müsse realistisch sein und anerkennen, dass es immer Attacken des Bösen geben wird. Aber er fügt hinzu: „Am Ende jedoch ist Christus stärker.“



    Wenn ich mir vorstelle, die Eiterbeule des Missbrauchs wäre nicht offengelegt worden und würde nicht bearbeitet, dann ist mir bei aller Belastung und Scham die jetzige Situation lieber. Denn jetzt haben wir die Möglichkeit, einen neuen Anfang zu setzen. Wir können wachsam dem Bösen widersagen und mutig das Gute tun.



    Gott ist und bleibt das ewige Geheimnis, das wir verkünden und anbeten dürfen. Gerade das schlimme Versagen innerhalb der Kirche wollen wir auch in unser Beten mit hinein nehmen.



    Papst Benedikt hat Recht: „Am Ende ist Christus stärker.“ Ihm vertrauen wir uns an. Mit Christus können wir trotz allem mit neuem Vertrauen den Weg des Glaubens gehen.



    Der Segen des Dreifaltigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes soll uns dabei begleiten.



    Hamburg, Pfingsten 2010



    Ihr Erzbischof + Werner





    Dieser Brief ist am Dreifaltigkeitssonntag, 30. Mai 2010, in allen Gottesdiensten des Vor-abends und des Sonntags zu verlesen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am 1. Mai 2010 im kleinen Michel zu Hamburg aus Anlass zur Vollendung des 75. Lebensjahres von Domkapitular Wilm Sanders / Kleiner Michel zu Hamburg / 03. 05. 2010
    Lieber Mitbruder Wilm Sanders,

    verehrte liebe Angehörige und Freunde unseres Jubilars,

    liebe Mitbrüder im geistlichen Dienst in der ganzen Ökumene,

    liebe Schwestern und Brüder,



    Maidemonstration – das ist ein fester politischer und gesellschaftlicher Topos. Unsere Feier hier ist auch eine Maidemonstration, aber eine der besonderen Art. Wir demonstrieren, wir zeigen, wir geben Kund, wie sehr wir unserem Monsignore Wilm Sanders verbunden sind. Unsere Maidemonstration aus Anlass des 75. Geburtstages unseres Domkapitulars hat drei Teile: hier im kleinen Michel der erste Teil mit der großen Feier der Danksagung, der Eucharistie. Anschließend die Festakademie und schließlich der Empfang. Das ist wie ein großer Dreiklang am Beginn des Maimonats.



    Im kirchlichen Festkalender steht an diesem 1. Mai das Fest des heiligen Josef. Das Evangelium heute hat festgehalten, wie Josef die Sorge für die heilige Familie anvertraut war. Aber das Fest selbst ist jünger als Monsignore Sanders. Er war schon zwanzig Jahre alt, als Papst Pius XII. das Fest Josef der Arbeiter auf den 1. Mai festgelegt hat. Das ist ein Vorgang, den es ja in der Kirchengeschichte häufiger gegeben hat. Dass weltliche Feste, hier der Tag der Arbeit, gleichsam geistlich durchdrungen werden. Das Fest Josef der Arbeiter will deutlich machen, dass Arbeit mehr ist als Broterwerb, mehr als Existenzsicherung, mehr als Steigerung des Bruttosozialprodukts. Papst Johannes Paul II. sagt in seinem Schreiben „Redemptoris custos“: Der Heilige Josef ist Diener des Heilsplanes Gottes.



    Diener des Heilsplanes Gottes, das soll jeder Christ sein. Diener des Heilsplanes Gottes, das ist Monsignore Sanders gewesen in all den vielfältigen Aufgaben, die er hier im Norden ausgeübt hat.



    Diener des Heilsplanes Gottes war er immer als Theologe. Dreiunddreißig Jahre hat er als Dozent für Theologie und Pastoral an unserer Katholischen Akademie gewirkt. Dabei wird bis heute immer wieder die gediegene Bildung deutlich, die er vom Collegium Germanicum aus in Rom erhalten hat. Kein Wunder, dass aus dieser Tätigkeit eine Reihe literarischer Werke entstanden sind. Vor wenigen Tagen noch das Büchlein über die vierzig Aspekte des Epiphaniefestes.



    Aber in seinem Wirken als theologischer Dozent ist Domkapitular Sanders immer darauf bedacht geblieben, dass seine Theologie Verkündigung ist, dass sie Menschen zum Glauben führen kann und den Glauben vertiefen kann. Das wird sehr schön anschaulich in der Neun-Tage-Andacht, in der Pfingstnovene, die er in diesem Jahr für die bischöfliche Aktion Renovabis konzipiert hat. Darin deutet er Bilder aus römischen Katakomben. An einer Stelle bezieht er sich auf eine Orante, einen Menschen, der mit erhobenen Händen betet. Und Wilm Sanders schreibt dazu: Das ist die Aussageintention dieses Bildes, wo jemand die Hände zum Gebet erhebt: Alles von oben erwarten und sich ganz nach oben verschenken. Alles von Gott erwarten und sich ganz an Gott verschenken.



    In den römischen Katakomben sind viele Märtyrer begraben. Von dort her kommt Monsignore Sanders auf die Märtyrer des zwanzigsten Jahrhunderts zu sprechen. Er zitiert aus der Ökumeneenzyklika von Papst Johannes Paul II., wo es heißt: „Der Märtyrertod ist die intensivste Gemeinschaft, die es mit Christus geben kann.“ Mir fallen dazu sofort die Lübecker Märtyrer ein, drei katholische Kapläne und ein evangelischer Pastor. Ihre Gemeinschaft mit Christus im Martyrium soll uns ja kräftige Impulse geben für die Gemeinschaft aller Christen untereinander. Deshalb bemühen wir uns so sehr darum, das Gedenken der vier Märtyrer wach zu halten und weiter zu entfalten.



    Diener des Heilsplanes Gottes als Verkündiger war Monsignore Sanders auch als Rundfunkbeauftragter beim NDR. Von 1977 bis 1983 war er beim NDR praktisch Hausgeistlicher. Dabei hat er eine der bedeutendsten Wort-zum-Sonntag-Sprecherin entdeckt. Schwester Isa Vermehren. Deren Aufnahmen hat er redaktionell betreut. Und er hat viele junge Redakteure für die Verkündigung in den elektronischen Medien angeleitet.



    Diener des Heilsplanes Gottes, das hat bei Monsignore Sanders immer einen erfreulich starken ökumenischen Bezug. Dieser Akzent wird schon hier deutlich durch die zahlreichen Schwestern und Brüder aus der Ökumene. Und er wird auch gleich in der Festakademie noch einmal besonders hervorgehoben.



    Diener des Heilsplanes Gottes als Theologe, als Verkündiger, als Ökumeniker, und in allen drei Bereichen immer als Seelsorger, das zeichnet die Tätigkeit von Monsignore Sanders aus. Den Dank dafür bringen wir in dieser Feier vor den lebendigen Gott. Und zu unserem Dank gehört, dass wir selbst, jede und jeder auf je eigene Weise, Dienerin und Diener des Heilsplanes Gottes sind. Dann ist unsere Feier heute eine echte Maikundgebung im Sinne christlicher Verkündigung. Amen

  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am 30. April 2010 in der Feier der Eucharistie in St. Pius in Pinneberg aus Anlass der Profanierung der Kirche / Pinneberg / 03. 05. 2010
    Eröffnung:



    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    es ist mir ein Anliegen, bei Ihnen zu sein, wenn Sie sich von Ihrer Kirche trennen müssen. Trennen unter Schmerzen. Denn es tut weh, diese Kirche aufgeben zu müssen. Aber es tut gut, dabei nicht allein zu sein. Bei der Einweihung vor fünfzig Jahren war der Bischof dabei, notwendig, so wie es die liturgische Ordnung vor-sieht. Dann soll auch bei der Profanierung der Bischof dabei sein, habe ich mir gedacht. Gemeinsam stehen wir vor dem lebendigen Gott und bitten ihn um sein Erbarmen.



    Predigt:



    Das Haus, das auf Fels gebaut ist, hält den Stürmen stand. Das Haus, das auf Sand gebaut ist, geht unter. So sagt es uns dieses Evangelium. Jetzt könnte jemand auf den Gedanken kommen, zu fragen: War denn unsere Piuskirche auf Sand ge-baut, dass sie jetzt profaniert werden muss?



    Nein! Die Kirche als Bauwerk war fest gegründet, und auch die Gemeinde ist fest gegründet. In ihrer Schrift vom 25jährigen Gemeindejubiläum habe ich mit Hochachtung und Freude gelesen, wie viele Aktivitäten dort geschildert werden. Seitdem sind noch einmal fast fünfundzwanzig Jahre vergangen, und die Gemeinde ist lebendig geblieben. Deshalb tut es ja auch so weh, dass wir die Kirche schließen müssen.



    Ich vermute, dass viele heute hier in derselben Stimmung sind wie ich: Mich überkommt Trauer wie bei einer Beerdigung. Diese Kirche ist vielen ans Herz gewachsen. Sich von ihr zu verabschieden, ist schwer. Das hat schon manche Ähnlichkeit mit der Verabschiedung von einem lieben Menschen bei einem Begräbnis. Das tut sehr weh. Wir wollen nicht nur trauern, dass wir sie verloren haben, lese ich auf einer Todesanzeige, sondern dankbar sein, dass wir sie gehabt haben.



    Ob das auch gilt jetzt bei der Verabschiedung von unserer St. Pius Kirche? Ich weiß, dass viele traurig sind über die Schließung der Kirche. Wie viele sind hier getauft worden! Wie viele Ehen sind hier geschlossen worden! Wie viel Freude und wie viel Trost sind von hier ausgegangen. Wie viele Erinnerungen sind mit dieser Kirche verbunden, sehr persönliche Erinnerungen und auch viele gemeinschaftliche Erinnerungen. Wir wollen und können die Trauer nicht überspielen.



    Aber wir wollen nicht nur trauern, dass wir diese Kirche verlieren. Wir wollen auch dankbar sein, dass wir sie gehabt haben. Denn all das Gute, das von hier ausgegangen ist, ist ja nicht einfach weg. Es begleitet und prägt unser Leben auch weiterhin. Deshalb ist es ein schönes Zeichen, dass die Reliquien der heiligen Maria Goretti und des heiligen Sebastian in der St. Michaels Kirche ihren Platz finden. Ebenso der Kreuzweg und andere Andachtsgegenstände. Das ist ein wichtiges Signal. Es bedeutet: Was hier in der Pius Kirche an Glauben grundgelegt wurde, das soll sich in der Michaels Kirche weiter entfalten.



    Unsere Trauer über den Verlust dieser Kirche ist groß. Aber das Entscheidende bleibt. Das hat uns die Lesung aus dem Petrusbrief deutlich gemacht. Das Entscheidende ist, dass wir selbst zum Aufbau der Kirche beitragen. Dass wir selbst lebendige Steine sind. Das verlangt gerade in dieser Zeit viel von uns. Gerade jetzt kann sich zeigen, ob unser Glaubenshaus auf Fels gebaut ist oder auf Sand. Gerade jetzt kann sich zeigen, mit welcher Entschiedenheit wir unseren Glauben leben. Die Standfestigkeit, die uns Katholiken in der Diaspora besonders auszeichnet, ist gerade jetzt wieder besonders gefragt. Herzlich danke ich allen, die mitgeholfen haben und weiter mithelfen, dass die katholische Kirche in Pinneberg und Halstenbek bei allen Stürmen unserer Zeit auf festem Grund, auf Felsen gebaut ist. Amen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am Tag der Eheleute, am 17. April 2010 / St. Marien-Dom / 20. 04. 2010
    Liebe Eheleute aus unseren Regionen Mecklenburg,

    Hamburg und Schleswig-Holstein,



    dieser Tag ist Ihr Tag. Wieso, werden Sie sagen. Jeder Tag ist doch unser Tag. Sie haben Recht. Aber weil jeder Tag Ihr Tag ist, weil Sie jeden Tag mit all seinen Anforderungen, mit all seinen Sorgen, mit all seinen Problemen meistern, deshalb soll dieser Tag heute Ihr Festtag sein.



    Denn dass Sie jeden Tag gemeinsam bewältigen, ist ein Segen für unsere ganze Gesellschaft. Wir wollen als Kirche alles tun, damit Ehe und Familie die notwendige Unterstützung und Anerkennung erfahren auch in unserer Zeit.



    Worin besteht das Geheimnis einer gelungenen ehelichen Partnerschaft? Im Ja. Indem Sie Ja sagen auf dreifache Weise. Ja sagen zum Partner. Ja sagen zu Gott. Ja sagen zu sich selbst. Das kommt im Sakrament der Ehe deutlich zum Ausdruck. Das Ja-Wort, auch wenn es unterschiedlich formuliert werden kann, ist das Entscheidende. Das Ja ist die positive Voraussetzung für den gemeinsamen Weg. Das Nein stellt alles Positive infrage.



    Ja zum Partner. Das in der Trauung einmal gegebene Ja-Wort bedarf immer wieder der Erneuerung. Denn jeder Mensch ändert sich im Laufe der Jahre. Manche Eigenschaften treten deutlicher hervor, andere werden weniger ausgeprägt. Auch die familiäre Situation und oft auch die berufliche und wirtschaftliche Situation und das Miteinander mit Verwandten und Freunden verändern sich. Und es gibt nicht nur den sonnigen Alltag. Es gibt auch den grauen Alltag, der viel von Ihnen verlangt. Verlangt an Geduld, an Großzügigkeit, an Vergeben. Ich danke Ihnen, dass Sie das Ja zueinander immer wieder von neuem leben.



    Das zweite Ja, das Ja zu Gott, gibt Ihrer Beziehung eine große Tiefe. Denn Gott selbst sagt Ja zu Ihnen. Weil Sie sich angenommen wissen von Gott, weil Gott Ja zu Ihnen sagt, können Sie auch Ja sagen zueinander und Ja sagen zu Kindern, Enkelkindern, Freunden und Verwandten. Auch wenn diese nicht immer so sind, wie Sie es sich wünschen. Auch das Ja-Sagen zu Gott kennt seine hellen und dunklen Zeiten. Als Kirche erleben wir im Augenblick eher eine dunkle Zeit. Häufig bete ich jetzt: Gott, was willst du uns damit sagen, dass es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Missbrauchsfälle gab, die wir jetzt offen zu bekennen und zu bearbeiten haben. Aber das Ja zu Gott macht uns auch Mut, Ja zu sagen zu den Menschen, auch wenn es dabei um Schuld und Versagen geht.



    Das dritte Ja ist das Ja jedes Menschen zu sich selbst. Ich kenne einen Menschen, der möchte anders sein als er ist. Vermutlich geht das ein wenig jedem von uns so. Das motiviert uns, unsere Fähigkeiten weiter zu entfalten, uns so zu geben und zu entwickeln, dass andere auch zu uns Ja sagen können. Aber die Möglichkeit, uns zu verändern, ist begrenzt. Der Mensch, von dem ich eben sprach, kann sich selbst nicht richtig leiden. Etwas pauschal gesagt: Er möchte viel tüchtiger, schöner, klüger sein als er ist. Und weil er sich selbst nicht leiden kann, weil er zu sich selbst nicht Ja sagen kann, fällt ihm auch das Ja zu Gott und das Ja zum Partner schwer.



    Das Ja zum Partner, das Ja zu Gott und das Ja zu sich selbst gehören zusammen. Wo in diesen drei Bereichen ein Ja ausfällt und zu einem Nein wird, kann es auch mit den anderen beiden Ja schwierig werden.



    Dieses dreifache Ja ist wie das Senfkorn, von dem im Evangelium heute die Rede ist. Jesus nimmt das Senfkorn als Bild für das Reich Gottes. Zu Anfang ist das Senfkorn sehr klein. Aber es wächst etwas Großes daraus. Vielleicht denken Sie jetzt: Ist das in der Ehe nicht umgekehrt? Zu Anfang ist das Ja sehr groß. Aber im Laufe der Jahre nimmt es ab? Nein, wenn das Ja am Beginn der Ehe wirklich das dreifache Ja umfasst, zum Partner, zu Gott, und zu sich selbst, dann kann es sich weiter entfalten. Dann kann es wachsen. Vom Senfkorn sagt Jesus, es wächst und entfaltet so große Zweige, dass die Vögel des Himmels darin Nester bauen können. Übertragen auf Ihre Ehe kann man sagen: Sie wächst so sehr, dass sie Kindern und Enkelkindern, Nachbarn und Freunden und auch den Eheleuten selbst Geborgen-heit schenken kann.



    Liebe Eheleute, Gott will, dass Ihre Partnerschaft weiter wächst. Er will Sie mit seinem Segen begleiten. Deshalb treten Sie jetzt jeweils zu zweit gemeinsam vor. Sie reichen sich die Hand wie bei Ihrer Eheschließung. Ich lege Ihnen die Hände auf und spreche ein Segensgebet. Natürlich dauert das eine ganze Zeit, bis alle den Segen empfangen haben. Aber auch diese Zeit ist wichtig. Sie denken dabei an den Anfang Ihrer Partnerschaft, an den gemeinsamen Weg bis zu diesem Tag heute. Dann wird die Zeit viel zu kurz für all das, was Sie Gott an Dank und an Bitte sagen wollen.



    Dann wird dieser Tag in besonderer Weise Ihr Tag. Ihr Tag, an dem Sie sich selbst und alle, die zu Ihrem gemeinsamen Weg gehören, Gott anvertrauen. Und an dem Sie sich selbst intensiv einander anvertrauen. Amen
  • Predigt im Requiem für die Opfer des Flugzeugunglücks in Smolensk / St. Marien-Dom zu Hamburg / 16. 04. 2010
    Sehr geehrter Herr Doyen des diplomatischen Corps,

    sehr geehrter Herr Generalkonsul Osiak,

    liebe Glaubensbrüder und Glaubensschwestern polnischer Muttersprache,

    liebe Gemeinde,



    Polen weint, das war die erste Schlagzeile, die ich über das furchtbare Flugzeugunglück las. Polen weint – Hamburg weint auch, habe ich für mich still ergänzt. Denn polnische und deutsche Christen bilden hier in Hamburg eine große Familie. Und wenn ein Teil der Familie leidet, leidet die ganze Familie.



    Deshalb war es mir wichtig, Sie, Herr Generalkonsul, sofort aufzusuchen und Ihnen die Anteilnahme des Erzbistums zu übermitteln. Und noch wichtiger ist mir, dass wir gemeinsam diesen Gottesdienst feiern.



    Polen weint. Aber es gilt auch: Polen betet. Und das gemeinsame Gebet verbindet uns ebenso wie unsere gemeinsamen Tränen. Es hat vor einigen Jahren Aufsehen erregt, dass Hamburg zu den ersten Städten in Deutschland gehörte, wo ein Denkmal für Papst Johannes Paul errichtet wurde. Täglich stehen dort Blumen und Kerzen. Und vor allem: Täglich stehen dort Menschen und beten. Polen betet. Und Hamburg betet mit. Deshalb ziehen wir nach diesem Gottesdienst zum Denkmal von Papst Johannes Paul. Es ist ein Denkmal der dankbaren Erinnerung an den großen Papst aus Polen. Es ist aber auch ein Denkmal der Zusammengehörigkeit von Polen und Deutschen hier in Hamburg. Für diese Zusammengehörigkeit, Herr Generalkonsul Osiak, hat auch Ihr Vorgänger, der Generalkonsul Kremer, sich immer eingesetzt. Er gehört zu den Opfern dieses bitteren Unglücks. Ihm gilt neben dem Staatspräsidenten und seiner Frau und dem Militärbischof unser besonderes Gedenken.



    Polnische Mitbürgerinnen und Mitbürger in Hamburg – das ist seit langem eine Erfahrung, die uns alle bereichert: religiös bereichert, kulturell bereichert, politisch bereichert. Die Religiöse Bereicherung zeigt sich in den vielfältigen Frömmigkeitsformen und in der religiösen Aufgeschlossenheit. Da können wir in Hamburg manches von der polnischen Gemeinde lernen. Ich freue mich, dass immer wieder Bischöfe aus Polen in Hamburg sind, so wie in einigen Tagen Kardinal Glemp. Und ich selbst habe schon öfter die Gastfreundschaft bei bischöflichen Mitbrüdern in Polen erlebt.



    Die kulturelle Bereicherung zeigt sich im Jahr des 200. Geburtstages von Frederik Chopin in wunderbaren musikalischen Veranstaltungen. Auch das Schleswig-Holstein Musikfestival hat ja als Länderschwerpunkt in diesem Jahr Polen.



    Auch politisch hat sich nach langen bitteren Auseinandersetzungen zwischen unseren Völkern immer stärker eine Freundschaft entwickelt, die ja auch in diesem Gottesdienst zum Ausdruck kommt.



    Ich sehe es noch heute als ein Jahrhundertereignis an, als am Ende des Zweite Vatikanischen Konzils in Rom die Bischöfe Polens sich an die deutschen Bischöfen wandten mit den Worten: Wir strecken unsere Hände zu Ihnen in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils aus. Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung. Und die deutschen Bischöfe antworteten darauf: Mit brüderlicher Ehrfurcht ergreifen wir die dargebotenen Hände und bitten um Verzeihung.



    Das war der Anfang einer ermutigenden und segensreichen Entwicklung zwischen unseren Völkern.



    Auch die Feier in Katyn am vergangenen Samstag sollte der friedlichen Entwicklung dienen, jetzt zwischen Polen und Russland. Dass sie durch das Unglück verhindert wurde, versetzt uns in tiefe Trauer. Wenn der tragische Tod so vieler Menschen aus der Führungsschicht des polnischen Volkes einen Sinn hat, dann doch vor allem den, dass wir uns alle weiter einsetzen für Versöhnung und für ein friedliches Miteinander in Europa und in der Welt.



    Das Evangelium heute weist uns den Weg dorthin. Der auferstandene Jesus kehrt zu den Seinen zurück. Es sind jene, die ihn verraten und verleugnet haben. Aber Jesus lässt Schuld und Versagen nicht das letzte Wort haben. Mit seinem Tod und seiner Auferstehung eröffnet Jesus eine Geschichte der Versöhnung und Vergebung. Wer von Ostern her lebt, wer der Auferstehungsbotschaft vertraut, setzt sich ein für Frieden und Versöhnung. Die Toten des Flugzeugunglücks mahnen uns, dass wir uns einsetzen für Frieden und Versöhnung.



    Polen weint, und auch wir in Hamburg weinen mit allen Mitgliedern des polnischen Volkes. Polen betet und auch wir in Hamburg beten mit allen Mitgliedern des polnischen Volkes. Und gemeinsam setzen wir uns aus christlicher Überzeugung auch weiterhin ein für Versöhnung und Frieden. Maria, die Königin Polens und die Patronin unseres Mariendoms, möge uns dabei mit ihrer Fürbitte begleiten.



    Amen.
  • Mit der Osterbotschaft zum Ursprung - Predigt in der Osternacht 2010 von Erzbischof Dr. Werner Thissen / Hamburg / St. Marien-Dom / 03. 04. 2010
    Mit der Osterbotschaft zum Ursprung



    Liebe Schwestern und Brüder,



    schwarzes Loch – der Ausdruck weckt Phantasien. Jetzt sind die schwarzen Löcher wieder ein Thema, nach dem physikalischen Rekordexperiment am letzten Dienstag in Genf. Ich stelle mir schwarze Löcher so vor, dass sie mit ungeheueren Kräften alles Leben in Gefahr bringen. Wir kennen die schwarzen Löcher ja durch Literatur und Film aus dem Sciencefictionbereich.



    Die Astronomen sagen, schwarze Löcher lassen keinen Lichtstrahl nach außen durch. Zu groß sind die enormen Anziehungskräfte. Alles, was sich hinter dem schwarzen Loch befindet, bleibt uns verborgen.



    Für mich ist der Karfreitag auch so ein schwarzes Loch. Denn der Tod Jesu lässt zunächst keinen Lichtstrahl des Lebens mehr durch. Absolute dunkle, ewige Nacht. Und auch die Schuld ist wie so ein schwarzes Loch. Denn auch die Schuld wird durch keinen Lichtstrahl mehr erhellt. Was passiert ist, das ist passiert. Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen, sagte mir jemand im Gespräch über Missbrauchsfälle.



    Als die Frauen am Ostermorgen zum Grab gehen, da muss ihnen das Grab Jesu auch wie ein schwarzes Loch erscheinen. Ihr Vertrauen in Jesus ist von der Dunkelheit des Karfreitags verschluckt. Da dringt kein Lichtstrahl mehr durch.



    Doch dann kommt es anders. Aus dem Dunkel der Todesnacht, aus dem Dunkel von Resignation und Hoffnungslosigkeit dringt Licht. Das bezeugen uns die biblischen Texte. Das bezeugt uns eine große Zahl gläubiger Menschen durch die Jahr-hunderte hindurch. Menschen, die im Leben an Christus geglaubt haben und getröstet und voll Vertrauen gestorben sind. Sie kennen alle solche Menschen, viel-leicht auch in der eigenen Verwandtschaft.



    Das physikalische Experiment in Genf hatte zum Ziel, die Situation des Urknalls zu simulieren, nachzustellen. Man will wissen: Wie war das am Anfang der Welt. Os-tern ist keine Simulation. Ostern vermittelt uns tatsächlich den Urknall: Die Ursprungssituation des Menschen ist wieder erreichbar, ohne Schuld und mit ewigem Leben. Erreichbar nicht durch menschliche Energie und Fähigkeit. Erreichbar durch Tod und Auferstehung Jesu.



    Das bedeutet konkret: Wir können uns Gott auf neue Weise zuwenden. Und auch die Menschen und die Welt können wir auf neue Weise in den Blick nehmen. Nicht mehr in der Perspektive von Schuld und Tod, sondern in der Perspektive von Vergebung und Leben.



    Unser Beten und Singen, unser Hören und Antworten, unser Reden und Schwei-gen, unser Miteinander, unsere Feier der Sakramente, die Zuwendung zum Nächs-ten und Fernsten, all das nimmt uns die Scheuklappen von den Augen. Wir haben eine neue, eine österliche Perspektive. Nicht der Urknall physikalischer Kräfte ist unser tiefster Lebensgrund, sondern die ausgebreiteten Arme des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus, der uns an sich ziehen will, damit wir die Fülle des Lebens haben. Amen
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen in der Missa Chrismatis am 29. März 2010 / St. Marien-Dom / 31. 03. 2010
    (Sir 2,1-9, 2 Kor 12,7-10; Lk 22,31-34)



    Liebe Mitbrüder im diakonalen, priesterlichen und bischöflichen Dienst,

    liebe Schwestern und Brüder,



    erinnern Sie sich: In der Missa Chrismatis des vergangenen Jahres ging es um die Frage: Was bedeutet dir Jesus Christus? Ich hatte Ihnen das Büchlein, das diesen Titel trägt, mitgegeben. Mitbrüder aus der Gesellschaft Jesu haben in dem Buch sehr konkret und sehr persönlich eine Antwort gegeben auf die Frage. Ich hatte Sie angeregt, dieser Frage auch selbst nachzugehen, was Ihnen Jesus Christus bedeutet. Einige von Ihnen haben mir Rückmeldungen dazu gegeben. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.



    Heute wollte ich die Frage umgekehrt stellen. Also: Was bedeute ich dir, Christus? Wer bin ich als Diakon, als Priester, als Bischof hier im Norden für dich? Die biblischen Texte dafür hatte ich bereits seit längerem für diese Fragestellung ausge-sucht. Ich habe die Texte auch nicht mehr ausgetauscht. Aber in den letzten Wo-chen hat sich das Thema „Missbrauch“ mit solcher Wucht in den Vordergrund geschoben, dass Sie mit Recht dazu ein Wort erwarten. Vielleicht können uns die biblischen Texte, auch wenn sie unter anderer Fragestellung ausgesucht sind, auch dazu etwas sagen.



    Das Evangelium haben Sie noch im Ohr: „Der Satan hat verlangt, euch wie Weizen zu sieben“, sagt Jesus. Ja, das hat uns alle wie in einem Sieb durcheinander gerüttelt, was da an Missbrauchsfällen in ganz Deutschland und auch bei uns aus Jahrzehnten ans Licht kommt. Damit sind viele Fragen verbunden.



    Eine Frage ist mir in den letzten Tagen immer wieder gestellt worden. Die Frage: Wie kommt es, dass wir als katholische Kirche so an den Pranger gestellt werden, so sehr auf der Anklagebank sitzen? Wo doch jeder wissen kann, dass Missbrauch nicht allein ein Problem in der katholischen Kirche ist, sondern in der ganzen Gesellschaft. Dass die weitaus meisten der vom Kinderschutzbund genannten 120.000 Missbrauchsfälle im Jahr in Deutschland im verwandtschaftlichen und nachbar-schaftlichen Umfeld geschehen. Warum bekommen wir als Kirche die Anklage, die Schuldzuweisung, die Verachtung so unverhältnismäßig stark ab? Sodass für schlecht Informierte der Eindruck entstehen muss: Missbrauch gibt es vor allem bei uns?



    Um es gleich vorweg zu sagen: Ich finde es, bei allem Schmerz, richtig, dass wir die Rolle des Sündenbocks übernehmen. Mit dem Bild vom Sündenbock meine ich: Wir haben Schuld auf uns geladen, andere haben Schuld auf sich geladen, und wir versuchen nun, bei der Schuldbewältigung voranzugehen. Wir klären auf mit Hilfe der Staatsanwaltschaft, legen offen, sorgen uns um die Opfer, kümmern uns um die Täter.



    Vor zehn Jahren hat die Frankfurter Rundschau einen großen Artikel über Missbrauch an der Odenwaldschule veröffentlicht. Kaum jemand hat darauf reagiert. Kaum jemand interessierte das. Als es jetzt aber um katholische Einrichtungen ging, da hat das medial und gesellschaftlich einen Erdrutsch ausgelöst, der dann auch nichtkirchliche Einrichtungen mitzog.



    Woran liegt das? An der Fallhöhe. Wir vertreten als Kirche einen hohen moralischen Anspruch. Wenn sich dann zeigt, dass wir diesen Anspruch auch nicht immer erfüllen, dass wir oft auch nicht besser sind als andere, dann wird das ein tiefer Fall. Und ein Fall für die Öffentlichkeit.



    Für mich gibt es vor allem drei Gründe, warum wir als Kirche am besten geeignet sind, das Thema Missbrauch anzugehen und aufzuarbeiten. Für uns selber aufzuarbeiten. Aber auch stellvertretend für die Gesellschaft.



    Für Missbrauchsopfer ist es schwer, sich zu öffnen. Aber es ist für sie doch noch leichter, die Kirche anzuklagen als die eigene Familie. Oder die Nachbarschaft. Oder den Freundeskreis.



    Die Rolle des Sündenbocks können wir auch deshalb eher übernehmen als andere, weil es bei uns hundertprozentig klar ist, dass Missbrauch Schuld ist. Dass man da nichts im Unklaren lassen kann, wie das etwa die Humanistische Union zumindest in der Vergangenheit getan hat. Dazu gehören führende Politiker. Ganz zu schweigen von der Arbeitsgemeinschaft humane Sexualität, mit der die Humanistische Union oft zusammengearbeitet hat. Oder auch zu schweigen von den aktuellen Äußerungen der ehemals führenden Repräsentanten der Oden-waldschule. Bei uns ist das eindeutig: Missbrauch ist schwere Schuld.



    Es gibt noch einen dritten Grund, warum wir eher als andere die Rolle des Sündenbocks für unsere Gesellschaft übernehmen können und sollen. Wir haben in der Kirche ein ausgeprägtes Bewusstsein von Schuld. Aber nicht nur das. Wir haben auch ein ausgeprägtes Bewusstsein von Reue und Vergebung. Deshalb müssen wir Schuld nicht verdrängen oder beschönigen.



    Das alles rüttelt uns durcheinander wie Weizen, der gesiebt wird. Wir werden die anstehenden Fragen und Probleme menschlich und sachlich aufarbeiten. Aber dann gilt auch das nächste Wort Jesu im Evangelium heute: „Ich habe für dich gebetet“, sagt Jesus zu Petrus, „dass dein Glaube nicht erlischt“. Die Missbrauchsdebatten können uns wahnsinnig zusetzen und herunterziehen. Da kann das Glaubenslicht sogar zu flackern beginnen. Aber verlöschen muss es nicht. Im Gegenteil: „Wenn du dich wieder bekehrt hast“, sagt Jesus, „dann stärke deine Brüder und Schwestern“. Das gehört auch zu unserer Aufgabe in dieser schwierigen Situation: Uns zum Herrn hinzukehren, hinzuwenden, noch intensiver als sonst, um so die Brüder und die Schwestern stärken zu können.



    Hinwendung zum Herrn, wie das geht, kommt in den Mahnungen der ersten Lesung heute treffend zum Ausdruck. „Wenn du dem Herrn dienen willst, mach dich auf Prüfungen gefasst“, heißt es dort. Ja, was wir zur Zeit erleben, ist eine gewaltige Prüfung für jeden von uns.



    „Sei tapfer und stark“, heißt es dann weiter, „zur Zeit der Heimsuchung überstürze nichts“. Einer von Ihnen fragte mich: Wie soll ich denn Ostern von Auferstehung, Leben, Licht und Freude predigen, wo doch alles so dunkel ist wegen des Miss-brauchs? Ja, es wird gar nicht so leicht sein in diesem Jahr von der Karfreitagsstimmung zur Osterfreude zu kommen.



    Aber es gibt doch einen guten Weg dafür. Den will ich Ihnen noch vorschlagen. Nehmen Sie die neun Verse aus dem zweiten Kapitel des Buches Jesus Sirach, also unsere erste Lesung heute. Gehen Sie mit diesen Versen durch die Karwoche. Für mich steckt darin die ganze Anfechtung der gegenwärtigen Situation. Aber es kommen in den neun Versen auch fünfmal die Worte „hoffen“ und „vertrauen“ vor und auch die Freude.



    Liebe Mitbrüder, ich danke Ihnen, dass Sie hoffende und vertrauende Menschen sind und alles tun, es immer noch mehr zu werden. Ich danke Ihnen für Ihren treuen Dienst. Jeder von Ihnen steht in dieser kritischen Zeit noch mehr als sonst für die Glaubwürdigkeit der Kirche. Jeder von uns darf und soll und kann die Bot-schaft vom Leben bezeugen, die stärker ist als alle Dunkelheit.



    Das „Gesiebt werden wie Weizen“ bleibt uns nicht erspart. Aber so, wie wir jetzt die Missbrauchsfragen angehen bei uns, müssen wir dadurch nicht schwächer werden. Je mehr wir unsere eigene Schwäche erkennen, sagt Pauls in der zweiten Lesung, desto stärker können wir werden. Und so auch unsere Brüder und Schwestern stärken, sowohl innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft als auch außerhalb. Amen

  • Predigt im ZDF-Gottesdienst am 4. Fastensonntag 2010 / Hamburg / St. Marien-Dom / 14. 03. 2010
    Eröffnung



    Laetare, freu dich, mit diesem Ruf hat unsere Domschola den Gottesdienst eröffnet. Ich muss zugeben, dass mir gar nicht so sehr nach Freude zumute ist. Wegen der Missbrauchsfälle. Und dennoch haben wir Grund zur Freude. Weil wir uns an Jesus Christus wenden können. Ihn bitten wir um Vergebung und um Erbarmen.





    Predigt

    Schuld und Vergebung



    Liebe Schwestern und Brüder hier im Hamburger Mariendom

    und zu Hause am Fernsehen,



    ich weiß nicht, ob Ihnen das auch so geht: Ich bin in Gedanken immer noch beim ersten Satz der ersten Lesung. Dort heißt es heute: Gott hat die Schande von sei-nem Volk abgewendet. Gemeint ist die Schande, dass Israel in Ägypten Sklavereidienst tun musste.

    Aber ich bin mir sicher. Beim Stichwort Schande, da denken Sie eher an die Missbrauchsfälle heute. Wird Gott diese Schande auch von seinem Volk abwenden? Aber mit Sicherheit! Nur ist notwendig, dass wir das Unsre tun. Das heißt: Offenle-gen, Aufklären, Sorge für die Opfer – und auch für die Täter. Damit erweisen wir als Kirche unserer ganzen Gesellschaft einen wichtigen Dienst. Denn alles, was unter den Teppich gekehrt wird, das fault und stinkt und verpestet die Atmosphäre. Das hat es viel zu lange gegeben. Alles was aufgedeckt, bearbeitet und bereut wird, das kann zur Heilung führen.

    Richtig finde ich deshalb finde die Idee eines runden Tisches mit allen gesellschaftlich relevanten Gruppen. Denn wir sprechen ja von einhundertzwanzig Tausend Missbrauchsfällen Erwachsener an Kindern im Jahr in der Bundesrepublik Deutschland.

    Dabei ist für uns als Kirche klar: Wir müssen das tun, was der verlorene Sohn im Evangelium tut. Umkehren, bekennen, dass wir gesündigt haben, dass wir Vertrau-en enttäuscht haben, dass wir unseren Auftrag in diesem Punkt nicht so wahrge-nommen haben, wie es mit Recht von uns erwartet werden konnte.

    Wir müssen um Vergebung bitten und tun das auch.

    Es ist schwer, Schuld bei sich selbst festzustellen. Es ist leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen, die sind schuld. Das tun wir als Kirche nicht. Wir wissen, nur Bekehrung, Bekenntnis und Buße führen zum Weg in die Vergebung hinein. Vergebung, das ist das entscheidende Stichwort an diesem mittleren Sonn-tag der österlichen Bußzeit.

    Die Medien sind voll von Schuld und Schande. Und das soll nicht beschönigt wer-den. Das ist Realität. Aber Vergebung ist auch Realität. Zumindest in diesem Evan-gelium heute. Vergebung ist Realität bei Gott. Und deshalb kann Vergebung auch Realität bei uns Menschen sein, muss es sein. Vergebung ist etwas zutiefst mensch-liches. Jeder Mensch ist auf Vergebung angewiesen.



    Vergebung erbitten für die Täter, Vergebung gewähren für die Opfer. Aber vor der Vergebung ist der Weg der Umkehr notwendig – mit Bekenntnis und Buße.

    Machen wir uns nichts vor, jeder von uns ist auf irgendeinem Gebiet mal Täter und auf dem anderen Gebiet mal Opfer. Und weil das so ist, weil es auch in der Kirche viele Täter und Opfer gibt, deshalb ist es richtig, das wir als Kirche bei den Versu-chen, die Wunden zu heilen, in vorderster Reihe mittun.

    Die Wunden müssen offen gelegt werden. Die Wunden müssen behandelt werden. Die Wunden müssen verbunden werden. Aber wenn das alles geschehen ist und auch Bekehrung, Bekenntnis und Buße geschehen sind und auch die notwendigen strafrechtlichen Konsequenzen gezogen worden sind. Dann muss es auch Verge-bung geben. Das Bitten um Vergebung und das Gewähren von Vergebung.

    Aber zuerst ist der Weg der Bekehrung, des Bekenntnisses und der Buße zu beschreiten. Das Stichwort in der ersten Lesung, geht mir nahe. Schande! Im Evangelium heißen die Stichworte Schuld und Vergebung. Dazwischen haben wir einen kleinen Abschnitt aus dem Brief des Apostels Paulus gehört. Dort steht ein bemerkenswerter Satz. Er heißt: In Christus sind wir neue Schöpfung. Das bedeutet: Wenn wir mit Christus leben, dann können wir neue Menschen werden. Dann können wir neu anfangen. Neu anfangen Bekehrung, durch Bekenntnis und Buße. Neu anfangen durch Vergebung erbitten und durch Vergebung gewähren. Dann trägt dieser Sonntag Laetare „Freue dich“ doch auch in diesem Jahr den richtigen Namen. Freu dich, du kannst neu beginnen. Wir können neu anfangen. Amen.
  • Bewahrung der Schöpfung – Bewährung des Menschen / St. Paulus-Dom zu Münster / 10. 03. 2010
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    mit großer Freude bin ich bei Ihnen in diesem einzigartigen Paulusdom. Hier wird täglich intensiv das Geheimnis des Glaubens gefeiert. Mit dem Wort Gottes aus dem Alten und dem Neuen Testament und mit der Antwort darauf im Gebet. Aber auch mit den Gaben der Schöpfung. Mit Brot und Wein, mit Wasser und Öl, den Zeichen der Sakramente. Hier ist ein guter Ort, um nachzudenken über die Schöpfung. Über die Freude, die sie uns schenkt. Über die Aufgaben, die sie uns abverlangt. Über die Konsequenzen, vor die sie uns stellt.



    Unser bischöfliches Hilfswerk Misereor, für das ich als Misereorbischof zuständig bin, stellt die Fastenaktion 2010 unter das Leitwort: „Die Schöpfung bewahren“. Die diesjährige Fastenaktion ist ja hier im Paulusdom eröffnet worden. Wir wollen uns als Christen des 3. Jahrtausends bewähren. Was das für uns bedeutet, darum geht es heute Abend.



    1. Die Menschliche Dimension



    Was für ein Schöpfungshymnus! Er wurde uns sehr gekonnt und eingängig vorge-tragen. Aber noch besser wäre es, ihn zu singen, ihn zu musizieren. Ich denke an das Oratorium „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn. Oder an die Komposition „Licht – die sieben Tage der Woche“ von Karlheinz Stockhausen. Solch einen Text müsste man singen und spielen, so wie es ja auch am Ende des Psalms heißt: Ich will dem Herrn singen, solange ich lebe, will meinem Gott spielen, solange ich da bin (V 33). Man müsste tanzen angesichts der Schöpfung, sich in Rhythmen bewegen, das ha-ben heidnische Fruchtbarkeitstänzer richtig empfunden. Denn es ist ja ein Ge-schenk, dass es das alles gibt: das Licht und den Wind, die Quellen, die Tiere, das Brot und den Wein. Das alles ist uns anvertraut. Das alles dürfen wir gebrauchen. Aber nicht endgültig verbrauchen. Wir dürfen uns in der Schöpfung einrichten. Aber sie nicht zugrunde richten. Und die entscheidende Frage in alledem ist: Wie finden wir das richtige Maß?



    Vom richtigen Maß ist in der Mitte des Psalms die Rede. Dort heißt es: Du hast den Mond gemacht als Maß für die Zeiten, die Sonne weiß, wann sie untergeht (V 19).



    Bin ich vertraut mit dem Maß für die Zeiten? Gehe ich mit meiner Zeit maßvoll um? Angemessen? Mit meiner Arbeitszeit, meiner Freizeit? Auch mit meiner Lebenszeit? Sehe ich die realistischen Grenzen im Hinblick auf mein Arbeiten, auf mein Vergnügen? Realistische Grenzen auch für meine Lebenszeit?



    Wo ich das richtige Maß im Umgang mit der Zeit suche und finde, da kann ich auch das richtige Maß im Umgang mit der Schöpfung suchen und finden.



    Kann das sein, dass die Maßlosigkeit ein Charakteristikum unserer Zeit zu werden droht? Maßlose Boni für Bänker? Maßloses Konsumieren? Maßloses Vergnügen? Maßloser Sport?



    Das rechte Maß im Umgang mit der Schöpfung beginnt mit dem maßvollen Umgang mit mir selbst. Denn ich bin ja selbst ein Teil der Schöpfung. Weil in der Schöpfung alles mit allem zusammenhängt, schadet der Mensch sich selbst, wenn er der Schöpfung schadet. Teilhard de Chardin sagt: “Soweit wir um uns blicken, gewinnt das Universum seinen Halt von seiner Gesamtheit.“ Ich füge hinzu: Wir sind ein Teil dieser Gesamtheit.



    Anders als beim Tier gelingt das Maßhalten beim Menschen nicht automatisch, nicht von der Natur gesteuert. Der Mensch braucht für das rechte Maß seinen Verstand und seinen Willen. Das ist in den Auswirkungen der 68er Jahre bestritten worden und schließlich manchmal in Vergessenheit geraten. Heute wird es zur Überlebensfrage der Menschheit.



    Bevor wir in einem zweiten Teil auf die Überlebensfrage kommen, begleitet uns die Musik mit dem Impuls: Ich gewinne mein richtiges Maß, indem ich in mich hineinhorche und mich als Teil im Ganzen der Schöpfung wahrnehme.



    2. Die ökologische Dimension



    „Und ich hörte, wie mit einem wilden Schrei die Elemente . . riefen: . . Die Men-schen kehren uns um mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die Pest . . Nun sind alle Winde voll vom Moder . . und die Luft speit Schmutz aus, so dass die Menschen nicht einmal mehr . . ihren Mund aufzumachen wagen.“



    Das sind prophetische Worte. Gesprochen vor tausend Jahren von Hildegard von Bingen. Heute formulieren wir das nüchterner. Aber wir müssen es ebenso deutlich sagen. Das tue ich jetzt.



    Seit Beginn der Industrialisierung haben wir den Verbrauch fossiler Brennstoffe und die Abholzung der Wälder weltweit vorangetrieben. Unser Wohlstand wuchs. Ebenso wuchs die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre. Ebenso wuchsen die Temperaturen. Das Klima veränderte sich.



    Die Feststellung des Weltklimarates von 2007 lautet: Der Klimawandel ist Menschengemacht und bereits in vollem Gange. Seit vorindustrieller Zeit, also seit 150 Jahren hat sich die globale Durchschnittstemperatur messbar erhöht.



    Die Folgen nennen mir immer wieder die Mitarbeiter von Misereor vor Ort. Ich greife einige Beispiele auf:



    Die Niederschlagsmuster verändern sich. So bleibt der Regen in ohnehin trockenen Regionen vermehrt aus. Vor allem in Afrika. Die Hitze wird größer, Wüsten breiten sich aus, Dürren nehmen zu, Ernten vertrocknen. Ein drastisches Beispiel aus Ar-gentinien: Durch monatelange Dürre verendeten dort im vergangenen Jahr über eine Million Rinder.



    Anderswo gibt es plötzlich starke Regenfälle. Nicht selten fällt in Regionen Asiens heute der Regen eines ganzen Monats auf einmal. Felder und Häuser werden über-flutet.



    Als ich für Misereor auf den Philippinen war, wurde ich Zeuge überfluteter Küstenregionen. Das treibt Menschen dazu, Ihre Heimat zu verlassen.



    Das UN-Flüchtlingswerk schätzt die Anzahl von Flüchtlingen, die wegen klimati-scher Veränderungen weltweit unterwegs sind, derzeit auf rund 20 Millionen. Und die Prognose bei weiterer Klimaerwärmung für 2050: Dann könnten es 150 Millio-nen sein.



    Die Wissenschaft geht davon aus, dass unser Klimasystem eine durchschnittliche Erwärmung von 2 0C ertragen kann. Was darüber geht, bringt unabsehbare Folgen. Fast die Hälfte davon, 0,8 0C Erwärmung haben wir bereits. Es ist höchste Zeit zum Handeln. Das alles muss ich nicht glauben. Das kann man messen und berechnen.



    Der Klimawandel zeigt deutlich, dass unser heutiges Konsum- und Produktions-muster nicht mehr tragfähig ist. Aber wir haben keine zweite Erde in Reserve und unser Planet ist nichts, was man beim Verschleiß in eine Werkstatt geben kann.



    Dazu ist natürlich viel mehr noch zu sagen. Ich habe Ihnen hinten im Dom Infor-mationsmaterial dazu ausgelegt.



    Was ist zu tun? Wir dürfen keine Politiker wählen, ohne sie zuvor nach ihren Be-mühungen um den Klimaschutz zu fragen. Das Thema darf nicht mehr von der Ta-gesordnung.



    Und als Einzelner kann ich mich einschränken. Zum Beispiel beim Autofahren oder beim Fleischkonsum. Fleischproduktion bewirkt besonders hohe CO2 Emissionen. Bringt das denn was? Ja, es bringt etwas. Vor allem ein neues Bewusstsein.



    Wir halten wieder einen Augenblick inne mit der Frage: Was regt sich bei mir an Widerstand bei diesem Thema? Wie wach nehme ich die Fakten zur Kenntnis? Wie steht es mit meinem Umweltbewusstsein? Besser noch, mit meinem Schöpfungs-bewusstsein?



    3. Die christliche Dimension



    Vielleicht haben Sie sich vorhin gefragt: Wo bin ich hier eigentlich? Bei einer politi-schen Veranstaltung? Oder bei einer christlichen Besinnung? Politik und Christsein schließen sich nicht aus. Das haben Adolf Kolping und Oswald von Nell-Breuning und viele andere uns praktisch und theoretisch beigebracht im Bereich der sozialen Fragen. Jetzt müssen wir es auch lernen, in ökologischen Fragen, im Bewahren der Schöpfung.



    Dabei haben wir als Christen besondere Chancen. Weil es überall auf der Welt Glaubensbrüder und Glaubensschwestern gibt. Oft geht es mir ähnlich wie bei ei-nem Besuch in Südamerika: Der Bischof, den ich noch nie gesehen habe, holt mich am Flughafen ab, umarmt mich und sagt: Lieber Bruder, willkommen zu Hause, welcome at home. Die Tatsache, dass wir als Christen überall zu Hause sind, ist Verpflichtung und Chance zugleich.



    Verpflichtung, weil zutrifft, was Paulus sagt: Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glie-der (1 Kor 12,26). Und Chance, weil wir überall Partner haben. Die Ortskirchen sind für uns bei Misereor die wichtigsten Partner. Bei den anderen kirchlichen Hilfswerken ist es genauso. Dabei ist es doch so, dass die Menschen im Süden der Erde am wenigsten den Klimawandel verursacht haben. Aber sie leiden am meisten an den Folgen. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass wir sie nicht allein lassen.



    Und wir können sicher sein, dass unsere Hilfe ankommt. Anders als bei manchen Hilfen von Staat zu Staat, wo Vetternwirtschaft und Korruption eine enorme Behin-derung sind.



    Vor einiger Zeit war ich mit afrikanischen Bischöfen bei Bundespräsident Köhler. Dieser kennt sich ja in Afrika bestens aus. Er schilderte, dass man auch Geduld haben müsse mit afrikanischen Politikern, auch wenn dort demokratische Verhal-tensweisen noch nicht immer auf dem wünschenswerten Stand sind. Aber Gelder für Entwicklungshilfe, welche die Bundesregierung an afrikanische Regierungen gebe, seien ein Vertrauensbeweis und förderten auch Demokratisierungsprozesse. Da sprang ein afrikanischer Bischof auf und schrie: No, No, No. Sie dürfen unserer Regierung kein Geld geben, das kommt nie bei den Armen an, sondern landet in den Taschen der Verwandten des Regierungschefs.



    Misereor gehört zu den kürzesten und effektivsten Verbindungen in die Entwick-lungsländer hinein. Davon kann ich mich immer wieder überzeugen. Es ist ein Se-gen, dass die deutschen Bischöfe das Werk vor fünfzig Jahren gegründet haben. Es ist ein Segen, wenn Sie, liebe Schwestern und Brüder, es unterstützen. Und es ist als Christen unsere Pflicht.



    Im letzten Abschnitt unseres Psalms stehen die erstaunlichen Worte: Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen, und du erneuerst das Antlitz der Erde.



    Wir kennen dieses Gebet vor allem aus der Pfingstliturgie. Dort beten wir darum, dass Gottes Geist in uns lebendig wird. Dass er uns durchdringt und belebt, dass wir lebendige, gläubige Menschen sind. Hier im Psalm wird deutlich, dass der Geist der Erlösung, der Pfingstgeist, und der Schöpfergeist, der allem den Odem ein-haucht, identisch sind. Wer offen ist im eigenen Leben für Gottes Geist, ist auch offen für die Schöpfung Gottes.



    Vor einigen Wochen war ich in Äthiopien. Misereor unterstützt dort ein Kranken-haus. Es sind ein paar Baracken. Alles ist sehr einfach. Immer überfüllt. Weit über einhundert Kranke in achtundsiebzig Betten. Eintausendsiebenhundert Geburten pro Jahr. Als ich über die hohe Zahl staune, bekomme ich zu hören: Ins Kranken-haus kommen nur die Risikogeburten, alle anderen werden zu Hause geboren.



    Mit einer Kaffeezeremonie beginnt mein Gespräch mit den Ärzten in Äthiopien. Auf Englisch. Danach spreche ich noch länger mit zwei Ordensfrauen. Die eine ist die leitende Ärztin. Die andere leitet die Verwaltung. Sie gehören zu den Medical Missi-onaries Sisters of Mary. Jetzt können wir Deutsch sprechen, sagen sie. Sie halten mich für einen Hamburger. Nun ja, bin ich ja auch. Auf einmal fällt das Wort Münster. Wir kommen nämlich aus dem Bistum Münster, sagen sie. Ich auch. Wir sind gebürtig vom Niederrhein. Ich auch. Aus dem Kreis Kleve. Ich auch. Wer als Christ sich um Schöpfung und Erlösung sorgt, ist wirklich überall zu Hause.



    Ich schließe mit einem Wort Hildegards von Bingen: „Wer auf Gott vertraut, wird auch die Welt in Ehren halten, den Lauf von Sonne und Mond, Wind und Luft, Erde und Wasser, alles, was Gott um des Menschen willen geschaffen hat und zu seinem Schutz. Einen anderen Halt hat der Mensch nicht. Gibt er diese Welt auf, dann kommen die Dämonen.“



    Die Besinnungsfrage lautet: Wie katholisch, wie weltweit ist mein Denken und Empfinden? Und wieweit ist mir bewusst, dass der Pfingstgeist auch der Schöpfer-geist ist?
  • Unser gemeinsamer Glaubensweg im Norden - Brief von Erzbischof Werner Thissen zur österlichen Bußzeit 2010 / Hamburg / 21. 02. 2010
    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg,



    ein Stichwort hat im vergangenen Jahr in unserem Erzbistum die Runde gemacht. Es heißt: „Pastoraler Raum“. Gemeint ist, dass wir beginnen werden, die bisherigen Pfarreien innerhalb der nächsten zehn Jahre umzustellen auf größere Einheiten.

    Warum tun wir das?

    Hauptgrund ist die zurückgehende Zahl der Priester. Wir können nicht mehr in jede Pfarrei einen Priester senden. Wir können aber auch nicht noch mehr Pfarreien zusammenlegen, ohne die Art und Weise der Seelsorge zu verändern. Das Stichwort für diese Veränderung heißt: „Pastoraler Raum“.



    1. Was meint das Stichwort „Pastoraler Raum“?

    Früher gab es in größeren Städten oft nur eine einzige Kirche und eine einzige Pfarrei. In ländlichen Gebieten gab es Mittelpunktkirchen, zu denen die Leute aus der ganzen Umgebung kamen.

    Die meisten Kirchen auf dem Gebiet unseres Erzbistums sind in den letzten sechzig Jahren errichtet worden. Möglich wurden die vielen Kirchenneubauten durch die große Zahl zugezogener Katholiken, durch die große Zahl derer, die den Gottesdienst besuchten, und durch eine größere Zahl von Priestern. Inzwischen geht die Zahl der Priester und der Gottesdienstbesucher seit langem zurück.

    Wir versuchen, möglichst viele Kirchen zu halten. Ebenso soll viel von den Aktivitäten, die es an unseren Kirchen gibt, erhalten bleiben. Wie das im Einzelnen aussehen kann, wird mit den Gremien und mit allen Gemeindemitgliedern zu erarbeiten sein.

    Dabei wird der Unterschied zwischen städtischem und ländlichem Raum zu beachten sein. Ebenfalls ist wichtig, was es an kirchlichen Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Schulen, karitativen Stützpunkten und Beratungsstellen im Pastoralen Raum gibt. Auch Verbände, Gruppen, Gebetskreise und Chöre – alles, was den Glauben belebt und ausbreitet, ist in die Überlegungen mit einzubeziehen. Denn all das wird noch bedeutender als bisher. Der springende Punkt im Pastoralen Raum heißt: Gemeinsam auf dem Weg des Glaubens.

    Im vergangenen Jahr habe ich alle Priester und Hauptamtlichen im kirchlichen Dienst sowie Vertreterinnen und Vertreter aus allen Pfarrgemeinden eingeladen zu Gesprächen über den Pastoralen Raum. Denn alle sollen sich beteiligen.



    2. Drei Versuchungen, die wir zu bewältigen haben.

    Die Kirche der Zukunft „wird viele der Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkonjunktur geschaffen wurden.“

    Das sind Worte, die Papst Benedikt noch als Professor Ratzinger vor vierzig Jahren gesagt hat. Sie geben einen Hinweis darauf, welche Versuchungen wir jetzt zu bewältigen haben.

    Von Versuchungen ist im Evangelium dieses ersten Fastensonntags ausführlich die Rede. Wir hören von drei Versuchungen, denen Jesus ausgesetzt ist. Ich nenne Ihnen drei Versuchungen, mit denen wir jetzt zu kämpfen haben.

    Es ist verständlich, dass manche mit ängstlichen Fragen auf die Entwicklung zum Pastoralen Raum reagieren. Ich finde es gut, solche Fragen nicht herunterzuschlucken, sondern auszusprechen und zu diskutieren. Wir werden von manchem, was uns lieb geworden ist in unserer Pfarrei, Abschied nehmen müssen. Das löst Trauer aus. Das braucht auch Zeit zur Trauerbewältigung. Aber wir müssen der Versuchung widerstehen, uns davon lähmen zu lassen. Denn dann übersehen wir die Chancen, die sich auftun.

    Eine zweite Versuchung ist der verklärte Blick auf die Vergangenheit und der trübe Blick auf die Gegenwart. Hier sollten wir jeder Schwarzweißmalerei widerstehen. Früher war nicht alles gut, und in Zukunft wird nicht alles schlecht sein.

    Die dritte Versuchung liegt darin, die Beobachterrolle einzunehmen anstatt sich zu beteiligen. Getaufte und gefirmte Christen sind nicht Beobachter in der Gemeinde, sondern Mitgestalter.



    3. Die Kraftquellen wahrnehmen.

    In der schon genannten Ansprache, die der jetzige Papst Benedikt vor vier Jahrzehnten hielt, heißt es weiter: „Die Kirche wird ihr Wesentliches von Neuem und mit aller Entschiedenheit in dem finden, was immer ihre Mitte war: Im Glauben an den dreieinigen Gott, an Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes, an den Beistand des Geistes, der bis zum Ende reicht. Sie wird in Glaube und Gebet wieder ihre eigentliche Mitte erkennen ...“

    Das, was Papst Benedikt als das Wesentliche unseres Christseins nennt, bleibt uns auch in Zukunft erhalten. Ja, es soll noch stärker in den Mittelpunkt rücken. Wir werden unsere Kirchen stärker nutzen als bisher. Täglich sollen sich dort auf Dauer Menschen zum Gottesdienst versammeln. Bereits jetzt gibt es erfreulich viele, die sich zur Leitung von Wortgottesdiensten ausbilden lassen. Am Sonntag soll, wann immer möglich, die Eucharistiefeier sein. An Werktagen ist das schon lange nicht mehr in jeder Kirche möglich. Aber die vielfältigen anderen Formen gottesdienstlicher Versammlung, die wollen wir stärker praktizieren. Eine Kirche, in der täglich Gottesdienst gefeiert wird, bleibt. Ob das der Rosenkranz ist, die eucharistische Anbetung, ein Wortgottesdienst, eine Andacht, Bibelteilen, Stundengebet, Meditationsformen, Taizè-Gebet, Feierabendgebet, Früh- und Spätschichten – es gibt eine Fülle von Möglichkeiten, die wir immer mehr ausschöpfen wollen. Auch wenn zunächst wahrscheinlich nur wenige daran teilnehmen werden.

    Um es noch einmal mit Worten von Papst Benedikt zu sagen: „Aus einer verinnerlichten und vereinfachten Kirche wird eine große Kraft strömen. Denn die Menschen einer ganz und gar geplanten Welt werden unsagbar einsam sein. Sie werden, wenn ihnen Gott ganz entschwunden ist, ihre volle schreckliche Armut erfahren. Sie werden dann die kleine Gemeinschaft der Glaubenden als etwas ganz neues entdecken. Als eine Hoffnung, die sie angeht, als eine Antwort, nach der sie im Verborgenen immer gefragt haben.“



    4. Berufen und gerufen

    Die Zahl der Ehrenamtlichen ist in unserem Erzbistum erfreulich hoch. In Zukunft wird die Kirche noch mehr als bisher vom Mittun Ehrenamtlicher leben.

    Inzwischen zeichnet sich ab, dass auch in Aufgabenbereichen, die früher allein von Priestern oder anderen hauptamtlichen Laien wahrgenommen wurden, viele Ehrenamtliche mitarbeiten. Herzlich danke ich allen, die ihre Begabung, ihre Zeit und ihre Kraft in den Dienst des Evangeliums stellen. Ebenso danke ich allen, die hauptamtlich tätig sind, dass sie immer mehr Ehren- amtliche gewinnen und begleiten. Das wird in Zukunft noch stärker ihre Aufgabe sein.

    Wenn ich es richtig sehe, sind die meisten Ehrenamtlichen gerufen worden. Angerufen, angeschrieben, angesprochen durch Hauptamtliche oder Ehrenamtliche in der Gemeinde.

    Ehrenamtliche sind aber immer auch berufen. Berufen von Jesus Christus selbst. Der Apostel Paulus sagt das ausdrücklich zu den Mitgliedern der Gemeinde in Korinth. In seinem Brief heißt es: „Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt“ (1 Kor 12,7).

    Das betrifft alle Getauften und Gefirmten. Denn bei der Offenbarung des Geistes geht es um ganz persönliche Gaben, die für andere einzusetzen sind. Anders gesagt: Als Getaufte und Ge- firmte können wir erkennen, was Gott von uns erwartet, wo er unseren Einsatz wünscht, was er uns zutrauen und zumuten will.

    Wer das erkennt, soll nicht warten, bis er angesprochen wird. Er soll von sich aus seine Berufung zu erkennen geben. Dann kann sie je nach Möglichkeit und Notwendigkeit im Pastoralen Raum durch Beauftragung wirksam werden.

    Wie bei jedem Engagement aus dem Glauben geht es auch bei ehrenamtlichem Einsatz nicht nur um ein Geben. Das ist ein wichtiger Aspekt. Aber es geht auch um ein Empfangen. Denn wer sich für den Glauben einsetzt, wird auch selbst dadurch inspiriert. Er wird vom Geist geleitet und begeistert. Das führt zu einer neuen geistlichen Lebensqualität.



    5. Wie geht es weiter?

    Wir werden noch mehr als bisher um Priesterberufungen beten. Denn ohne Priester geht es nicht. Es werden sich aber auch noch mehr Getaufte und Gefirmte fragen: Was kann ich zur Verlebendigung des Glaubens beitragen? Das reicht von Gebet und Gottesdienst bis zur Mitarbeit in den Gremien.

    (Im Pastoralgespräch gab es Kritik, dass im Erzbistum zu wenig informiert wird über ehrenamtliche Tätigkeit. Inzwischen können Sie im Internet unter www.ehrenamt-erzbistum-hamburg.de alle wichtigen Informationen abrufen. Selbstverständlich steht Ihnen auch unsere Pastorale Dienststelle für alle Fragen offen. Ebenso die erzbischöflichen Ämter in Kiel und Schwerin.

    Ein weiterer Kritikpunkt im Pastoralgespräch betraf Rechte und Pflichten von Ehrenamtlichen und deren Aus- und Fortbildung. Inzwischen haben Diözesanpastoralrat und Priesterrat über die Rahmenordnung für Ehrenamtliche befunden, die in Kraft gesetzt ist.

    Im kommenden September findet ein „Bistumstag zum ehrenamtlichen Engagement“ statt. Denn das Ehrenamt wird im Pastoralen Raum noch bedeutender werden. Das Thema des Bistumstages lautet: “Engagiert katholisch – Ehrenamt im Erzbistum Hamburg“.

    Im November sind dann wieder die Wahlen für Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand fällig. Was sich hier bereits seit Jahrzehnten bewährt hat, soll weiter wachsen.

    Ehrenamt spielt in der Gesellschaft der Bundesrepublik eine heraus- ragende Rolle. Siebzig Prozent der Bevölkerung sind aktiv oder engagiert. Als Kirche haben wir da eine besondere Chance. Viele Menschen wollen die Kirche mitgestalten und suchen nach Gemeinschaft. Auch das meint Paulus mit seinem Wort, dass uns der Heilige Geist geschenkt ist, damit er anderen nützt.) *

    * Dieser Teil kann beim Vorlesen im Gottesdienst überschlagen werden.



    Abschließen möchte ich mit einem weiteren Wort von Papst Bene- dikt aus seiner Ansprache vor vierzig Jahren. Er sagte damals: „Die Kirche wird sich sehr viel stärker als Freiwilligkeitsgemeinschaft darstellen, die nur durch Entscheidung zugänglich wird. Sie wird als kleinere Gemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspruchen.“

    Vom Pastoralen Raum sprach der Papst damals nicht. Aber vieles von dem, was er vor vierzig Jahren als Zukunft erwartete, wird jetzt Gegenwart.

    Ich lade Sie herzlich ein, diese Gegenwart mit Mut und Gott- vertrauen zu gestalten.

    Dazu befähige Sie der Segen des dreifaltigen Gottes, des Vater und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.



    Ihr

    Dr. Werner Thissen Erzbischof von Hamburg

    Dieses Bischofswort ist am 1. Fastensonntag, 21. Februar 2010 in allen Eucharistiefeiern einschließlich der Vorabendmessen zu verlesen.
  • Predigt von Erzbischof Werner am Patronatsfest des Erzbistums / St. Marien-Dom Hamburg / 07. 02. 2010
    Liebe Gemeinde,



    geht und verkündet, das ist heute im Evangelium der Auftrag Jesu an die Apostel. Geht und verkündet, das bleibt der Auftrag Jesu durch die Zeiten hindurch. Dabei hat sich die Art und Weise, auf welchen Wegen zu gehen und zu verkündigen ist, im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert.



    Geht und verkündet, für den jungen Ansgar bedeutete der Ruf Jesu vor 1150 Jahren, aufzubrechen in den Norden, in das Gebiet unseres heutigen Erzbistums, um hier, wo es noch gar keine Christen gab, zu predigen, zu taufen, Kirchen zu bauen.



    Geht und verkündet, für die Lübecker Märtyrer vor siebzig Jahren bedeutete der Ruf Jesu, ihrem Gewissen zu folgen und den Befehlen eines menschenverachtenden Diktators zu widerstehen.



    Es ist kein Zufall, dass unsere drei neuen Domkapitulare mit dem Datum des 10. November, dem Tag des Martyriums der Lübecker Märtyrer, ernannt worden sind und dass sie heute, am Tag der äußeren Feier des Ansgarfestes, in ihr Amt eingeführt werden. Denn Ansgar und die Lübecker Märtyrer machen uns gemeinsam mit Niels Stensen Mut und spornen und an, den Auftrag Jesu zu erfüllen.



    Geht und verkündet, das bedeutet für unsere Domkapitulare: Sorgt mit den Bischöfen dafür, dass sich der Glaube hier im Norden ausbreiten kann, dass wir Salz im Norden sein können und dass wir Licht sein können, trotz mancher Dunkelheit.



    Es gibt ja bedrückende und irritierende Dunkelheit. Ich denke an die zurückliegenden Tage mit dem Bekanntwerden von Missbrauchsfällen, die sich vor Jahrzehnten ereignet haben. Ich bin der Leitung der Jesuiten dankbar, dass sie jetzt so schnell und konsequent reagiert haben, damit Licht in dieses Dunkel kommt.



    Eine ganz andere Art von Dunkelheit tat sich ebenfalls vor wenigen Tagen auf. Ich meine den Verdacht von Steuerhinterziehung durch Konten deutscher Bürger in der Schweiz. Ich finde es richtig, dass der Bundesfinanzminister zur Selbstanzeige aufruft. Es ist für das Klima in unserem Staat notwendig, dass Fehlverhalten Einzelner nicht vertuscht, sondern aufgeklärt und korrigiert wird. Auch hier muss Licht in das Dunkel kommen.



    Geht und verkündet, zur Zeit Ansgars und auch Niels Stensens und der Lübecker Märtyrer war klar, dass der Ruf Jesu an Amtsträger in der Kirche erging. Das hat sich verändert. Heute ist es notwendig, dass auch immer mehr Laien, Hauptamtliche und Ehrenamtliche die Verantwortung in der Kirche übernehmen. Dabei nimmt die Zahl der Ehrenamtlichen erfreulich zu. Deshalb gibt es für herausragenden Einsatz die Ehrung mit der Ansgarmedaille. Diese Ehrung werde ich am Ende unseres Gottesdienstes vornehmen.



    Geht und verkündet. Wenn Sie mich fragen, was die besondere Prägung des Auftrags Jesu in unserer Zeit ausmacht, dann heißt für mich die Antwort: Im Zusammenwirken von Amtsträgern mit denen, die in Taufe und Firmung ihre Berufung erkennen, kommt das Typische des Auftrags Jesu für unsere Zeit zum Ausdruck. Die erstmalige und vermutlich auch einmalige Einführung dreier Domkapitulare und zugleich die Auszeichnung dreier verdienter Laien in der selben Eucharistiefeier ist dafür ein deutliches Signal.



    Amen.
  • Predigt im Jahresschlussgottesdienst 2009 im Mariendom / Hamburg / 30. 12. 2009
    Erfüllte Zeit – Christlicher Sonntag und Muezzinruf



    Liebe Schwestern und Brüder,



    „als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn.“ Das sagt uns der Apostel Paulus heute in den letzten Stunden dieses Jahres. Erfüllte Zeit, was ist das? Es ist die Zeit, in der Christus den ersten Platz einnimmt. Es ist die Zeit, in der Christus das Leben prägt. Ist das Jahr 2009 für uns „erfüllte Zeit“ gewesen?



    Die Frage betrifft jeden einzelnen Menschen, und sie betrifft unsere Gesellschaft.



    Ganz persönlich kann ich mich fragen: Welchen Stellenwert hat Christus in diesem zu Ende gehenden Jahr für mich gehabt? Was hat mein Beten besonders geprägt? Geburt und Tod, Erfolg und Misserfolg, frohe und traurige Erlebnisse? Wie hört sich der Dreiklang von Gebet, Gottesdienst und Nächstenliebe im Jahre 2009 bei mir an? Was kam zu kurz? Was fehlte? Ich kann in diesen letzten Stunden des Jahres Christus bitten: Ergänze, Du, was bei mir gefehlt hat, was bei mir zu kurz gekommen ist, damit 2009 auch für mich erfüllte Zeit gewesen ist.



    Die Frage nach der erfüllten Zeit, nach der Zeit mit Jesus Christus, betrifft auch unsere ganze Gesellschaft.



    Wir hatten in diesem Jahre im Erzbistum schwierige Diskussionen um den Sonntagsschutz. In Mecklenburg-Vorpommern und in Schleswig-Holstein kam es zu keiner Einigung. Deshalb haben wir bei Gericht Klage eingereicht. Wir, das sind die katholische und die evangelische Kirche. Im nächsten Jahr wird über unsere Klagen entschieden werden. Unser Anliegen ist, dass verkaufsoffene Sonntage die Ausnahme sind und nicht die Regel.



    Warum ist uns der Sonntag so wichtig? Es gibt nicht nur religiöse Gründe, sondern auch gesellschaftliche Gründe.



    Für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, egal, ob jemand religiös gebunden ist oder nicht, ist es wichtig, dass es eine gemeinsame Unterbrechung des Alltags gibt. Wo der Sonntag als ein gemeinsamer Ruhetag fehlt, fällt eine Gesellschaft immer mehr auseinander. Der Hinweis, jeder solle doch dann einen Ruhetag einlegen, wenn es ihm passt, zieht nicht. Sie müssen sich nur einmal vorstellen, jeder würde Weihnachten feiern, wann es ihm gerade auskommt. Der Sonntag ist ein wichtiger Kitt in unserer Gesellschaft. Er hält uns zusammen. Auch wenn es selbstverständlich jedem freigestellt ist, wie er den Sonntag gestaltet. Aber die Arbeitsruhe gibt den Rahmen für alle vor.



    Der Sonntag tut unserer Gesellschaft auch gut als Entschleuniger. Wir leben, so sagen es uns die Sozialwissenschaftler, in einem Zeitalter der Beschleunigung. Technische Erfindung wie Email und Internet, Mobiltelefon und Blackberry haben unser Leben rasend schnell gemacht. Das ist in manchen Situationen eine Errungenschaft. Aber unser Lebensrad kann sich nicht nur immer noch schneller drehen. Es gehört auch zum Menschen, innezuhalten und sich wieder neu zu sortieren. Dafür ist der Sonntag unentbehrlich.



    Der Sonntag ist ein Weltkulturerbe, was wir sorgsam schützen müssen. Wir brauchen den Sonntag als Kontrapunkt gegen Flexibilisierung und Ökonomisierung. Denn der Mensch lebt nicht nur von Anpassung und Wirtschaftlichkeit. Zum Menschen gehören das Innehalten und das Fragen nach dem Woher und Wohin.



    Für uns Christen ist der Sonntag darüber hinaus der wöchentliche Impuls, uns unsere Verbindung mit Gott bewusst zu machen. Das Herz des Sonntages ist für uns die Begegnung mit Gott in der Feier der heiligen Messe. Von hier aus öffnen wir uns neu für die Begegnung mit Menschen. Von hier aus erfüllen uns Dankbarkeit und Freude über Gottes Schöpfung. Von hier aus nehmen wir unsere Verantwortung für Welt und Gesellschaft neu in den Blick.



    Wer den Sonntag zum Arbeitstag macht, stiehlt uns nicht nur das Wochenende, sondern auch den Rhythmus des Lebens und den Tag des Herrn.



    Zeitgleich mit der Diskussion um den Sonntag entfaltete sich die Diskussion, ob hier in St. Georg der Ruf des Muezzins ertönen solle. Ich bin allen dankbar, die in dieser Frage zu Mäßigung und Geduld aufrufen. Wir treten als Kirche sehr bewusst für Religionsfreiheit ein. Niemand soll an der Ausübung seiner Religion, so lange das friedlich geschieht, gehindert werden. Aber die freie Religionsausübung muss auch für Christen in muslimischen Ländern gelten. Bevor es dort nicht ein Minimum an Freiheit für Christen gibt, halte ich die Diskussion um einen Muezzin-Ruf über St. Georg für verfrüht und für unangemessen. Darüber müssen wir mit unseren muslimischen Gesprächspartnern reden. Wir müssen ihnen auch erklären, dass es zum Schaden für unser gutes Miteinander ist, wenn hier Forderungen gestellt werden, die nicht oder noch nicht vermittelbar sind.



    Auch in diesem Zusammenhang ist unsere Frage nach dem Sonntag wichtig. Wenn wir unser kulturelles und religiöses Erbe nach und nach verschleudern – und beim Sonntag besteht die Gefahr – dann müssen wir uns nicht wundern, wenn andere Kulturen und Religionen diesen Platz einnehmen. Mein Problem ist dabei nicht die Glaubensstärke der Muslime. Mein Problem ist vielmehr die Kurzsichtigkeit und Gleichgültigkeit mancher Christen.



    Ich wünsche uns, dass wir im neuen Jahr weiterhin mit Augenmaß und mit Beharrlichkeit für unsere kulturellen und religiösen Werte eintreten. Und dass wir mit Zuwendung und Verständnis die Kontakte zu unseren muslimischen Mitbürgern intensivieren. Und dass wir Zuspitzungen vermeiden, bei denen es am Ende nur Gewinner und Verlierer gibt. Wir können auf Dauer nur gemeinsam gewinnen. Aber das gilt nicht nur für Deutschland. Das gilt auch für die muslimischen Ländern. Da liegen noch mühsame Weg vor uns. Vor allem aber wünsche ich uns, dass wir als Christen unseren Glauben praktizieren. Dann wird auch 2010 für uns erfüllte Zeit sein.



    Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr Werner Thissen in der Christmette im Hamburger Mariendom 2009 / Mariendom Hamburg / 23. 12. 2009
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    Augustus der Kaiser, Quirinius der Statthalter, die Steuerlisten, in die man sich eintragen muss – das ist das gesellschaftspolitische Rahmenprogramm der Geburt Jesu. So hören wir es im Evangelium dieser Nacht.



    Weihnachten ereignet sich also nicht im luftleeren Raum. Weihnachten steht in einem ganz konkreten politischen Kontext. Jedenfalls damals. Und wie ist das heu-te?



    Unser Weihnachtsfest 2009 hat als politischen Kontext die gescheiterte Klimakonfe-renz in Kopenhagen, die widersprüchliche Einschätzung des Krieges in Afghanistan, die Wirtschaftskrise mit den Milliarden der Staatsverschuldung. Die Geschichte Gottes mit uns Menschen ereignet sich damals wie heute in einem konkreten gesellschaftspolitischen Umfeld und wird davon mitgeprägt.



    Das gilt auch für unser persönliches Umfeld. Bei meinem Besuch bei den Obdach-losen erzählt einer von seinen Erlebnissen im 2. Weltkrieg. So intensiv wie damals als Kind im Bombenhagel habe ich nie wieder gebetet, sagt er. Ein Schiffsmakler hier in Hamburg sagt mir, die Wirtschaftskrise habe ihn zum Nachdenken darüber gebracht, ob er in seinem Leben nicht zu sehr auf Materielles setze. Eine Lehrerin, die schockiert ist durch den Mord an Ihrer Kollegin in der vergangenen Woche, meint: Ich will nicht mehr so äußerlich, sondern mehr von innen heraus leben.



    Krieg, Krisen, Katastrophen: säkulare Chiffren für die Christnacht heute. Und bestimmt denken Sie auch an Ihre persönlichen Nachterfahrungen: Krankheit oder Konflikte, Schwierigkeiten oder Schuld, Erfolglosigkeit oder Einsamkeit. Nur wer seine Nachterfahrungen nicht verdrängt, hat Augen für das Licht, das uns in dieser Christnacht aufleuchtet.



    In dieser Christnacht brauchen wir die Dunkelheiten unseres Lebens nicht zu ver-stecken. Im Gegenteil: Gerade in unsere Dunkelheit hinein leuchtet das Licht von Bethlehem. In allen drei biblischen Texten, die zu dieser Christnacht gehören, ist ja von diesem Licht in der Dunkelheit die Rede.



    Im Evangelium wird von der Nachtwache der Hirten erzählt, die vom Glanz des Herrn umstrahlt werden. Paulus spricht in der Lesung vom Erscheinen der Herrlichkeit des Retters Jesus Christus. Und bei Jesaja sieht das Volk, das im Dunkel lebt, ein helles Licht. In dieser Nacht sind wir das Volk, das im Dunkel lebt. Geht uns ein Licht auf? In dieser Nacht gilt uns die Herrlichkeit des Retters Jesus Christus. Sind wir noch zu retten? In dieser Nacht gilt uns wie den Hirten damals die Botschaft von der großen Freude. Macht sie auch unser Herz weit?



    Weihnachten stellt unsere innere Uhr auf Gleichzeitigkeit. Am Weihnachtsfest 2009 denken wir gleichzeitig an Weihnachten früher. Das reicht bis tief in die Kindheit hinein. Auch dieser Zusammenhang kann uns helfen, in der Dunkelheit das Licht zu erspüren.



    Dieses Licht wollen wir auch für andere leuchten lassen. Nicht zufällig gibt es zu Weihnachten Geschenke. Geschenke sind Zeichen. Zeichen für das große Geschenk der Menschwerdung Gottes. Zeichen für das Licht in der Dunkelheit. Zum Ge-schenk gehört aber auch der Impuls: Geh damit um. Beschäftige dich mit diesem Geschenk. Menschwerdung Gottes wird zum Geschenk, das uns selber menschli-cher machen will, unsere eigene Menschwerdung voranbringen will.



    Dann sind wir wie von selbst wieder bei der gescheiterten Klimakonferenz, beim Krieg in Afghanistan und bei der Wirtschaftskrise. Und ebenso bei unseren ganz persönlichen Nachterfahrungen. Denn all das schreit ja nach einem menschlichen Umgang. Einem Umgang, der durch das Licht dieser Christnacht unser und aller Menschen Leben hell macht. Das Licht von Bethlehem wird uns nicht geschenkt, damit wir es zudecken und verstecken. Dieses Licht soll leuchten in unserer Umge-bung und weit darüber hinaus. Lassen Sie uns daran glauben, dass das Licht stär-ker ist als alle Dunkelheit. Amen
  • Predigt zum Ökumenischen Gottesdienst am 9. November 2009 im Kloster Zarrentin / Zarrentin / 09. 11. 2009
    Liebe Schwestern und Brüder,



    „Was bedeuten diese Steine für euch?“

    Wie Trophäen nahm das Volk Israel bei seinem Übertritt über den Grenzfluss Jordan zwölf Steine mit. Diese Steine wurden zu einem Zeichen der Erinnerung für die Rettung, die Gott seinem Volk schenkte. Unser heutiger Lesungstext spricht davon.



    Was bedeuten diese Steine für euch?



    Wie Trophäen nahmen die Menschen auch vor zwanzig Jahren die Steine und Betonbrocken der Berliner Mauer mit nach Hause. Sie liegen als Denkmäler nun auf öffentlichen Plätzen und in privaten Wohnzimmerschränken.



    Alles andere als Trophäen sind die goldenen Plaketten, die in den vergangenen Jahren vor vielen Häusern unseres Landes in den Bürgersteig der Straßen einge-lassen wurden. Diese sogenannten „Stolpersteine“ erinnern an die jüdischen Menschen, die diese Häuser einst bewohnten. Jeder einzelne dieser Steine ist ein Mahnmal für den Schmerz, der mit dem heutigen Datum auch verbunden ist.



    „Was bedeuten diese Steine für euch?“ Die Frage fordert heraus.

    Für das Volk Israel am Fluss Jordan liegt die Antwort zu dieser Frage nahe. Im Buch Josua heißt es: „Alle Völker der Erde sollen erkennen, dass die Hand des Herrn stark ist“. Von Gott kommt die Befreiung. Von Gott kommt die Rettung. Die ganze Welt soll das wissen. Dafür stehen die Steine.





    Mir kam auch das Ereignis vor zwanzig Jahren wie eine Befreiung vor. Endlich Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit, Reisefreiheit, freie Religionsausübung, freie Be-rufsausübung. Doch wer würde heute ungeschützt sagen: Von Gott kam die Be-freiung 1989?! Von Gott kam die Rettung?! Wir sind vorsichtiger damit geworden, Gott mit konkreten historischen Siegen und Niederlagen zu verbinden.



    Bedenkenswert ist jedoch die Tatsache, dass ein wesentlicher Ursprung der Be-freiungsgeschichte von 1989 in den Kirchen liegt. Die Kirchen waren und sind Orte, in denen Gottes Botschaft der Befreiung weitergegeben wird. Diese theologi-sche Botschaft war in der damaligen Situation so ansteckend, dass sie unmittelbare politische Konsequenzen hatte.



    Unsere jüngere Geschichte zeigt, dass wir Christen von einem Gott Zeugnis ablegen, der auch heute Menschen und Gesellschaften verwandeln kann. Vielleicht nicht immer so, wie wir uns das vorstellen. Doch Gott bleibt am Werk. Gott „erneuert das Antlitz der Erde“, wie der Psalmist betet.



    Was bedeuten diese Steine für euch?



    Uns ist vor zwanzig Jahren ein Stein vom Herzen gefallen. Aber so ein kleiner winziger Stein der Berliner Mauer im Schuh von jedem von uns, ein Stein, der im Schuh drückt, würde uns gut tun. Ein Stein, der uns beim Weitergehen, beim Fortschritt durch einen leisen Druck daran erinnert: Das war nicht selbstver-ständlich vor zwanzig Jahren, das bleibt dankenswert, das Geschenk der Freiheit nimmt uns in die Pflicht.



    Denn auch heute gilt das Wort Jesu: Wenn wir schweigen, werden die Steine re-den (vgl. Lk 19,40). Auch die Steine der Berliner Mauer. Auch die Stolpersteine der ermordeten Juden. Auch die Steine, die uns vor zwanzig Jahren vom Herzen gefallen sind.

    Hören wir ihre Botschaft? Geben wir ihrer Botschaft eine Stimme? Lassen wir dem Reden Taten folgen?



    Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am 25. Oktober 2009 aus Anlasse des 100jährigen Bestehens der Christuskirche in Rostock / Rostock / 21. 10. 2009
    Liebe Schwestern und Brüder in Rostock,



    „Unsere alte Kirche – das Herz der Stadt“, so steht es auf der Rückseite eines Fotos, das die Christuskirche am Schröderplatz zeigt.



    Und tatsächlich, für viele Rostocker war und ist die Christuskirche ein Herzensanliegen. In der wunderbaren Fotoausstellung Ihrer Gemeinde lässt sich ablesen, wie sehr die Geschichte der Christuskirche mit dem Herzblut vieler Menschen geschrieben ist. Mit dem Herzblut von Priestern und Ordensleuten, mit dem Herzblut vieler Gemeindemitglieder.



    Das begann schon vor über einhundert Jahren, 1883, als die Schweriner Regierung den Bau einer katholischen Kirche erst einmal ablehnt. Erst fünfundzwanzig Jahre später, 1908, kann endlich die Grundsteinlegung erfolgen. Und dann genau heute vor einhundert Jahren erfolgt die feierliche Einweihung. Wäre die Kirche nicht so vielen ein Herzensanliegen gewesen, die Christuskirche wäre bei so viel politischen Widerständen und auch bei so viel materiellen Schwierigkeiten nie gebaut worden.



    Aber dann, vor einhundert Jahren, ist sie endlich da, unsere alte Kirche, das Herz der Stadt. Dazu passt gut das Wort aus dem Propheten Jesaja in der Lesung heute: „Weinend kommen sie, tröstend geleite ich sie, sagt Gott.“ Ja, viel Trost, viel Ermutigung, viel dankbare Freude ist von der Christuskirche am Schröderplatz ausgegangen. Auch und gerade in der christenfeindlichen Diktatur des Nationalsozialismus. Aber dann kommt die Kriegszerstörung am 11. April 1944. Die Christuskirche ist ein Trümmerhaufen. Aber auch jetzt gilt: „Weinend kommen sie, tröstend geleite ich sie.“ Mit großem Mut und mit viel Einsatz wird die Christuskirche nach dem Krieg wieder aufgebaut. Aufgebaut ausschließlich aus Mitteln der Gemeindemitglieder. Und wieder entfaltet sich ein reiches Gemeindeleben.



    In der Verfassung der DDR von 1949 wird zunächst ausdrücklich eine ungestörte Religionsausübung erklärt. Aber die Wirklichkeit sieht schon bald anders aus. So sehr, dass der Berliner Bischof Kardinal Döpfner in einer Predigt ausruft: „Die Mächte der Gottlosigkeit wollen den Glauben an Gott aus dem Herzen unseres Volkes reißen. Werft euch dem Ansturm der Hölle entgegen.“



    Und dann geschieht das Unfassbare: Die Kirche am Schröderplatz wird gesprengt, aus Gründen der Stadtplanung, wie es damals hieß. Und wieder gilt das Wort der Lesung heute: „Weinend kommen sie, tröstend geleite ich sie, sagt Gott.“ Denn bei allem Weinen, bei aller Trauer um die alte Christuskirche dürfen wir doch sagen, dass auch von der neuen Christuskirche wieder viel Trost ausgegangen ist und weiter ausgeht.



    Die Christuskirche in Rostock ist zum Symbol geworden für die Widerstandskraft der Christen in zwei atheistischen Diktaturen. Sie soll Symbol des Glaubens bleiben auch in den Anfechtungen unserer heutigen Gesellschaft.



    Den Glauben praktizieren während der glaubensfeindlichen Diktaturen – was für eine Herausforderung war das. Bei all den behördlichen Schikanen. Bei all den persönlichen Benachteiligungen. Dankbar denken wir an mutige Glaubensbrüder und Glaubensschwestern in der Zeit der Diktaturen.



    Jetzt haben sich die Zeiten geändert. Heute wird niemand mehr schikaniert, weil er zur Kirche geht. Heute wird niemand mehr benachteiligt, weil er sich öffentlich als Christ zu erkennen gibt.



    Aber auch die Freiheit ist eine große Herausforderung. Den atheistischen Gegner mit seiner unbegrenzten Macht im Staat gibt es nicht mehr. Aber es gibt als Gegner die Gleichgültigkeit, die Beliebigkeit, die Bequemlichkeit. Der Feind des Glaubens bedrängt uns nicht mehr von außen. Der Feind des Glaubens bedrängt uns jetzt von innen, er macht sich in uns selbst breit. Da kann ich nur mit dem damaligen Berliner Bischof rufen: Werft euch auch diesem Ansturm, auch dieser Versuchung entgegen.



    Denn auch heute gilt: „Weinend kommen sie und tröstend geleite ich sie, spricht Gott.“ Manches ist auch heute zum Weinen. Dass wir zu wenig Priester und Ordensleute haben, das ist zum Weinen. Dass viel zu viele hier in Mecklenburg zu Verlierern der Deutschen Einheit geworden sind, das ist zum Weinen. Aber je intensiver wir in der Feier der Sakramente, im aktiven Mitgestalten des Gemeindelebens, in täglichem Gebet unseren Glauben leben, desto mehr werden wir auch den Trost des Glaubens, die Lebensqualität des Glaubens erfahren.



    Die alte Christuskirche am Schröderplatz erlebte zwei Abschnitte: Die Zeit vor der Kriegszerstörung mit der nationalsozialistischen Diktatur und die Zeit nach dem Krieg unter der kommunistischen Diktatur bis zur willkürlichen glaubensfeindlichen Maßnahme der Sprengung der Kirche.



    Auch unsere neue Christuskirche hier hat die Zeit der kommunistischen Gewaltherrschaft durch große Glaubenstreue ihrer Mitglieder bewältigt. Jetzt geht es darum, die Chancen der Freiheit zu nutzen in der Gestaltung des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens. Auch wenn wir Grund zum Klagen haben, auch wenn wiederum gilt „Weinend kommen sie“, so gilt erst recht die Zusicherung Gottes: „Tröstend geleite ich sie.“



    So bleibt für uns als pilgerndes Gottesvolk auf dem Weg in die Zukunft unsere Christuskirche auch weiterhin ein Herzensanliegen. Amen.

  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am 25. Oktober 2009 aus Anlass des 50jährigen Priesterjubiläums von Domkapitular Wilm Sanders / Mariendom Hamburg / 21. 10. 2009
    Lieber Domkapitular Wilm Sanders,

    verehrte Angehörige, Freunde und Weggefährten/innen unseres Jubilars,

    liebe Festgemeinde,



    wenn ich in Rom zu tun habe, ist es mir immer ein besonderes Anliegen, die Kirche Santa Maria Maggiore zu besuchen. Denn das ist die große Schwester unseres Hamburger Mariendoms. Unser Mosaik hier mit der Krönung Mariens aus dem 20. Jahrhundert ist ganz deutlich dem Mosaik in Santa Maria Maggiore aus dem 13. Jahrhundert nachempfunden. Das römische Mosaik wurde 1295 vollendet, also genau siebenhundert Jahre vor der Wiedererrichtung unseres Erzbistums. Die beiden Kunstwerke sind eine anregende Verbindung zwischen Rom und Hamburg.



    Als ich vor zwei Wochen in Rom war wegen des Seligsprechungsverfahrens der Lübecker Märtyrer, traf ich in Santa Maria Maggiore Domkapitular Wilm Sanders. Er war gerade dabei, der mit ihm gereisten Pilgergruppe – mehrere davon sind ja jetzt auch hier – die Verbindung zwischen Rom und Hamburg anhand der Krönung Mariens zu erläutern. Da ging mir durch den Sinn, dass Monsignore Sanders selbst in seiner Person eine wichtige Verbindung ist.



    Eine Verbindung zwischen Hamburg und Rom. In Rom hat Msgr. Sanders studiert. In Rom ist er vor fünfzig Jahren zum Priester geweiht worden. Nach Rom hat er immer wieder auf Studienfahrten und Wallfahrten viele Menschen aus dem Norden geführt.



    Eine wichtige Verbindung schuf Msgr. Sanders auch während seiner Tätigkeit als Pfarrer, zuerst in St. Bonifatius in Kronshagen und später im Kleinen Michel in Hamburg. Ich meine die Verbindung zwischen den Ergebnissen des II. Vatikanischen Konzils und der Seelsorge in den Pfarreien. Fünf Jahre erst war das Konzil vorbei, als Msgr. Sanders Pfarrer wurde. Die Umsetzung der Konzilsergebnisse in die Pastoral der Gemeinde stand noch am Anfang. Mit großem Einsatz hat er seine Gemeinden auf den Weg des Konzils geführt.



    Eine neue zeitgemäße Verbindung stellte unser Jubilar her als er Senderbeauftragter beim Norddeutschen Rundfunk wurde. Die Verbindung von Kirche und Medien wurde für ihn ein wichtiges Anliegen. Ohne Berührungsängste und mit klarer Sprache machte er kirchliche Verkündigung in den Medien präsent.



    Dann die Verbindung von Theologie und Pastoral. Das wurde eine weitere wichtige Aufgabe, als er 1977 Dozent an unserer Katholischen Akademie wurde, eine Tätigkeit, die er auch heute noch ausübt. Unsere Katholische Akademie mit ihrem langjährigen Direktor Dr. Gorschenek und ihrem jetzigen Direktor Dr. Loos hat eine große Ausstrahlung in die Hamburger Gesellschaft hinein und weit darüber hinaus. Der Geistliche Rektor Wilm Sanders hat daran einen gewichtigen Anteil.



    Von seiner Akademietätigkeit aus entfalteten sich dann weitere Verbindungslinien in der Ökumene, sowohl zu den Kirchen der Reformation als auch der Orthodoxie. Als Ökumenebeauftragter des Erzbistums sowie im Vorstand und mehrmals auch als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen ist Msgr. Sanders ein verbindender Partner in der Ökumene.



    Ausgehend von der Gastfreundschaft Abrahams engagiert er sich auch in der Philo-xenia, einem Freundeskreis aus orthodoxen, katholischen und evangelischen Christen. In seinem Buch „Zur Wiederentdeckung von Epiphanie“ schreibt er dazu: „Jedes Mal, wenn wir Gastfreundschaft praktizieren, kann uns geschehen, was Abraham geschah: In den drei Männern, die er im Hain Mamre bewirtete, empfing er Gott selbst bei sich. (S. 117).“ Und dann führt er aus wie Gastfreundschaft eine wirkliche Begegnung mit Gott ermöglicht, und wie wichtig die Philoxenia, die Gastfreundschaft ist, als Gegengewicht gegen die Xenophobia, die Ausländerfeindlichkeit, die unser gesellschaftliches Miteinander so oft belastet und gefährdet.



    Sein Herz für das Miteinander derer, die an den Gott der Offenbarung glauben, schlägt aber noch weiter und tiefer bis zu den Wurzeln der Christenheit, bis zu den Juden. Dazu schreibt er als Vorstandsmitglied der Hamburger Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, wie sehr sich durch das II. Vatikanische Konzil das Verhältnis zwischen Christen und Juden verbessert hat und wie wir als Christen und Juden gemeinsam dem Herrn „Schulter an Schulter dienen (Zefanja 3,9)“, (Annäherungen, 50 Jahre christlich-jüdische Zusammenarbeit in Hamburg, 134).



    Wenn ich versuche, Ihnen das Verbindende in der Tätigkeit unseres Jubilars vor Augen zu stellen, dann muss ich auch die Aufgabe nennen, die ich ihm erst vor drei Jahren noch zusätzlich übertragen habe: Die Sorge für unsere kranken und pensionierten Priester. In seiner zugewandten und kommunikativen Art hat unser Domkapitular Wilm Sanders auch in dieser Aufgabe viel Gutes gewirkt.



    Liebe Schwestern und Brüder, Sie spüren, wie viele Verbindungslinien von Msgr. Sanders ausgehen. Verbindungslinien zu Ihnen, die Sie heute sein Jubiläum mit ihm feiern, Verbindungslinien in die Kirche, die Ökumene, das Judentum und in die Gesellschaft hinein.



    Aber der Inhalt dieser Verbindungen ist nicht er selbst. Inhalt dieser Verbindungen ist auch nicht ein kirchliches Programm oder kirchliche Wissenschaft oder kirchliche Politik. Inhalt all der Verbindungen, die Msgr. Sander aufgebaut hat, ist der lebendige Gott. Diesem danken wir, wenn wir uns das fünfzigjährige Wirken von Domkapitular Sanders vor Augen stellen. Gott danken wir, wenn wir seinem Diener Wilm Sanders heute gratulieren. Unsere Eucharistiefeier im Angesicht der Krönung Mariens hier in der Apsis unseres Mariendoms kann uns die Verbindung mit Rom und mit der Weltkirche heute, am Sonntag der Weltmission, und bei der Feier des Goldenen Priesterjubiläums von Domkapitular Sanders besonders bewusst machen. Amen.
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen anlässlich der Eröffnung der 6. Kirchengeschichtlichen Tagung des Erzbistums Hamburg / Schwerin / 21. 10. 2009
    Sehr geehrter Herr Minister Tesch,

    Lieber Mitbruder Weihbischof Norbert Werbs,

    Sehr geehrter Herr Dr. Diederich,

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    14 Jahre, das ist kein Alter! Ein 14-jähriger mag von sich denken, er sei der Nabel der Welt. Er wird sich eher eine blutige Nase holen, als dem Rat eines Älteren zu folgen. Denn in seinen Augen ist alles, was älter als 20 Jahre ist, „uncool“ und aus der Zeit. Nur in Einzelfällen wird sich ein 14-jähriger für die Geschichte interessieren, denn seine ganze Aufmerksamkeit gilt der Zukunft. Diese scheint ihm aber wie das verheißene Land offen zu stehen.

    14 Jahre – so alt ist unser Erzbistum Hamburg. Nun möchte ich unser Erzbistum nicht mit einem Teenager vergleichen, dem alles daran gelegen ist, sich von allem Alten und Traditionellen abzugrenzen. Dem katholischen Glauben ist ein solches Streben fremd. Dennoch macht sich das junge „Alter“ des Erzbistums Hamburg an vielen Stellen bemerkbar.

    Unser junges Alter wird zum Beispiel dadurch deutlich, dass uns hier im Norden 300 Jahre katholische Kirchengeschichte unglaublich viel vorkommen. „300 Jahre katholische Gemeinden in Mecklenburg – ein Grund zur Freude, ein Grund auch zum Innehalten und Besinnen“ – so heißt es im Geleitwort zu dem Ihnen vorliegenden Programm dieser 6. Kirchengeschichtstagung. In der Geschichte anderer deutscher Bistümer ist eine Zeitspanne von 300 Jahren eher klein.

    Dem einen oder anderen mag durch den Kopf gehen, dass die Gründung des Erzbistums Hamburg sozusagen der Abschluss eines drei Jahrhunderte langen Entwicklungsprozesses ist. Die Gründung des Erzbistums im Jahre 1995 war sicherlich durch die Geschehnisse der Zeit geboten und ohne Zweifel ein segensreicher Moment in der Geschichte unserer Kirche. Dennoch sind wir bescheiden genug, um mit einem Blick auf die Herausforderungen der Zukunft – ich nenne nur das Stichwort „pastorale Räume“ – das Unfertige und Unvollkommene nicht zu übersehen.

    Sie werfen in den kommenden Tagen weniger einen Blick in die Zukunft, als vielmehr in die Vergangenheit. Anlässlich der vielen mecklenburgischen Gemeindejubiläen in diesem Jahr – z.B. 100 Jahre katholische Kirche in Rostock, 200 Jahre katholische Kirche in Ludwigslust, 300 Jahre Pfarrei St. Anna in Schwerin – geht es Ihnen dieses Mal um die Rolle und die Bedeutung der mecklenburgischen Gemeinden in 300 Jahren Diaspora des Nordens. Dabei wagen Sie auch einen „Blick über den Tellerrand“ – nicht nur auf das Erzbistum im Ganzen, sondern auch auf die vielen nationalen und internationalen Verflechtungen. Auf diese Verflechtungen war das katholische Glaubensleben in der Diaspora schon immer angewiesen. Gleichzeitig können wir aber auch stolz darauf sein. Daran hat sich auch heute nichts geändert.

    Gerade in dem jungen Alter, in dem sich das Erzbistum Hamburg derzeit befindet, ist die historische Vergewisserung wichtig. Der Blick in die Vergangenheit hat nicht nur historischen Wert, sondern stärkt uns auf unserem Weg in der Gegenwart und in die Zukunft.

    Es freut mich sehr, dass Ihre Tagung auf ein so großes gesellschaftspolitisches Echo trifft. Ich bin Ihnen, Herr Minister Tesch dankbar, dass Sie mit Ihrer Gegenwart und Ihrem Grußwort das kirchliche Engagement würdigen. Dankbar bin ich aber auch dem Heinrich-Theissing-Insitut und dem Thomas-Morus-Bildungswerk, die unter der Leitung von Herrn Dr. Georg Diederich, diese Konferenz so gut vorbereitet haben.

    Für den Verlauf Ihrer Tagung wünsche ich Ihnen in allem wissenschaftlichen und persönlichen Austausch Gottes Segen.
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen beim Medienempfang des Erzbistums Hamburg am 9. September 2009 / Hamburg / 21. 10. 2009
    Sehr geehrte Damen und Herren aus der Medienbranche,



    lieber Herr Kalbhenn und lieber Bruder Paulus!



    Herzlich begrüße ich Sie zu unserem diesjährigen Empfang aus Anlass des Sonntags der sozialen Kommunikationsmittel, des Mediensonntags, den wir am 13. September feiern werden.



    Im vergangenen Jahr ergab es sich, dass wir diesen Empfang in der damaligen Baustelle des St. Marien-Doms beginnen konnten. Ich habe Ihnen unseren Dom vorgestellt. Am 23. November 2008 durfte ich ihn neu weihen. Das damalige Medienecho war groß. Viele Menschen besuchen seither unseren neuen Dom. Die Freude über die gelungene Renovierung hält weiter an.



    Seit dem letzten Jahr haben sich einige Themen rund um die katholische Kirche in die mediale Öffentlichkeit gedrängt. Ein besonders bedeutsames Ereignis für mich persönlich war die Vollversammlung der deutschen Bischöfe bei uns hier in Hamburg. Dass unser junges Erzbistum im März Gastgeber für die 68 Bischöfe sein durfte, hat mich sehr gefreut. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie diese für uns wichtige Veranstaltung mit Ihren Berichten und Kommentaren begleitet haben.



    Im Rahmen der Versammlung haben wir Bischöfe einmütig die „Hamburger Erklärung“ zum Umgang mit der Pius-Bruderschaft verabschiedet. Auch im Nachhinein deute ich dies als ein wichtiges Signal.



    Mein jüngster Termin gemeinsam mit den Medien – und ganz anderer Natur als die Bischofskonferenz – war ein Ausflug nach Hamburg-Neuenfelde ins dortige Obstverteilungszentrum. Dort habe ich Bekanntschaft mit 10.000 Äpfeln gemacht. Diese Äpfel – eine Spende der Obstbauern aus dem Alten Land – werden bei der diesjährigen Nacht der Kirchen am 19. September an die vielen Besucherinnen und Besucher verteilt.



    Mittlerweile ist es fast schon zu einer guten Tradition geworden, dass sich die Hamburger Kirchen in einer Nacht im September der Öffentlichkeit einmal auf ganz andere Art und Weise präsentieren. Ein Blick ins Programm der Nacht der Kirchen genügt: Die Nacht bringt die Vielfalt der kirchlichen Arbeit deutlich zum Ausdruck: Gemeinschaft und Gebet, Musik und Mystik, Gastfreundschaft und Gottesdienst. Viele Menschen suchen heutzutage den niederschwelligen Kontakt mit Kirche und Glauben. Die Nacht der Kirchen ist eine gute Möglichkeit dafür.



    Auf seine Art bietet auch ein Weiterer den niederschwelligen und immer wieder neu an den Bedürfnissen unserer Zeitgenossen ausgerichteten Kontakt zur Kirche an. Ich spreche von dem Kapuzinerpater Bruder Paulus, der heute unter uns ist. Bruder Paulus ist in der kirchlichen Medienarbeit fast schon ein Markenprodukt. Es begann bei ihm mit den biblischen Kommentaren zu der täglichen BILD-Schlagzeile. Es folgten eigene Sendungen im Fernsehen und eine intensive Nutzung und Präsenz im Internet, mit eigener Seite und vielen Projekten.



    Bruder Paulus, Sie werden heute mit Herrn Kalbhenn ins Gespräch kommen. Herr Kalbhenn, Sie sind uns ein vertrauter Gesprächspartner beim NDR-Hörfunk. Sie begleiten mit der NDR-Kirchenredaktion, die ich einfachheithalber mal so zusammenfasse, all unsere Verkündigungssendungen in allen NDR-Sendern und seit einigen Monaten auch in der NDR-Mediathek. Ich danke Ihnen für die gute und konstruktive Zusammenarbeit.



    Doch ich möchte meine Begrüßungsworte nicht allzu sehr ausdehnen, sondern bin genauso wie Sie auf das Gespräch zwischen diesen beiden Experten in Sachen Medienarbeit gespannt. Uns allen wünsche ich einen schönen Abend.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am Pfingstsonntag, 31. Mai 2009 / Mariendom Hamburg / 29. 05. 2009
    (1.Lesung: Apg 2,1-11;

    2. Lesung: 1 Kor 12,3b-7.12-13;

    Evangelium Joh 15,26-27, 16,12-15)



    Geistesgegenwärtig sein



    Liebe Schwestern und Brüder,



    in der Zeitung lese ich folgende Notiz. Weil der Fahrer des Kleinwagens das Steuer geistesgegenwärtig herumreißt, kommen alle mit dem Schrecken davon.



    Geistesgegenwärtig – das bedeutet: präsent sein, reaktionsschnell sein, situationsgerecht handeln. Geistesgegenwärtig – das ist ein wichtiges Wort für uns Christen. Denn wir wollen präsent sein, also uns einbringen in die Fragen und Probleme unserer Zeit. Und reaktionsschnell sein, also nicht lange abwarten, sondern tun, was dran ist. Und situationsgerecht handeln, also nicht irgendwelchen Wunschträumen nachhängen, sondern die Situation annehmen, wie sie nun einmal ist.



    Geistesgegenwärtig sind wir Christen aber vor allem deshalb, weil Gottes Geist Gegenwart ist. Weil Gottes Geist in uns lebendig ist seit der Taufe. Weil Gottes Geist uns an diesem Pfingstfest wieder neu in die Spur Jesu bringen will.



    Sind wir so geistesgegenwärtig? Ist uns bewusst, dass Gottes Geist in uns wirkt? Sind wir genügend bei uns selbst, um Gottes Geist in uns wahrzunehmen? Oder sind wir wie Geisterfahrer, die nur ihren eigenen falschen Vorstellungen folgen.



    Um geistesgegenwärtig zu sein, brauchen wir Inspiration. Inspiration bedeutet Eingebung, Erleuchtung. Bei Künstlern sprechen wir von Inspiration. Oder bei Dichtern und Musikern. Aber ursprünglich bedeutet Inspiration Einhauchung, Eingebung des Geistes Gottes. Inspiration gilt also für alle Getauften. Wir alle können uns an diesem Pfingstfest wieder neu inspirieren, begeistern und erleuchten lassen vom Geiste Gottes.



    Denn Pfingsten sagt uns: Was uns die Bibel erzählt, betrifft unsere Gegenwart. Weil Gottes Geist Gegenwart ist. Pfingsten lenkt unseren Blick auf das „Jetzt“ Gottes, auf die Gegenwart Gottes.



    In der Lesung aus dem ersten Korintherbrief heute heißt es: „Es gibt verschiedene Gnadengaben.“ Also will ich mich jetzt fragen: Welche Gnadengabe, welche Begabung hast du mir gegeben, Gott? Und habe ich diese Begabung schon voll aktiviert? Oder liegt noch manches brach?



    In der gegenwärtigen Situation der Kirche ist diese Frage von höchster Aktualität. Wir spüren alle, dass wir in unserer Zeit nur Kirche sein können, wenn alle ihre Gnadengaben einsetzen. Alle, nicht nur Bischöfe, Priester und Diakone. Alle, nicht nur die Hauptamtlichen im kirchlichen Dienst. Alle, nicht nur die gewählten Mitglieder in den Gremien. Wir alle sollen und können geistesgegenwärtig handeln. Also in der Gegenwart des Heiligen Geistes leben.



    Wir stehen als Kirche in unserer Zeit oft im Gegenwind der Meinungen. Ich denke an die Parolen auf Bussen in England, wo es heißt: „Wahrscheinlich gibt es keinen Gott, entspannt euch und genießt das Leben.“ Oder wenn jemand hier um den Mariendom auf Plakatsäulen schreibt: „Die Bibel ist ein Märchenbuch.“ Zum geistesgegenwärtigen Umgang mit solchen Anfragen gehört, dass wir die Gaben, die Gott uns gegeben hat, auch wirklich einsetzen.



    Weiter heißt es in der Lesung heute: „Jedem wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt.“ Also gerade nicht: Was habe ich davon? Nicht: Wie kann ich mich durchsetzen? Sondern: Was nützt den anderen? Was kann ich für die anderen tun? In der Familie? In der Nachbarschaft? Im Betrieb? In der Gemeinde?



    Weil Pfingsten das „Jetzt“ Gottes ist, kann jetzt auch etwas mit uns geschehen. Dann brauchen wir nicht vergangenen Zeiten nachzutrauern, wo es die Christen vielleicht leichter hatten. Dann brauchen wir nicht eine Zukunft erträumen, von der wir nicht wissen können, ob sie jemals eintrifft. Weil Pfingsten das „Jetzt“ Gottes ist, können wir geistesgegenwärtig das tun, was uns jetzt möglich ist. Und wir können froh und dankbar unseren Weg als Christen gehen. Denn auch für uns gilt das, was in der Lesung von den Juden und Griechen, von den Sklaven und Freien heute gesagt wird: „Wir alle werden mit dem einen Geist getränkt.“ Wir können also geistesgegenwärtig handeln. Dann kommen wir nicht nur mit dem Schrecken davon wie bei dem Fahrer des Kleinwagens. Dann kommen wir zur Fülle des Lebens. Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum 80. Geburtstag von Dompropst emeritus Dr. Alois Jansen am 11. Mai 2009 / Mariendom Hamburg / 11. 05. 2009
    Verehrte, liebe Angehörige unseres emeritierten Dompropstes Dr. Alois Jansen, Schwester, Schwager, Schwägerin, Nichten und Neffen, Großnichten und Großneffen, Frau Hillmann, die durch Jahrzehnte so treu für den Haushalt sorgt, liebe Mitbrüder im diakonalen, priesterlichen und bischöflichen Dienst, Weggefährten, Freunde, Bekannte, ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Festgemeinde,



    wenn später einmal die Geschichte der Wiedergründung unseres Erzbistums Hamburg geschrieben wird, dann wird neben unserem Gründerbischof, Erzbischof Ludwig, sowie den Mitgliedern des ersten Domkapitels auch besonders von dessen Präpositus, vom Vorgesetzten, vom Leiter dieses Domkapitels die Rede sein, von Dompropst Dr. Alois Jansen.



    Neben den vielen Verdiensten, die unser emeritierter Dompropst für die erste Phase unseres Erzbistums bis heute hat, wird man eines besonders hervorheben: Der erste Dompropst des wiedererrichteten Erzbistums Hamburg hatte die besondere Eigenschaft, verbindend und verbindlich zu sein.



    Verbindend und verbindlich – diese Begabung zeigte sich nicht erst als Dompropst in Hamburg. Weil er verbindend und verbindlich ist, war er die meiste Zeit seiner Tätigkeit als Pfarrer auch zugleich Dechant. Weil er verbindend und verbindlich ist, war er während seiner langen Mitgliedschaft im Priesterrat oft auch dessen Sprecher. Weil er verbindend und verbindlich ist, ist und bleibt er für die Gründungs-phase unseres Erzbistums ein großer Segen.



    Denn ein neues Bistum fällt ja nicht einfach vom Himmel. Da gibt es in Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Hamburg ganz unterschiedliche pastorale Vorraussetzungen, unterschiedliche Traditionen, unterschiedliche Chancen. Das alles zu berücksichtigen und zur Geltung zu bringen, erfordert ein verbindendes und verbindliches Miteinander. Mit seinem brüderlichen Umgangsstil, mit seiner pastoralen Erfahrung und auch mit seinem Humor hat unser emeritierter Dompropst sehr viel zu einem guten Miteinander im Erzbistum beigetragen.



    Verbindend und verbindlich ist Alois Jansen aber nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich. Verbindend und verbindlich ist er auch in der Verkündigung des Wortes Gottes. Auch als Leiter unserer Pastoralen Dienststelle und als Dompropst und als Diözesanadministrator ist er immer Pastor geblieben. Ein Hirte also, dem alles daran liegt, den Tisch des Wortes reichlich zu decken. Im Hebräerbrief, über den Alois Jansen in Rom vor zweiundfünfzig Jahren promoviert hat, heißt es: Lebendig und kraftvoll ist Gottes Wort. Diese Kraft und Lebendigkeit des Wortes Gottes weiß er zu vermitteln.



    Deshalb habe ich mich auch gefreut, dass das Pastoralblatt unseren emeritierten Dompropst aufgefordert hat, das geistliche Wort am Beginn des jeweiligen Heftes zu schreiben. Er steht mit dieser Aufgabe in einer Reihe mit bekannten geistlichen Schriftstellern.



    In einem Beitrag fragt Alois Jansen: Kann es uns gelingen, unser Leben und all das, was tagtäglich geschieht, von Gott her zu deuten? Und dann kommt er in diesem Artikel auf seine Mutter zu sprechen. Von der Mutter her ist ihm ein Wort in Erinnerung geblieben, von dem er sagt, dass ihn dieses Wort sein ganzes Leben begleitet hat. Das Wort lautet: In der Gegenwart Gottes leben.



    In der Gegenwart Gottes leben. In diesem Wort sammelt sich eine ganze Geschichte der Spiritualität. Etwa wenn es beim Heiligen Augustinus in den Confessiones heißt: „Wir sehen die Dinge, weil sie sind; aber die Dinge sind, weil Gott sie sieht.“ Darin steckt ja der Gedanke, dass alles Wirkliche mit der Gegenwart Gottes zu tun hat. Dass alles Wirkliche nur ist, weil Gott ist. Und wie bereichernd es ist, in dieser Wirklichkeit zu leben.



    In der Gegenwart Gottes leben – dazu sagt der Heilige Bonaventura, dass Freude des Geistes und der Seele das größte Zeichen dafür ist, dass jemand in der Gegenwart Gottes lebt.



    Diese Gegenwart Gottes ist nie abgeschlossen, nie auf Erden vollständig. Deshalb formuliert Johannes Tauler, einer der großen spätmittelalterlichen Mystiker: „Herr Jesus Christus, du weißt, ich suche nichts als dich.“



    Dieses Leben in der Gegenwart Gottes hat nicht nur eine kontemplative, sondern auch eine aktive Seite. Etwa wenn die Heilige Birgitta von Schweden, die wir hier im Norden ja besonders verehren und deren Namen der langjährige Dienstsitz des Dompropstes trägt, den Satz prägt: „Ich bin wie ein Läufer, der den Brief seines Herrn trägt.“ Dass dieser Brief Christi bei den Menschen ankommen kann, bei jedem einzelnen Menschen, bei jeder Gemeinde, in unserem ganzen Erzbistum, das gehört für Alois Jansen mit dazu, wenn es darum geht, in der Gegenwart Gottes zu leben.



    Und dass er, wie der Apostel Paulus sagt, selbst zu einem Brief Christi wurde, an dem man etwas ablesen kann von der Menschenfreundlichkeit Gottes.



    Seine Menschenfreundlichkeit und Verbindlichkeit hat auch manche Anekdoten hervorgebracht. Etwa die, dass die wichtigeren Entscheidungen, die er zu treffen hatte, beim Italiener auf der Langen Reihe bei einem Cappuccino oder einem Espresso verhandelt wurden.



    Keine Anekdote ist, dass er angedroht hat, er werde sich in Sögel begraben lassen, wenn nicht am Mariendom bald auch ein Friedhof für die Domherren angelegt werde. Jetzt ist der Friedhof da, aber es musste noch niemand dort begraben werden. Gebe Gott, dass es noch einige Zeit so bleibt.



    Verbindend und verbindlich in der Gegenwart Gottes leben, das kann eine Überschrift über Leben und Wirken unseres emeritierten Dompropstes Dr. Alois Jansen sein. Verbindend und verbindlich in der Gegenwart Gottes leben: Für diesen Dienst danken wir mit ihm in dieser Feier dem lebendigen Gott. Amen.
  • Kurzansprache auf dem Lübecker Kreuzweg am Karfreitag, 10.04.2009 / Lübeck / 09. 04. 2009
    Die Frage an die Juden damals: Was soll mit Jesus geschehen? Sie schrien: Ans Kreuz mit ihm.



    Die Frage an uns heute: Was soll mit den Menschen in Afrika geschehen? – Nein, wir schreien nicht. Wir rufen nicht, sie sollen sterben. Wir sagen nicht, das ist uns egal.



    Aber wir verhalten uns so. Wenn wir nicht teilen. Alle sechs Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind vor Hunger. Die meisten in Afrika.



    Dieses Unrecht schreit zum Himmel. Jesus sagt: Was ihr meinen geringsten Brü-dern nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Jesus identifiziert sich mit den Armen. Ihr Kreuz ist sein Kreuz.



    Über unsere kirchlichen Hilfswerke haben wir direkte Verbindung zu den Armen in aller Welt. Wir können wirksam helfen. Wir müssen helfen. Dann können Recht und Gerechtigkeit sich ausbreiten. Wenn wir unser eigenes Habenwollen zügeln. Wenn wir mit den Armen teilen. Dann wird uns und ihnen dieser Kreuzweg zum Heil.
  • Predigt in der Osternacht 2009 im Mariendom zu Hamburg / Hamburg / 09. 04. 2009
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    Dunkelheit und Licht, Feuer und Wasser, Tod und Leben – die gegensätzlichen Zeichen und Worte der Osternacht deuten die Gegensätzlichkeiten in meinem Leben.



    Dunkelheit - wer kennt das nicht! Die Dunkelheit von Leid und Schuld. Feuer- wer kennt das nicht! All das Brennende an Sehnsucht und Verlangen. Tod- wer kennt das nicht! Das vielfach Todbringende in unserer Welt: Der Amoklauf des Schülers, Naturkatastrophen wie gerade in Italien, Tod durch Unfriede und Gewalt: Lauter Signale für meine eigene Sterblichkeit.



    Mir fällt auf, dass sich in jüngster Zeit die Umfragen zu Sterben und Tod häufen. Zwei Drittel, so heißt es im Religionsmonitor der Bertelsmann- Stiftung, glauben an ein Leben nach dem Tod. Wer an ein Leben nach dem Tod glaubt, lebt anders vor dem Tod.



    In der Osternacht prallen Tod und Leben aufeinander. „Tod und Leben, die kämpften unbegreiflichen Zweikampf“ heißt es in einer 1000 Jahre alten Ostersequenz aus Burgund. Dieser Zweikampf zwischen Tod und Leben spielt sich in jedem einzelnen Menschen ab. Was mein Leben ist, erfahre ich am tiefsten, wenn ich nach meinem Sterben frage.



    Christen glauben nicht an die Unsterblichkeit des Menschen. Christen glauben an die Auferstehung. Der Tod ist Realität. Wenn ich sterbe, bleibt nichts mehr an mir lebendig. Ich werde mir selbst entzogen. Ich gebe mich völlig aus der Hand. Aber ich gebe mich in die Hand eines anderen. Ich lasse mich fallen in die Hände Gottes. Sowie Jesus am Kreuz: „Vater, in Deine Hände.“ Das schließt Todesangst und Ohnmachtsgefühle nicht aus. Der Tod ist schrecklich. Ich bin ja völlig preisgegeben. Aber ich lasse mich fallen, in die Hände Gottes. Dann falle ich nicht ins Leere.



    Dieses sich fallen lassen, sich selbst loslassen, dass will uns die Osternacht nahe bringen. Das hilft nicht nur zum Sterben. Das hilft zum Leben. Statt das eigene Ich festzuhalten, sich dem Du zuwenden. Statt des ewigen „was habe ich davon“ die Frage „was tut Dir gut“? Statt des gierigen Zusammenraffens das freigebige Teilen. Im gierigen Zusammenraffen sperrt der Mensch sich selbst ein. Das ist tödlich. Für den Einzelnen, für die Gesellschaft, für die Wirtschaft. Im Teilen und Mitteilen befreie ich mich aus diesen Zwängen.



    Die Osternacht mit den Gegensätzen von Dunkelheit und Licht, Feuer und Wasser, Tod und Leben nimmt die ganze Wirklichkeit des Menschen in den Blick: Das Dunkle und das Helle in meinem Leben, das Brennende und das Kühlende, das Ende und den Anfang. Und tief drinnen im Menschen, im Kern der Existenz, in der Tiefe unseres Wesens gibt es einen Punkt, wo die Gegensätze versöhnt sind, verbunden, integriert, befriedet sind. Die Erfahrung dieses Kristallisationspunktes vermittelt der lebendige Umgang mit dem gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus.



    Das meint die Osterbotschaft, wenn sie verkündet: Der Gekreuzigte ist auferstanden. Im Tod ist Leben.



    Amen
  • Predigt zur Diakonenweihe am 28.03.2009 im Mariendom zu Hamburg / Hamburg / 31. 03. 2009
    Lieber Kandidat für die Weihe zum Diakon,

    verehrte, liebe Angehörige und Freunde von Herrn Klentze,

    liebe Mitbrüder, liebe Gemeinde,



    unter den Erzählungen der Bibel ist die, die wir gerade gehört haben, eine der bekanntesten. Der verlorene Sohn. Der gute Vater.



    Vielleicht haben Sie bereits bei den ersten Sätzen des Evangeliums gedacht: Das kenne ich, das ist nichts Neues.



    Wäre diese Erzählung nur Information, reichte es, dass wir sie kennen. Aber sie ist neben Information vor allem Animation. Das heißt, sie kann unsere Seele bewegen. Unser Innerstes in Bewegung bringen. Denn das, was sich im biblischen Text zwischen Vater uns Sohn abspielt, das spielt sich zwischen Gott und Mensch ab. Ich bin sicher, dass manche von Ihnen das schon selbst erfahren haben. Oder auch noch erfahren werden.



    Und Herr Klentze hat das offenbar auch erfahren. Deshalb hat er wohl das Evangelium für diesen Tag ausgewählt. Diese Erfahrung: Gott wartet auf mich wie der Vater auf den Sohn.



    „Der Vater sah ihn schon von Weitem kommen“, heißt es im biblischen Text. Ja, aus der jetzigen Perspektive kann man sagen: Gott hatte Herrn Klentze schon im Blick, als er als Student neugierig wurde, wissbegierig auf Glaube und Kirche. Da traf wohl zu, was der Heilige Augustinus für sich in die Worte fasste: „Es zog von Weitem dein treues Erbarmen seine Kreise über mir.“ Auch als Herr Klentze wissen wollte, was denn wohl eine katholische Hochschulgemeinde ist. Und als er dort dann selbst katholisch wurde. Und als er dann bei Pfarrer Thim in Niendorf und Pater Hermann Josef in Altona Gemeindeleben kennenlernt. Und später dann während des Theologiestudiums in Münster das Mitleben im Pfarrhaus in Wolbeck bei Pfarrer Kleymann und Albachten bei Pfarrer Frings. Ich nenne die Namen, weil diese sich mit unserem Wehekandidaten verbunden fühlen. Und eigentlich müsste ich alle Namen derer nenne, die jetzt hier sind. Denn fast alle, die an dieser Feier teilnehmen, stehen ja in irgendeiner Beziehung zu Herrn Klentze. Das gibt dieser Feier die dichte Atmosphäre.



    Nun gibt es da im Evangelium auch noch den anderen Sohn. Der empört ist darüber, dass der Vater den Sohn, der ja praktisch ein Spätheimkehrer ist, so herzlich und liebevoll aufnimmt.



    Ob hier unter uns auch jemand empört ist oder befremdet oder irritiert, durch die Tatsache, dass Herr Klentze zum Diakon geweiht wird? Oder sich infrage gestellt fühlt? Kein Mensch kommt an der Frage vorbei: Wie stehe ich zu Gott? Hat Gott einen Platz in meinem Leben? Was will Gott von mir? Diese Feier jetzt ist eine gute Möglichkeit, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Eine persönliche Antwort. Eine Antwort, die der eigenen Glaubens- und Lebenssituation entspricht. Dafür ist ja in dieser ausgiebigen Feier genügend Zeit.



    Alles hat seine Zeit, heißt es heute in der ersten Lesung aus dem Buch Kohelet. Alles hat seine Zeit. Das lässt sich auch von den bisherigen Stationen in der Biographie von Herrn Klentze sagen: Alles hat seine Zeit. Die Schulzeit am Chiemsee. Das angefangene und wieder verworfene Jurastudium in Passau. Dann das Studium der Klassischen Archäologie in München mit dem Abschluss in Hamburg. Zeit des tastenden Suchens nach Sinn. Zeit des tastenden Suchens nach Gott. Alles hat seine Zeit. Zeit des Suchens und Findens. Zeit des Hörens und Antwortens. Und das wird so bleiben. Weil es zum Menschen gehört. Und durch unser Suchen und Finden, durch unser Hören und Antworten werden wir immer mehr hineingezogen in das, was die tiefste Aussage im Buch Kohelet ist: Alles hat seine Zeit, aber in allem liegt auch ein Stück Ewigkeit, etwas, das bleibt.



    Wer sein Leben so sehen kann, dass Zeit und Ewigkeit zusammengehören, der wird sich gern das zusprechen lassen, was Paulus uns in der zweiten Lesung heute zuruft: Freut euch, betet, dankt, löscht den Geist nicht aus, prüft alles, das Gute behaltet.



    Vieles in unserer Welt ist freudlos. Vieles in unserer Welt ist geistlos. Aber die Ausrichtung des Menschen auf Gott gibt eine Lebensperspektive, eine Lebensqualität, die durch nichts anderes zu ersetzen ist.



    Das feiern wir jetzt in der Diakonenweihe. Das feiern wir für Herrn Klentze. Das feiern wir für jeden hier im Mareindom auf je eigene Weise.

  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen anlässlich der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit 2009 in Hamburg am 28. Februar 2009 / Hamburg / 02. 03. 2009
    „Jüdischer Friedhof// Die Grabsteine/ Auf der Erde/ Zerbrochenes Hoffen.// Die Kiesel/ Auf den Grabsteinen/ Bezeugen Hoffnung.“ In diesen knappen Worten beschreibt der Dichter Matthias Hermann die Stille auf einem jüdischen Friedhof. Er läßt die Hoffnung zu Wort kommen, die Grab und Tod übersteigt. Diesem Gedicht geht jedoch ein anderes unmittelbar voraus. „Geschändeter jüdischer Friedhof// Die Kiesel/Auf den Grabsteinen/Bezeugen Hoffnung.// Die Grabsteine/ Auf der Erde/Zerbrochenes Hoffen.“ (Beide Gedichte in: Matthias Hermann 2002: Der gebeugte Klang, Tübingen, S. 70)



    In diesen beiden kurzen Gedichten reißt die ganze Spannung auf, vor deren Hintergrund wir Juden und Christen in Deutschland und in Europa leben. Es ist diese Spannung, welche die Woche der Brüderlichkeit so notwendig macht. Es ist die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben, das nicht durch todbringende Gedanken und Taten angegriffen wird. Es ist die Hoffnung nach Frieden, die sich sehnlichst wünscht, nicht enttäuscht zu werden. Eine Hoffnung, die all ihr Hoffen und Zweifeln, ihr Harren und Zagen letztlich auf Gott selbst zurückwirft.



    Die Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja, die wir in wenigen Augenblicken hören werden, breitet dieses Hoffnungsbild ebenfalls vor uns aus: „Friede, Friede den Fernen und den Nahen, spricht der Herr, ich werde sie heilen.“ (Jes. 57,19).

    Nun werden viele Menschen in der letzten Zeit den Eindruck gewonnen haben, daß dieses Bild der Hoffnung bislang nicht eingetreten ist. Es könnte sogar der Eindruck entstanden sein, daß zu den alten Wunden immer neue Verletzungen hinzukommen: umgestürzte Grabsteine, gefährliche Lügen, schmerzliche Geschichtsvergessenheit. Die Hoffnung, welche mit der Woche der Brüderlichkeit verbunden ist, bedarf immer wieder der Erneuerung.



    Als Vertreter der katholischen Kirche stehe ich heute mit einer großen Unruhe vor Ihnen. Unruhe, weil ich um mich herum eine Besorgnis deutlich wahrnehme. Diese fragt: „Wie hält es die katholische Kirche denn mit der jüdisch-christlichen Geschwisterlichkeit? Hält die Kirche an der gemeinsamen Hoffnung fest?“

    Die Äußerungen eines Bischofs der Pius-Bruderschaft im zeitlichen Zusammenhang mit der Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen hat für mehr als Irritationen gesorgt: Von meinen jüdischen Schwestern und Brüdern, aber auch von vielen Christen, nehme ich Reaktionen wahr zwischen Enttäuschung, Besorgnis und Entsetzen. Deshalb ist es mir wichtig, in aller Deutlichkeit festzustellen: Die Kirche hält an der gemeinsamen Hoffnung fest. Ohne die gemeinsame Hoffnung kann Kirche nicht sein. In der Erklärung des 2. Vatikanischen Konzils Nostra Aetate wird der Weg dieser Hoffnung konkretisiert: „Da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist.“ (NA 4)



    Mit dem Blick auf das, was die gemeinsame Hoffnung unterminiert, fand vor wenigen Tagen Papst Benedikt XVI. in einer Ansprache vor Vertretern jüdischer Organisationen aus den USA deutliche Worte: „Der Hass und die Verachtung gegenüber Männern, Frauen und Kindern, die während der Shoah Gestalt annahmen, waren ein Verbrechen gegen Gott und die Menschheit. Dies muss jedem klar sein, vor allem jenen, die in der Tradition der Heiligen Schrift stehen. Dort ist zu lesen, daß jeder Mensch nach dem Abbild Gottes erschaffen ist. Es ist fraglos, dass eine Leugnung oder ein Kleinreden dieses schrecklichen Verbrechens nicht toleriert werden kann und in jeder Hinsicht inakzeptabel ist.“

    (“The hatred and contempt for men, women and children that was manifested in the Shoah was a crime against God and against humanity. This should be clear to everyone, especially to those standing in the tradition of the Holy Scriptures, according to which every human being is created in the image and likeness of God (Gen 1:26-27). It is beyond question that any denial or minimization of this terrible crime is intolerable and altogether unacceptable.“

    Address of His Holiness Benedict XVI to Members of the Delegation of the “Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations” am 12. Februar 2009.)



    Ich füge hinzu: Das Gift des Antisemitismus hat in der Kirche keinen Platz. Dies gilt für alle Formen des Antisemitismus, seien sie offen oder versteckt, subtil oder gewalttätig. Antisemitismus kommt einer Verhöhnung der gemeinsamen jüdisch-christlichen Hoffnung gleich. Er betrifft nicht ausschließlich unsere jüdischen Brüder und Schwestern. Antisemitismus legt auch die Axt an die Wurzel des christlichen Glaubens.



    Christen, welche Juden missachten, missachten sich selbst. Denn sie missachten ihre eigenen Wurzeln.



    Wir sehen jedem Antisemitismus unsere Hoffnung entgegen, so wie es der Psalmist in Psalm 62,6 ausdrückt: „Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe; denn von ihm kommt meine Hoffnung.“ Es bleibt unser aller Auftrag, diese gemeinsame Hoffnung weiter unter uns wachsen zu lassen: im Studium und im Gespräch, aber auch im Gebet miteinander und füreinander. Unter uns wollen wir Frieden schaffen im Vertrauen darauf, dass Gott diesen Frieden dereinst vollenden werde. Mit dieser Hoffnung auf Frieden tragen Juden und Christen gemeinsam Verantwortung für unsere Gesellschaft. Wir laden alle Menschen guten Willens dazu ein, an dieser Hoffnung und an diesem Frieden mitzuarbeiten. Die Hoffnung auf Frieden vereint uns hier und jetzt im gemeinsamen Gebet.
  • Fastenhirtenbrief von Erzbischof Werner zur österlichen Bußzeit 2009 / Hamburg / 25. 02. 2009
    Wir als Kirche im Norden





    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg,



    vom kommenden Montag, 2. März, bis zum Donnerstag findet in Hamburg die Deutsche Bischofskonferenz statt. Es ist das erste Mal, dass sich die Bischöfe aus allen siebenundzwanzig deutschen Diözesen in unserem Erzbistum versammeln.



    Die Bischofskonferenz in Hamburg ist ein guter Anlass, uns Gedanken zu machen über uns als Kirche im Norden.



    1. Wir sind ein Kind der Deutschen Einheit



    Als Papst Johannes Paul II. mich vor sechs Jahren in den Norden sandte, da fragte mich einer: „Gibt es dort denn auch Katholiken?“



    Dass es im Norden katholische Christen gibt, war Jahrhunderte hindurch gar nicht so selbstverständlich. Im Zuge der Reformation legte man Wert auf geschlossene religiöse Gebiete. Sonst hielt man das friedliche Zusammenleben für gefährdet. Der Norden war seitdem evangelisch.



    Das änderte sich in den letzten zweihundert Jahren durch Handelsbeziehungen und Wanderbewegungen. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg kamen viele Katholiken in unser Gebiet. Einer, der gemeinsam mit mir zum Priester geweiht worden ist, landete als Zehnjähriger aus dem Ermland mit seinen Angehörigen in Schleswig-Holstein. Doch seine Großmutter drängte die Familie, weiterzuziehen bis nach Westfalen. Ihre Begründung: Sonst bleiben die Kinder nicht katholisch. So war das damals



    Erst nach und nach konnte sich katholisches Leben wieder im Norden entfalten. Dabei haben unsere drei Bistumsregionen Hamburg, Mecklenburg und Schleswig-Holstein jeweils ihre eigene wertvolle Geschichte, die bis heute das jeweilige Gebiet prägt.



    Dann kam die deutsche Wiedervereinigung. Als Folge davon entstand nach fünf Jahrhunderten wieder ein Nordbistum in Deutschland, unser Erzbistum Hamburg. Wir sind ein Kind der deutschen Einheit. Deshalb ist die Sorge um die Einheit von Ost und West für uns ein besonderes Anliegen.



    Unser Erzbistum ist jetzt vierzehn Jahre alt. Wer Erfahrung mit Menschen in dieser Alterstufe hat, der weiß, was da alles gärt und aufbricht. Das ist ein spannungsvoller Prozess. Er weiß aber auch, wie viele Chancen zur Entwicklung sich in diesem Alter auftun. Im Pastoralgespräch haben wir versucht, diese Chancen zu bündeln. Und jetzt stehen wir mitten im Umsetzungsprozess. Herzlich danke ich den Mitgliedern in unseren pastoralen Räten, in den Pfarreien, in den Regionalpastoralräten und auf Bistumsebene, die sich vor allem dieser Fragen annehmen. Zurzeit sind es besonders die Themen „Ehrenamt“, „Geistliche Vertiefung“ und „Medien“.



    Ebenso gilt mein Dank allen, die sich für ein gutes ökumenisches Miteinander einsetzen. Denn auch das bleibt ja ein Schwerpunkt aus dem Pastoralgespräch.



    2. Charakteristische Merkmale unseres Erzbistums



    „Jungsein ist kein Verdienst“, sagte früher einer meiner Lehrer, „und es ändert sich ständig.“ Aber wir sind ja auch nicht nur das jüngste Bistum in Deutschland, wir sind auch das größte.



    Aber nur der Fläche nach – werde ich dann oft verbessert. Ja, der Katholikenzahl nach gehören wir mit 396.000 Mitgliedern zu den kleineren Bistümern in Deutschland. Aber diese verteilen sich auf ein Gebiet, in dem man leicht drei andere Bistümer unterbringen könnte. Kirchwege von dreißig Kilometern sind bei uns keine Seltenheit. Und wer die auf sich nimmt, der weiß auch warum. Dass man dann nach dem Gottesdienst nicht sofort wieder auseinandergeht, sondern noch beim Kirchenkaffee zusammenbleibt, versteht sich von selbst.



    In Gesprächen höre ich immer wieder den Satz: Ich bin als einziger katholisch in meiner Klasse, in meiner Nachbarschaft, in meiner Firma.



    Manche sagen das stolz, manche verlegen, manche bedauernd. Aber alle wissen: Es ist niemand da, hinter dem ich mich verstecken kann. Entweder stehe ich ein für meinen Glauben, oder er kommt nicht vor. Katholisch sein in der Diaspora erfordert Stehvermögen, Zivilcourage und Selbstbewusstsein. Die kommen nicht aus Überheblichkeit. Unser Selbstbewusstsein wird gespeist aus Christusbewusstsein. Weil uns bewusst ist, dass wir unseren Lebensweg mit Jesus Christus gehen. Das verbindet uns mit unseren evangelischen und orthodoxen Mitchristen.



    „Schätzen Sie mal, wie viele Länder in unserer Gemeinde vertreten sind?“, werde ich gefragt. Die Zahl fünfzig ist keine Ausnahme. Und draußen um den Altar auf der Wiese sind alle fünfzig Nationalflaggen auf Schnüren aufgereiht.



    Wir erleben im Norden Weltkirche und stellen fest, wie bereichernd und herausfordernd das sein kann. Manche Sprachengruppen haben ihre eigenen Gemeinden. Dass diese ihr berechtigtes Eigenleben führen können und zugleich offen sind für das Ganze, bleibt eine wichtige Aufgabe.



    Ja und dann die Urlauber, die wir immer wieder gern bei uns begrüßen. Unsere Küsten an Nordsee und Ostsee, unsere Binnenseen und Flussläufe sind gefragte Feriengebiete. Unsere oft sehr kleinen Ortsgemeinden mühen sich dann redlich, gute Gastgeber zu sein. Dankbar vermerken wir, dass zu den Gästen auch oft Urlaubspriester gehören. Sonst könnten die notwendigen Eucharistiefeiern nicht alle gehalten werden.



    3. Wofür machen wir das Ganze?



    Eine alte Geschichte erzählt, wie in einer Pfarrei alles Notwendige da ist. Kirche, Pfarrheim, die Hauptamtlichen, die Gemeindegremien, Gruppen und Programme. Und plötzlich – so die Geschichte – kommt der böse Feind und nimmt den inneren Glaubensfunken aus den Herzen der Menschen. Alles läuft so weiter wie bisher. Aber das Entscheidende ist verschwunden.



    Was ist das Entscheidende in unseren Pfarreien? Die Antwort kann nur hei-ßen: Die lebendige Beziehung zu Jesus Christus. Das ist etwas sehr Persön-liches. Bei jedem Menschen gestaltet sich die Verbindung zu Jesus Christus auf eigene Weise. Aber die Wegweiser zu einer persönlichen Christusbeziehung sind für uns alle gleich. Sie lauten: Bibel, Gebet, Gottesdienst, Nächstenliebe. Wer diese Wegweiser beachtet, der gibt dem bösen Feind aus der Geschichte nicht die Möglichkeit, den inneren Glaubensfunken wegzunehmen.



    Es gab in unseren Pfarreien einmal Zeiten, da war die tägliche Heilige Messe in einer Kirche selbstverständlich. Das ist heute leider aus vielerlei Gründen oft nicht mehr möglich.



    Aber die tägliche Versammlung zum Gebet in einer Kirche, die soll wieder selbstverständlich werden. Die kann und muss nicht von einem Priester geleitet werden. Wir haben als Kirche eine Vielzahl von Gottesdienstformen. Vom Rosenkranz bis zur Eucharistischen Anbetung, vom Stundengebet bis zur Wort-Gottes-Feier, von der kirchenmusikalischen Andacht bis zur Kreuzweg– oder Maiandacht.



    Je mehr wir betende Kirche sind, desto mehr ist der innere Funke des Glaubens in uns lebendig. Es gehört zu den wichtigen Überlegungen in unseren Gremien, wie ein Kirchengebäude täglich für eine gemeinsame Gebetszeit offen und einladend sein kann. Und ebenso, welche Personen diesen Gottesdienst leiten können.



    Ich bin zuversichtlich, dass da noch manche Begabungen entdeckt und gefördert werden können. Es ist wichtig, dass wir die Kirche haben. Aber noch wichtiger ist, dass wir Kirche sind. Das zeigt sich auch in einer täglichen Gottesdienstgemeinschaft.



    Damit solche Gebetszeiten täglich stattfinden können, braucht es sicher noch einen langen Atem. Aber die ersten Schritte dahin sollten wir beherzt gehen.



    4. Wir sind Ortskirche in Einheit mit dem Papst



    Wenn wir Bischöfe uns zu unserer Konferenz treffen, kommt immer auch der Apostolische Nuntius, der Vertreter des Papstes in Deutschland für einige Stunden dazu. Das ist ein wichtiges Signal. Denn Jesus hat die zwölf Apostel mit Petrus als deren Haupt berufen. Das prägt die Kirche bis heute.



    Im Konzilstext über die Kirche heißt es dazu: „Wie nach der Verfügung des Herrn der heilige Petrus und die übrigen Apostel ein einziges Apostolisches Kollegium bilden, so sind in entsprechender Weise der Bischof von Rom, der Nachfolger Petri, und die Bischöfe, die Nachfolger der Apostel, untereinander verbunden.“ (Dogmatische Konstitution Lumen Gentium, Art. 22)



    Ich freue mich, dass wir diese Verbundenheit jetzt in Hamburg erleben dürfen.



    Zugleich muss uns aber eine andere wichtige Aussage des Konzils bewusst sein. Im Dekret über das Apostolat der Laien heißt es: „Allen Christen ist die ehrenvolle Last auferlegt, mitzuwirken, dass die göttliche Heilsbotschaft überall auf Erden von allen Menschen erkannt und angenommen wird.“ (Dekret über das Apostolat der Laien, Art. 3)



    Ja, das Konzil beschwört regelrecht alle Getauften und Gefirmten, „dem Ruf Christi . . . und dem Antrieb des Heiligen Geistes gern, großmütig und entschlossen zu antworten.“ (ebd. Art. 33)



    Ohne Ihr Mitwirken, liebe Schwestern und Brüder, könnte sich unsere Kirche im Norden nicht so entfalten, wie es dem Willen Gottes entspricht. Herzlich danke ich allen, die ihre je eigene Berufung erkennen und leben.



    5. Wir sind Weltkirche



    Es ist guter Brauch, dass zum Zeichen des weltweiten Miteinanders der Kirche auch Bischöfe aus anderen Ländern bei unserer Bischofskonferenz anwesend sind.



    Zu uns nach Hamburg kommen Bischöfe aus der Erzdiözese Manila, Philippinen, aus der Diözese Dori, Burkina Faso und aus der Diözese Fort-Liberté, Haiti.



    Das hat auch einen praktischen Sinn. Diese Bischöfe werden in Deutschland die Fastenaktion Misereor mitgestalten. Es geht dabei um unseren Einsatz gegen Hunger und Krankheit in der Welt. Diese Form der Nächstenliebe gibt es bereits seit fünfzig Jahren und hat uns Ansehen und Zuneigung in aller Welt gebracht.



    Als vor einigen Jahren das Taizé-Treffen in Hamburg stattfand, sagte mir ein begeisterter Jugendlicher: „Das ist das Schöne an der Kirche, dass sie so iternational ist.“ So haben es ja auch Hunderttausende auf den Weltjugendtagen erlebt. Und auch bei Wallfahrten erfahren das viele, ob in Rom, Lourdes, Fatima oder Santiago.



    Gerade uns in der Diaspora tun solche Erlebnisse gut. Wir spüren dann, dass wir nicht allein sind, sondern dass wir viele Schwestern und Brüder in aller Welt haben. Wenn heute mit dem Stichwort der Globalisierung die weltweite Zusammengehörigkeit der Menschen immer stärker in den Blick kommt, dann dürfen wir mit Stolz feststellen, dass diese weltweite Gemeinschaft bereits im Evangelium grundgelegt ist. Der Auftrag Jesu, die Frohe Botschaft zu verkünden, zielt auf die ganze Welt und auf alle Menschen. (vgl. Mk 16,15)



    6. Der Ablauf unserer Bischofskonferenz in Hamburg



    Zu Konferenzbeginn am 2. März feiern wir um 18.30 Uhr den Eröffnungsgot-tesdienst im Mariendom. Dazu sind alle eingeladen. Ebenso zu den Eucharistiefeiern an den folgenden Tagen um 7.30 Uhr in St. Elisabeth in Harvestehude. Mittagsgebet und Vesper sind nicht öffentlich zugänglich.



    Eine Fülle von Themen bestimmt das Programm der Konferenz. Darüber wird die Kirchenzeitung berichten. Viel Zeit werden die ethischen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Krise im Finanzwesen einnehmen.



    Liebe Schwestern und Brüder, herzlich bitte ich Sie um Ihr Gebet für die Bischofskonferenz in Hamburg. Zugleich freue ich mich darüber, dass alle siebzig Bischöfe für unser Erzbistum Hamburg beten werden.



    In herzlicher Verbundenheit erteile ich Ihnen den Segen des dreifaltigen Gottes.



    Ihr + Werner

    Erzbischof von Hamburg







    Dieses Bischofswort ist am 1. Fastensonntag, 1. März 2009 in allen Eucharistiefeiern einschließlich der Vorabendmessen zu verlesen.

  • Predigt von Erzbischof Werner Thissen am Patronatsfest des Erzbistums im Hamburger Mariendom am 8. Februar 2009 / Mariendom Hamburg / 10. 02. 2009
    Liebe Schwestern und Brüder,



    „Sie zogen aus und predigten überall.“ So heißt es in unserem Evangelium heute. Gemeint sind die Apostel. Aber das trifft auch achthundert Jahre nach den Aposteln auf Ansgar zu. Ihm verdanken wir, dass hier bei uns im Norden der christliche Glaube grundgelegt wurde. Deshalb ist die Ansgarwoche, die wir heute mit dem Patronatsfest abschließen, für uns im Norden ein besonderer Höhepunkt.



    Höhepunkt, könnten Sie fragen? War diese Woche nicht eher ein Tiefpunkt? Mit all der Kritik am Papst, am Vatikan, an der katholischen Kirche insgesamt? Am vergangenen Donnerstag äußerte sich der Leiter der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan dazu in einer Podiumsdiskussion. Sinngemäß sagte er: Es ist unvorstellbar, dass die Mitarbeiter im Vatikan den Papst so ins offene Messer laufen ließen.



    Gut ist, dass inzwischen drei Dinge klargestellt sind:

    1. Ein Verharmloser des Holocaust kann in der Kirche kein Amt bekleiden.

    2. Das zweite Vatikanische Konzil ist und bleibt Grundlage für kirchliches Glauben und Handeln.

    3. Unser Verhältnis zu den Juden ist und bleibt geprägt von gegenseitiger Wertschätzung.



    Ich habe in der vergangenen Woche den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Hamburg aufgesucht. Ich habe ihm mein Bedauern über die unfassbare Nachlässigkeit im Vatikan zum Ausdruck gebracht. Am Ende unseres Gesprächs waren wir uns einig, dass wir gemeinsam auch weiterhin alles tun werden, damit unser gutes Miteinander in Hamburg sich weiter entfalten kann.



    Es wird noch viel zu diskutieren und zu fragen sein über die Vorgänge der letzten Tage. Eindeutig ist, dass Papst Benedikt nicht im Geringsten etwas mit Antisemitismus zu tun hat. Aber dass der Verdacht aufkommen konnte, ist furchtbar und beschämend.



    Unsere Kirchenzeitung hat ausführlich über alles berichtet. Dort und auch auf den Bistumsseiten im Internet können Sie sich weiter gut informieren.



    Ich komme dann noch kurz auf eine Aussage in der Lesung aus dem ersten Korintherbrief zurück. Dort heißt es: Wir verkünden das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes. In dieser Heiligen Messe wird uns das Geheimnis Gottes auch durch die Musik nahegebracht. Bruckners E-moll-Messe gehört zu den Höhepunkten polyphoner Kirchenmusik. Wenn wir jetzt das Credo hören, dann ist das nicht nur wie ein Hören im Konzert. Es kann auch ein Hören auf das Geheimnis Gottes sein. Ich möchte Sie besonders aufmerksam machen auf das „Et incarnatus est“. Gott ist Mensch geworden, einer von uns. Vor der Vertonung dieser Worte ist eine kurze Pause, und dann wird die Musik leiser, langsamer, besinnlicher. Ich höre daraus: Das Geheimnis Gottes ist uns in Christus ganz nahe gekommen. Gott bleibt Geheimnis. Aber mit offenen Ohren und offenem Herzen können wir in dieser Musik etwas vom Geheimnis Gottes erfahren.



    Wir denken in diesen Tagen besonders auch an einen anderen Komponisten, an Felix Mendelssohn Bartholdy. Am Ansgartag vor zweihundert Jahren wurde er in Hamburg geboren. Über seine Musik gibt es folgende Anekdote: Einer fragt den anderen: Kannst du mir sagen, was Unsterblichkeit ist. Die Antwort: Nein, das kann ich dir nicht sagen. Einige Zeit später kommt der Fragesteller wieder zurück und sagt: Jetzt weiß ich, was Unsterblichkeit ist. Denn ich habe das Violinenkonzert von Mendelssohn Bartholdy gehört.



    Ähnlich könnte man im Hinblick auf Bruckners Messvertonung heute fragen: Wissen wir, was das Geheimnis Gottes ist? Nein, wir wissen es nicht. Aber wir können etwas vom Geheimnis Gottes erfahren, wenn wir jetzt das Credo mit dem „Et incarnatus est“ hören. Vielleicht können Sie das Credo mithören und mithören in der Haltung: Christus, du bist das Geheimnis Gottes, und du bist bei mir.



    In der nun folgenden Musik können wir etwas von der Freude und Kraft unseres Glaubens erfahren. So dass wir zuversichtlich unseren Weg gehen können. Trotz allem. Amen
  • Erklärung von Erzbischof Werner Thissen zu den Bischöfen der Pius-Bruderschaft / Hamburg / 03. 02. 2009
    In einer Erklärung, die in der Neuen KirchenZeitung vom 8. Februar 2009 veröffentlicht wurde, nimmt Erzbischof Werner Thissen zu den Vorgängen um die Bischöfe der Pius-Bruderschaft und die Äußerungen des Bischofs Williamson Stellung.



    Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Hamburg,

    viele Fragen bewegen uns in diesen Tagen im Zusammenhang mit der Aufhebung der Exkommunikation der vier Bischöfe aus der Pius-Bruderschaft. Die Emotionen finde ich verständlich. Aber wir müssen einen klaren Kopf behalten.



    Die Aufhebung der Exkommunikation ist eine Tatsache. Tatsache ist aber auch, dass die vier Bischöfe weiter suspendiert sind. Das heißt, sie haben keine volle Gemeinschaft mit der Kirche und schon gar keine Vollmachten in ihr. Das Motiv von Papst Benedikt ist eindeutig: Er will hinwirken auf die Einheit der Christen. Das ist ganz im Sinne des Evangeliums. Dem Papst geht es um den Dienst der Einheit, der ihm aufgetragen ist. Das wollen wir alle aus vollem Herzen unterstützen.



    Durch jetzt öffentlich bekannt gewordene Äußerungen des Bischofs Williamson ist die Absicht des Papstes ins Zwielicht gerückt worden. Nach meiner Einschätzung hätten die Berater den Papst darauf aufmerksam machen können und müssen.

    Aber unmittelbar nach Bekanntwerden der unsäglichen Äußerungen dieses Bischofs hat der Papst in aller Öffentlichkeit klargestellt: Jeder Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust erteilt er erneut eine deutliche Absage. Wer Papst Benedikt kennt, muss das für selbstverständlich halten. Ebenso eindeutig hat er versichert, dass das II. Vatikanische Konzil Richtschnur für unser kirchliches Handeln ist und bleibt. Wer das Konzil nicht anerkennt, stellt sich außerhalb der Kirche. Wir sollten unsere Fragen und Sorgen zum Anlass nehmen, uns wieder neu und wieder mehr mit den Aussagen dieses bedeutenden Konzils zu befassen. Und schließlich hält der Papst mit vollem Recht fest, dass wir für den Dialog mit den Juden verbindliche Grundlagen haben. Wir Christen sind ihnen als unseren älteren Geschwistern unwiderruflich verbunden.

    Ich nenne diese Punkte, um jeglichen Mutmaßungen auf diesem Feld strikt entgegenzutreten.



    Wie konnte so etwas passieren, fragen viele.

    Die Versäumnisse in der vatikanischen Diplomatie sind in der Tat beängstigend und unfassbar. Aber dies vor allem dem Papst anzulasten, ist abwegig. Der Papst muss sich auf seine Berater verlassen können. Hier scheint mir eine Reform notwendig zu sein.

    Wir haben in Papst Benedikt einen Bruder an der Spitze der Kirche, der zu den herausragenden Geistesgrößen unserer Zeit zählt. Seine Enzykliken, sein Jesusbuch, seine Impulse zum Thema Glaube und Vernunft, seine zahlreichen Predigten, ja sein ganzes einzigartiges schriftstellerisches Werk genießen höchstes Ansehen. Das alles sollte uns auch jetzt bewusst sein. Auch wenn für manche die Liebe zur Kirche eine starke Bewährungsprobe erfährt.

    Die Aufhebung der Exkommunikation eines Bischofs, der den Holocaust leugnet, bleibt unerträglich. Da muss der Vatikan nacharbeiten. Auch das Gespräch mit jüdischen Vertretern, das Missverständnisse klärt und eine Entschuldigung ermöglicht, muss unbedingt erfolgen.



    Vielen geht jetzt das Entgegenkommen von Papst Benedikt gegenüber der Piusbruderschaft zu weit. Mir stellt sich die Frage, ob ähnliches Entgegen-kommen von Päpsten in früheren Zeiten nicht auch dauerhafte Spaltungen hätte verhindern können.



    Ich finde es hilfreich, konservatives Denken und Verhalten, wie es sich vor allem bei Anhängern des verstorbenen Bischofs Lefebvre zeigt, auf den Prüf-stand zu stellen. Das tun wir auch bei extrem progressivem Verhalten. Und es entspricht auch dem Rat der Bibel: Prüfet alles, das Gute behaltet.



    In Hamburg findet Anfang März die bundesweite Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit statt. Ich bitte Sie herzlich, darauf hinzuwirken, dass diese Woche unsere guten Verbindungen zu jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern weiter verstärkt. Uns verbindet so viel mit den Juden. Und wir Deutsche stehen mehr als alle anderen in der Pflicht, diese gute Verbindung zu pflegen und weiter zu entfalten.



    Hamburg, am Fest des Heiligen Ansgar



    Ihr

    + Werner

    Erzbischof von Hamburg
  • Verstärkte Nachfrage nach christlichen Moralvorstellungen
    Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen im Silvestergottesdienst 2008 im Hamburger Mariendom / Mariendom Hamburg / 05. 01. 2009
    Liebe Gemeinde,



    das Jahr 2008 liegt in den letzten Zügen. In wenigen Stunden ist es unwiderruflich vorbei. Von Maria heißt es heute im Evangelium: „Sie bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.“

    Was möchten Sie von all dem, was im Jahre 2008 geschehen ist, in Ihrem Herzen bewahren? Oder mehr noch: Was möchten Sie bei Gott aufbewahrt wissen? Was aus dieser Zeit soll bleiben in der Ewigkeit?

    Sie erinnern sich an schöne Ereignisse aus diesem Jahr 2008. Sie werden sich aber auch erinnern an schwierige oder bittere Ereignisse. Wir wollen all das, was uns aus 2008 durch den Kopf oder durch das Herz geht, dem lebendigen Gott hinhalten.



    Und dann steht 2009 vor unserer Tür. Bundespräsident Köhler hat in seiner Weihnachtsansprache benannt, was wir 2009 besonders brauchen. Ich greife drei Hinweise aus seiner Ansprache heraus. Denn die haben, auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht nicht erkennbar ist, erstaunlich viel mit christlicher Moral zu tun.

    Rechenschaftspflicht

    Der erste Hinweis: Wer Verantwortung trägt, sagt der Bundespräsident, ist Rechenschaft schuldig. Das erinnert an das Confiteor, an unser Schuldbekenntnis, das wir zu Beginn der Heiligen Messe beten: „Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, daß ich Gutes unterlassen und Böses getan habe.“

    Schaut man aber auf das Verhalten derer, die für die wirtschaftlichen Probleme Verantwortung tragen, dann ist von Rechenschaft nichts zu sehen. Es wird so getan, als seien die Milliarden Verluste ein Naturereignis, das über uns hereingebrochen ist. So ist das mit dem Unschuldswahn in unserer Gesellschaft. Wir sind Meister geworden im Verdrängen von Schuld und Sünde. Aber nicht verdrängen, sondern bekennen führt zur Kurskorrektur.

    Das gilt nicht nur für die, die in der Wirtschaft tätig sind. Das gilt für Sie und für mich. Die Frage ist: Wie gehe ich mit Schuld um? Schuld gehört zu jedem Menschen. Verharmlose ich meine Schuld? Verdränge ich meine Schuld? Habe ich überhaupt ein Gespür für meine Sünden?

    Wo die Rechenschaftspflicht vor Gott nichts mehr gilt, da fangen wir allzu leicht auch vor den Menschen an zu tricksen. Wo das Gewissen nicht mehr auf Gott ausgerichtet ist, da reagiert es allzu leicht nur noch auf die Frage: Merkt einer meine Fehler oder kann ich sie vertuschen?

    Wer Verantwortung trägt ist Rechenschaft schuldig. Jeder Mensch trägt in irgendeiner Form Verantwortung. Jeder von uns ist Rechenschaft schuldig vor Gott und auch vor Menschen. Es ist erstaunlich und dankenswert, daß der Bundespräsident an diesen christlichen Grundsatz erinnert.

    Maß halten

    Der zweite Hinweis: Der Bundespräsident sagt, wir brauchen in unserer Gesellschaft Anstand, Bescheidenheit und Maß. Ich vermute, daß ihm bewußt ist, daß er mit diesen drei Begriffen eine der vier christlichen Kardinaltugenden umschreibt. „Kardinaltugenden“ heißen sie nicht deshalb, weil möglicherweise vor allem Kardinäle diese Tugenden beherzigen würden. Das lateinische cardo bedeutete Türangel. Die vier Kardinaltugenden sind die vier Türangeln, in denen das Tor zu einem richtigen Leben schwingt. Sie heißen: Tapferkeit, Gerechtigkeit, Klugheit und Maß.

    Maß, Bescheidenheit, Anstand – das lateinische Wort temperantia bedeutet all das. Also das Gegenteil von Gier, von Unverschämtheit, von Unanständigkeit, wovon jetzt so viel die Rede ist. Wir sollen für unser Leben das rechte Maß finden. Wir sollen in uns selbst Ordnung halten. Wir sollen die Tiefe des Quellgrundes in uns freihalten vom Schutt und Geröll des Unmäßigen. All das ist gemeint mit dem Wort Maß. Vielleicht kann man es auch so sagen: Wir brauchen die richtige innerliche Temperatur für unser Leben. Nicht ungekühlt, nicht eisig, damit wir nicht erfrieren. Aber auch nicht überhitzt, damit wir nicht verbrennen. Der Bundespräsident ist mit seinen Begriff in die Tiefen christlicher Ethik eingestiegen. Es wird immer deutlicher, wie sehr wir diese Tugenden brauchen in unserer Zeit.

    Helmut Schmidt, der 90-jährige, ist dafür ein unverdächtiger Zeuge. In seinem Lebensbericht „Außer Dienst“ schreibt er: „Wir … können nicht in Frieden miteinander leben ohne die auf dem Boden des Christentums entwickelten Pflichten und Tugenden.“

    Glaubwürdigkeit

    Ein dritter Hinweis in der Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten ist ebenfalls in christlicher Ethik verankert. Das Stichwort heißt „Glaubwürdigkeit“. Darin steckt das Wort „Glaube“. Also etwas nicht Berechenbares und dennoch existentiell Unverzichtbares. Unverzichtbar deshalb, weil der Mensch mehr braucht als das, was er selbst machen, organisieren, beweisen kann. Wo der Glaube an Gott aber schrumpft, da schrumpft auch bald die Glaubwürdigkeit des Menschen.

    Deshalb ist es so wichtig, daß Glaube praktiziert wird. Es greift zu kurz, wenn eine Hamburger Politikerin bekennt, sie sei aus der Kirche ausgetreten. Aber sie stecke immer vor einem Marienbild eine Kerze an, wenn sie eine Kirche betritt. Es ehrt diese Politikerin, daß sie ihr Verhalten selbst als Widerspruch empfindet. Das ist so, wie wenn man Früchte von einem Baum erntet, dessen Wurzeln man nicht mehr pflegt. Dann sind auf Dauer auch die Früchte nicht mehr da. Dabei ist das Anstecken einer Kerze ja nur ein harmloses Beispiel. Darauf kann man zur Not verzichten. Aber nicht verzichten können wir Menschen auf das, was in einem solchen Vorgang an Besinnung, an Innehalten und Innerlichkeit zum Ausdruck kommt. Das ist notwendiger Bestandteil menschlicher Glaubwürdigkeit.

    Der Bundespräsident hat mit seinen Begriffen Glaubwürdigkeit, Maß und Rechenschaft auf etwas genuin Christliches hingewiesen. Unsere Zeit, wir alle, brauchen christliches Verhalten, um die Herausforderungen des Jahres 2009 zu bewältigen. Und um auch in Krisenzeiten Freude, Sinn und Zuversicht zu erfahren. Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie davon auch 2009 viel spüren. Amen.
  • Brief des Erzbischofs an die Kirchengemeinde St. Bernard nach dem Brandanschlag / Hamburg / 25. 12. 2008
    Liebe Schwestern und Brüder in der St. Bernard Gemeinde,



    in diesen Tagen, in denen Sie der Brandanschlag auf Ihre Kirche erschüttert, denke ich besonders oft an Sie.



    Als ich von der Schändung Ihrer Kirche erfuhr, war mein erster Gedanke: Wie sollen Sie jetzt Weihnachten feiern können?



    Dann durfte ich miterleben, wie Sie am Abend dieses traurigen Tages singend und betend und mit Lichtern in den Händen vor Ihrer Kirche standen.



    Da wurde mir klar, dass Sie jetzt erst recht Weihnachten feiern. Weil Sie etwas von der Armut und Not im Stall von Bethlehem in diesem Jahr in Ihrer Gemeinde besonders erleben.



    Von Herzen wünsche ich Ihnen allen die Erfahrung, dass auch solch ein Gewaltakt, wie Sie ihn jetzt erlitten haben, uns das Kostbarste nicht zerstören kann: die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott und untereinander.



    In herzlicher Verbundenheit

    Werner Thissen

    Erzbischof von Hamburg
  • Predigt in der Christmette 2008 im Mariendom / Hamburg / 24. 12. 2008
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    drei Signale sollen uns erreichen in dieser Heiligen Nacht. Drei Signale aus der Lesung des Propheten Jesaja.



    Erstes Signal: „Das Volk im Dunkel schaut ein großes Licht.“



    Gemeint ist zunächst das Volk Israel damals. Aber auch wir sind dieses Volk im Dunkel. Dieses Weihnachtsfest ist von dunklen Prognosen überschattet. Es drohen Rezession und Arbeitslosigkeit. Unsere Gesellschaft bekommt die Quittung für ihre Maßlosigkeit. Und wo ist das Licht?



    Haben wir vielleicht zu sehr auf das diesseitige Licht geschaut? Auf das verlockende Licht des Wohlstandes? Auf das gleißende Licht der Werbung? Das muss ja nicht schlecht sein. Aber die Dunkelheit unserer menschlichen Existenz erhellen diese Lichter nicht.



    Und jetzt, wo die Lichter des Wohlstandes schwächer werden, da zünden wir neue künstliche Lichter an. Die Lichter der staatlichen Milliardenkredite. Auch das muss nicht verkehrt sein. Aber es muss uns doch nachdenklich machen, dass die Milliarden jetzt zur Stärkung der Wirtschaft vorhanden sind. Aber nicht vorhanden waren sie und sind sie für den Kampf gegen den tausendfachen täglichen Hungertod im Süden der Erde. Die Globalisierung der Wirtschaft haben wir gelernt. Die Globalisierung der Nächstenliebe haben wir noch nicht gelernt.



    Das Licht, von dem Jesaja spricht, leuchtet uns aber nur in dem Maße, in dem wir unseren Blick weiten. Indem wir nicht Ich sagen, sondern Du. Ich, Ich, immer nur Ich, das erstickt das Licht. Du – dann leuchtet das Licht. Du Gott. Du Nächster. Du Nächster in Hamburg und weltweit. Dann geht uns ein Licht auf.



    Das zweite Signal heißt: „Man freut sich wie bei der Ernte.“



    Ernte – das bedeutet: genügend Brot, genügend Wein, genügend Obst. Alles in Fülle.



    Jetzt wird diese Nacht zum Erntefest. Denn es ist genügend Gnade da, genügend Segen, genügend Ermutigung. Alles in Fülle. Wir müssen nur zugreifen, uns nur beschenken lassen mit Lebensfreude und Zukunftshoffnung. Wenn wir uns nur in Glaube, Hoffnung und Liebe dieser Gnade öffnen. Aber das tun wir ja. Deshalb sind wir ja hier. Wenn wir nur die Beziehung zu Gott pflegen. Durch Gebet. Durch Gottesdienst. Durch Nächstenliebe.



    Das dritte Signal: „Uns ist ein Kind geboren.“



    Kinder bedeuten Leben. In unserer Gesellschaft ist ein Kampf entbrannt zwischen der Kultur des Lebens und den Machenschaften des Todes. Machenschaften des Todes am Beginn des Lebens. Ich weiß nicht, ob das Jesuskind in der Krippe geschrien hat. Aber heute schreit es mit in den lautlosen Schreien derer, die schon vor ihrer Geburt getötet werden. Im Kampf für eine Kultur des Lebens haben wir im Erzbistum Hamburg den Hilfsfonds für Mütter in Not noch einmal erheblich aufgestockt.



    Machenschaften des Todes immer mehr auch am Ende des Lebens. Dagegen setzen wir als Kultur des Lebens die Hospizbewegung. Hospizbewegung bedeutet ja vor allem: Es gibt Menschen, die Sterbenskranke nicht allein lassen und die für schmerzfreie ärztliche Behandlung sorgen. Das Kind von Bethlehem ermutigt uns zu einer Kultur des Lebens. Wer die Koordinaten von Leben und Tod verrückt, wird auf Dauer selbst verrückt.



    Die drei Signale dieser Nacht lassen uns aufleben. Das erste Signal vom Licht in der Finsternis durch die Hinwendung zum Du. Das zweite Signal von der Ernte der Gnade, der Fülle des Segens, die Lebensfreude wecken. Das dritte Signal von der Kultur des Lebens gegen die Machenschaften des Todes.



    Mit der Konsequenz aus diesen drei Signalen wird unser Leben weit und hell.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur Einweihung des neuen Mariendoms am 23. November 2008 in Hamburg / Hamburg / 24. 11. 2008
    1. Lesung: Neh 8,2-4a.5-10

    2. Lesung: 1 Petr. 2,4-9

    Evangelium: Lk 19,1-10



    Liebe Gemeinde,



    muss eine Kirche schön sein? Ja, habe ich geantwortet. Eine Kirche muss eine Ahnung hervorrufen können von der Schönheit und von der Freude des Glaubens.



    Wenn die erste Lesung aus dem Buch Nehemia uns heute zuruft: „Die Freude an Gott ist unsere Stärke“, dann soll das im Kirchenraum spürbar sein. Oder wenn es im ersten Petrusbrief heute heißt: „Gott hat uns aus der Finsternis in sein Licht gerufen“, dann soll das im Kirchenraum erfahrbar werden. Wenn das Evangelium heute davon erzählt, dass Christus bei dem Sünder Zachäus einkehrt, dann soll uns der Kirchenraum dazu einladen, hier die Gemeinschaft mit Jesus Christus zu suchen.



    All das soll ein Kirchenraum vermitteln können. Aber die Schönheit ist nur eine Seite des Glaubens. Eine andere Seite gehört notwendig dazu. Beide Seiten benennt Papst Benedikt, wenn er sagt: Die Sorge um die Schönheit des Kirchenraums und die Sorge um die Armen ist unteilbar.



    Wir freuen uns, dass unser Mariendom schön geworden ist. Wir sehen ihn ja in der Nachfolge des abgerissenen alten Mariendoms. Maria als Patronin der Stadt mit den beiden Mariensternen im Wappen und als Patronin des alten wie des neuen Mariendoms ist dabei die verbindende Klammer. Über den alten Mariendom sagte 1831 der spätere Bürgermeister Kellinghusen: Auch wenn der Platz des alten Mariendoms jetzt öde und leer ist, so soll doch in Erinnerung bleiben, dass vor tausend Jahren vom Mariendom aus mit dem Christentum Bildung und Wissenschaft über Europas Norden verbreitet wurden.

    Dem fühlen wir uns als Christen im Norden auch heute verpflichtet. Auch mit unseren Bildungseinrichtungen und mit unseren caritativen Einrichtungen. Und ich finde es besonders dankenswert, dass wir das alles in bester ökumenischer Gemeinschaft tun.



    Unser Mariendom wurde zur selben Zeit erbaut wie unser Hamburger Rathaus. Und jedes Mal, wenn ich im Rathaus bin, deuten einige auf den segnenden Ansgar dort im großen Festsaal. Sie zeigen auf eine bestimmte Stelle mit den Worten: Da fehlt etwas. Der vor Ansgar ursprünglich kniende Hamburger ist übermalt worden. Begründung: ein Hamburger geht vor der Kirche nicht in die Knie.

    Ich freue mich, dass man nur den knienden Hamburger übermalt hat und nicht den segnenden Ansgar. Der ist da, bekleidet mit dem gleichen Pallium wie es auch heute Erzbischöfe auf der ganzen Welt tragen. Und Ansgar segnet jetzt nicht mehr nur einen Einzigen, sondern ganz Hamburg. Wir im Norden brauchen den Segen Gottes, auch und gerade in unserer Zeit.



    Deshalb ist es so wichtig, dass wir unsere schönen Kirchen in Ehren halten. Eine Stadt ohne Kirche ist wie ein Fußballplatz ohne die beiden Tore. Da kann man auch herumkicken, sich die Zeit vertreiben, Spaß haben. Aber ohne die beiden Tore fehlt dem Fußballspiel der Sinn, das Ziel, das, worauf es ankommt. Alles wird beliebig. So wäre das auch in einer Stadt ohne Kirche.



    Das ist die Aufgabe auch unseres neuen Mariendomes: Darauf hinzuweisen, dass unser Leben eben nicht ein beliebiges, zielloses Hin und Her ist, sondern dass unser Leben einen Sinn hat, ein Ziel hat, für das wir uns einsetzen. Mit Entschiedenheit, mit Freude, mit Dankbarkeit. Mit Leidenschaft für Gott und die Menschen.



    Leidenschaft für Gott und die Menschen – das kommt jetzt in den vielfältigen Zeichenhandlungen der Weihe zum Ausdruck. Manche der Zeichen sprechen für sich selbst, manche verlangen nach Deutung, die meisten sind in Ihrem Heft kurz erklärt. Alle Zeichenhandlungen haben zu tun mit der Leidenschaft für Gott und die Menschen.

    Und sie bringen etwas zum Ausdruck von der Schönheit und Freude unseres Glaubens, für die unser neuer Mariendom ein Zeichen sein kann.

    Amen.
  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen zur Orgelweihe der renovierten und erweiterten Beckerath-Orgel im Mariendom zu Hamburg am 22. November 2008 / Hamburg / 24. 11. 2008
    Lesung: Kol 3,1-17



    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    „Richtet euren Sinn auf das Himmlische“, ruft uns die Lesung aus dem Kolosserbrief heute zu. Und wie geht das, den Sinn auf das Himmlische richten?



    Die Musik ist eine wunderbare Möglichkeit, den Sinn auf das Himmlische zu richten.



    Das haben Sie alle schon erlebt: Eine Melodie wird in Ihnen lebendig, bringt Sie in Schwingung, Sie bewegen sich, summen oder singen, die Erdenschwere fällt von Ihren Schultern wie ein zu großer Mantel. So kann man den alten Menschen able-gen, von dem die Lesung spricht. So kann man ein neuer Mensch werden. Eine neue Dimension wird durch Musik erfahrbar, die man durchaus die Dimension des Himmlischen nennen kann.



    Sehr schön kommt das zum Ausdruck in den Oden Salomons, einer Schrift aus dem zweiten Jahrhundert. Darin heißt es: „Wie der Windhauch durch eine Harfe fährt, dass die Saiten klingen, so fährt der Geisthauch des Herrn durch meine Glieder, dass ich in seiner Liebe singe.“



    Musik als Nahrung für die Seele. Musik als Nahrung für den Glauben. Wer Nah-rung wirklich schmecken will, der braucht auch Zeiten des Fastens. Wer Musik wirklich in sich aufnehmen will, der braucht auch Zeiten der Stille. „Für Gott ist auch Stille höchster Lobgesang“, heißt es in der Tradition der Mystiker.



    Stille als höchster Lobgesang: Das habe ich im vergangenen Sommer bei den Benediktinern in Ottobeuren erfahren. Zum Klingen kam in der barocken Basilika, die mir ihrerseits schon wie steingewordene Musik vorkommt, Bachs H-Moll-Messe. Vor Beginn tritt der Abt des Klosters vor und sagt: Für uns ist diese Musik kein Konzert, sondern Gottesdienst. Deshalb läutet nach dem letzten Ton die Glocke. Ich bitte Sie, dann nicht zu klatschen, sondern in Stille zu verweilen.



    Das war ein einprägsames Erlebnis für mich: Die angestauten Emotionen nicht zuerst durch Klatschen nach außen abzuleiten, sondern durch Stille nach innen. Professor Hamel, der Vorsitzende der Musiksektion der Freien Akademie der Künste in Hamburg, selbst Komponist, drückt das so aus: „Ich suche nach einer Musik, die nach Innen führt, die ein Gebet sein kann, nach einer Musik, die Urvertrauen ausdrückt.“



    Für Gott ist auch Stille höchster Lobgesang. Und die Gächinger Kantorei unter Helmuth Rilling in Ottobeuren empfand unsere Stille offenbar auch als höchstes Lob. Wir haben das übrigens kürzlich auch im Kleinen Michel so gehalten. Das ist eine gute Erfahrung. Für den Beifall ist danach ja immer noch Zeit genug.



    „Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der Geist ein-gibt“, ruft uns die Lesung zu.



    Singen und Musik kann es mit dem Geist Gottes zu tun haben. Denn Musik kann in uns das anrühren, was an Ewigkeitsstoff in uns vorhanden ist.



    Philipp Harnoncourt, der Bruder des berühmten Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Graz ist, sagt: „Musik kann das Ewige berühren, gerade in ihrer Vergänglichkeit, weil sie ein Ende hat und doch in uns verlangt, dass nichts von dem beendet ist, was uns in der Musik angerührt hat.“



    Ich bin davon überzeugt, dass Ihnen, wenn Sie das Wechselspiel von Musik und Stille an sich herankommen lassen, Ewigkeitserfahrung nicht fremd ist. Dabei ist Musik im Gottesdienst noch einmal etwas ganz anderes als Musik im Konzertsaal. Dann ist auch verständlich, dass die Liturgie der Kirche in der Orgel ein ganz eige-nes Instrument entwickelt hat.



    Und die Orgel selbst kann noch einmal zum Symbol von Kirche, von Gemeinde werden. So wie bei der Orgel jeder Ton wichtig ist, so wie kein Ton überflüssig ist, so wie die einzelnen Töne aber zusammenklingen müssen zu einem Ganzen, so ist im Gottesdienst jeder wichtig, niemand überflüssig, egal wie hoch oder wie tief er gestimmt ist, und er leistet seinen persönlichen unersetzlichen Beitrag zum Ganzen. Oder wie es die Orgelbauerin Anja Sattler gesagt hat während der Arbeit an der Be-ckerath-Orgel hier im Mariendom: „Wir arbeiten zeitweise mit zwanzig Orgelbauern hier, jeder für sich, und doch kommt ein gemeinsames phantastisches Werk heraus.“



    Ich freue mich über unsere alte neue Orgel. Alt ist sie, weil sie schon seit 1967 hier erklingt. Neu ist sie, weil sie gereinigt und erweitert worden ist.



    Unsere alte und neue Orgel kann zu einem Symbol für uns selbst werden: Wir haben unser Alter. Aber wir werden durch unser Leben mit Jesus Christus auch immer wieder erneuert. So wie es die Lesung heute sagt: „Wir sind als Getaufte neue Menschen nach dem Bild des Schöpfers, um ihn zu erkennen.“ Die Musik, die Kirchenmusik, die Orgelmusik – wir werden dadurch angeregt, neu zu werden. Mit neuem Mut. Mit neuer Kraft. Mit neuer Freude.



    Jetzt wird die Orgel eingeweiht. Es trifft sich gut, dass wir die Einweihung am Fest der Heiligen Cäcilia, der Patronin der Kirchenmusik, feiern. Unmittelbar nach der Weihe erklingt die Orgel in aller Meisterschaft unseres Kirchenmusikdirektors Professor Eberhard Lauer. Und wir haben die Möglichkeit, unseren Sinn auf das Himmlische zu richten. Amen
  • Grußwort von Erzbischof Dr. Werner Thissen, Hamburg, als Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz zum 25jährigen Bischofsjubiläum von Bischof Dr. Josef Homeyer am 15. November 2008 / Hildesheim / 15. 11. 2008
    Verehrte Gäste aus Politik und Gesellschaft,

    liebe Mitbrüder im Diakonen-, Priester- und Bischofsamt,

    verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Bistum Hildesheim,



    Bischof und Bistum gehören zusammen. So ist es ganz selbstverständlich, dass Sie die 25 Jahre des Dienstes von Bischof Josef Homeyer vor allem unter der Perspektive des Bistums Hildesheim sehen.



    Aber es gibt noch eine andere wichtige Perspektive. Im Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe heißt es: „Der Bischof (übt) den ihm übertragenen Dienst nicht nur dann aus, wenn er in seiner Diözese die ihm eigenen Aufgaben erfüllt, sondern auch, wenn er mit den Mitbrüdern im Bischofsamt in den verschiedenen überdiözesanen bischöflichen Organen zusammenarbeitet.“(1)



    Ein wichtiges überdiözesanes Gremium ist die Deutsche Bischofskonferenz. Im Namen unseres Vorsitzenden und aller Mitglieder der Bischofskonferenz danke ich Bischof Josef Homeyer für seine herausragenden Dienste dort.



    Als Ende August 1983 die Nachricht kam: Josef Homeyer, der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, wird Bischof von Hildesheim, da gab es nicht wenige Stimmen, die sagten: Das ist viel zu klein für ihn. Wir hatten ihn eher als Erzbischof in Köln oder München gesehen. Damals wusste auch ich noch nicht, welche Auszeichnung es ist, in der Diaspora das Evangelium verkünden zu dürfen.



    Ich war damals im Generalvikariat in Münster tätig so wie zuvor auch Josef Homeyer vor seiner Berufung zum Sekretär der Bischofskonferenz. Wir kannten seinen großen Aktionsradius, seine zupackende Art, die ja auch die Bischofskonferenz mächtig in Schwung gebracht hat.



    Das Bistum Hildesheim zu klein für Bischof Josef? Nein, er verstand sich als Bischof dieser geschichtsträchtigen Ortskirche immer auch als Bischof der Weltkirche. Ganz im Sinne der Bischofssynode, die den Bischof immer in Beziehung zum eigenen Bistum sieht und zugleich in Beziehung zur Universalkirche.(2)



    Ein wichtiges Stichwort im überdiözesanen Wirken von Bischof Josef heißt: Europa.



    Seit 1989 war er Mitglied der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union (ComECE). Vier Jahre später übernimmt er deren Leitung. Ebenfalls war er Mitglied im Präsidium des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE).



    Europa – das Anliegen von Papst Johannes Paul, dass Europa auch mit dem Lungenflügel im Osten atmen muss, beherzigt Bischof Josef als Mitglied der Kontaktgruppe der polnischen und deutschen Bischofskonferenzen. Bischof Josef hat auf vielfältige Weise Europa und Kirche miteinander ins Gespräch gebracht. Er ist einer der geistlichen Baumeister Europas in unserer Zeit.



    Davon hat auch die katholische Kirche in Deutschland stark profitiert. Vor allem unter Bischof Homeyer als Vorsitzendem der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen in der Bischofskonferenz. Aber auch mit ihm als Mitglied der Kommission Weltkirche, als Mitglied des Evangelisch-Katholischen Kontaktgesprächkreises und als Mitglied der Gemeinsamen Konferenz mit dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken.



    Hildesheim zu klein für Josef Homeyer? Kirche ist nie zu klein, weil Kirche immer auch Weltkirche ist. Und wo Bischof Homeyer beteiligt ist, wird immer auch das Kleine groß.



    Das Bistum Hildesheim hat auch selbst von diesem enormen überdiözesanen Arbeitseinsatz seines Bischofs großen Gewinn: durch die Weite des weltkirchlichen Geistes, der hier weht, durch den Sinn für gesellschaftliche Fragestellungen, der hier lebendig ist, und durch die geistlichen Anregungen aus vielen anderen nationalen und internationalen Ortskirchen, zu denen Bischof Homeyer Kontakt hat.



    Lieber Bischof Josef, mit dem Dank der Deutschen Bischofskonferenz verbinde ich auch den Dank für dein Mitwirken in unserer Metropolie. Unsere drei Bistümer im Norden, Hildesheim, Osnabrück und Hamburg halten auch durch deine verbindende und verbindliche Art gut zusammen.



    Es ist ein Segen, dass du durch fünfundzwanzig Jahre hindurch das Licht des Glaubens im Norden ausgebreitet hast. Gott lohne dir alle Mühe.











    (1)Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 173, 2004

    (2)Vgl. Bischofssynode, X. Ordentliche Vollversammlung, 2001, Verlautbarungen des apostolischen Stuhls Nr. 151, 2001
  • Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Clemens August Kardinal von Galen – der Löwe von Münster" im Lübecker Dom am 26. Oktober 2008 / Lübeck / 26. 10. 2008
    Sehr verehrte Damen und Herren,







    herzlich begrüße ich Sie zur Ausstellungseröffnung hier im Lübecker Dom. Mein besonderer Gruß gilt den Mitgliedern des Arbeitskreises 10. November, Herrn Bischof Kohlwage, Herrn Propst Mecklenfeld und unserem Gast aus Münster, Herrn Domkapitular Martin Hülskamp.







    1. Immer wieder erzählen







    15 Jahre sind es her, dass Sie, lieber Bischof Kohlwage, gemeinsam mit Weihbischof Dr. Jaschke hier in Lübeck eine Ausstellung über den Löwen von Münster, Kardinal Clemens August von Galen, eröffnet haben. 15 Jahre sind eine ziemlich kurze Zeit. Mancher wird fragen: warum jetzt eine neue Ausstellung?



    In diesen 15 Jahren ist eine halbe Generation nachgewachsen. Herr Witte, Sie waren damals 1993 in Lübeck nicht dabei, ich selbst auch nicht, ganz zu schweigen von den jungen Menschen, die inzwischen nachgewachsen sind. Außerdem ist die historische Forschung weitergegangen. Seit 1993 sind mehr als zwei Dutzend neuer Studien über Kardinal von Galen erschienen; und auch über die Lübecker Märtyrer kommen immer neue Funde ans Licht, ich denke etwa an die verschollen gewesenen Abschiedsbriefe und diverse Prozessakten. Es ist also wichtig, dass weiter erzählt wird, gerade auch hier in Lübeck, über den Löwen von Münster und über seine Bedeutung für die Lübecker Geistlichen. Das genau ist der Sinn dieser Ausstellung im Jahr 2008, dem 65. Jahr nach der Ermordung der vier Geistlichen in Hamburg.



    2. Vorgeschichte, Vorbild von Galen



    Überspitzt könnte man sagen: ohne diesen Bischof von Münster, sein Auftreten, seine Schriften und Predigten hätte es den Prozess gegen die Lübecker Geistlichen und gegen die 18 Laien vielleicht gar nicht gegeben. Unter den 18 Laien war Adolf Ehrtmann, der spätere Lübecker Bausenator, der zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.



    Die drei Kapläne lernten Bischof Galen schon während ihres Studiums in Münster zwischen 1933 und 1939 kennen und schätzen – dafür zeugte das kleine, in Silber gerahmte Galen-Bildchen auf Prasseks Schreibtisch ebenso wie die Serie von Farb-Dias, die Eduard Müller anlässlich von Galens Besuch in Osnabrück aufnahm. Schon in den ersten Jahren der Diktatur schärfte Galen ihnen den Blick dafür, dass nationalsozialistische Weltanschauung und Christentum konträr zueinander stehen.



    Mit Sicherheit hatten die Kapläne Kenntnis von den brandaktuellen Ereignissen um die Gegenschrift zu Rosenbergs „Mythus des XX. Jahrhunderts“, die 1934 mit einem Vorwort des Bischofs Clemens August erstmals in Münster in Druck ging, bevor sie in anderen Diözesen nachgedruckt wurde. Die Kapläne erlebten aber auch den er­folgreichen „Kreuzkampf“ im Oldenburger Münsterland 1936, wo ein eilfertiger Minister verfügt hatte, dass in den Schulen die Kruzifixe und Lutherbilder entfernt werden müssten. Der Widerstand der Bevölkerung führte binnen weniger Wochen zur Rück­nahme des Erlasses, und sicher kannten die Kapläne die dankbaren Hirtenworte ihres Bischofs an seine Diözesanen!





    3. Die drei großen Predigten



    Die Bedeutung der drei großen Predigten vom Sommer 1941 kann gar nicht hoch ge­nug eingeschätzt werden. Im ganzen deutschen Reich und darüber hinaus waren die Menschen elektrisiert und empfanden das Befreiende dieser Predigten, die die Gräu­eltaten aus dem Dunkel des Schweigens herausholten und laut aussprachen, was viele insgeheim dachten, als die Aktion zur Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“ anlief. Die Predigten wurden im katholischen wie im evangelischen Milieu verbreitet und diskutiert; so wissen wir jetzt, dass auch im Elternhaus Stellbrink im lippischen Detmold über die Galenpredigten gesprochen wurde, als der Pastor aus Lübeck zum letzten Mal bei seinen Schwestern zu Besuch war – im August 1941.



    Und es kann gar kein Zweifel mehr daran bestehen, dass gerade die von beiden Kon­fessionen betriebene Verbreitung und Vervielfältigung der Galen-Predigten, wie sie hier in Lübeck stattfand, das Hauptärgernis für die Nazis darstellte. Der auflodernde Flächenbrand musste ausgetreten werden; nur so kann man sich die ganze Wucht der einsetzenden Strafverfolgung erklären.



    Sie, lieber Herr Bischof Kohlwage, haben das mehrfach herausgestellt, wenn Sie vom Stellvertreter-Prozess sprachen. Die Lübecker Geistlichen hatten hier in Lübeck nicht so einen Schutzwall, wie ihn der prominente Bischof Galen im Münsterland besaß: Ihn wollten sich die Nazis nach dem Krieg vornehmen, an den vier Gemeindeseelsorgern aber sollte ein Exempel statuiert werden.



    Ein jüngstes Dokument, das Herr Professor Voswinckel ausgegraben hat und das Sie in der Ausstellung finden, unterstreicht dies deutlich. Es handelt sich um einen Brief des Reichsjustizministers, worin zum Ausdruck kommt, dass der Führer höchstpersönlich die Anklageschrift gegen die Vier Lübecker abgesegnet hat, aber mit der ausdrücklichen Anordnung, dass alle Stellen, wo der Bischof von Münster Erwäh­nung fand, zu streichen seien!



    Dieser Bischof, der einst nach den Worten seines Vetters und Amtskollegen Konrad von Preysing als „ganz durchschnittlicher Zeitgenosse von durchaus beschränkten Geistesgaben“ sein Amt begonnen hatte, war durch sein unerschrockenes Wort plötz­lich in aller Munde, von der Führerkanzlei bis zur kleinsten Dorfgemeinde, aber eben auch – durch tausendfache Feldpostbriefe – bis zum entferntesten Frontsoldaten in Rußland oder am Skagerrak. Dieser Bischof hatte, wie Papst Benedikt es jüngst aus­drückte, in finsterer Zeit das Licht der Wahrheit aufgerichtet.



    4. Seligsprechung von Galens



    Vor diesem Hintergrund erfolgte im Oktober 2005 die Selig­sprechung Kardinal von Galens. Ich weiß, dass manche unter Ihnen bei diesem Thema Fragen haben. Die Seligsprechung oder Heiligsprechung ist eine durch die Jahrhunderte geübte Praxis in der katholischen Kirche. Sie besagt, dass solche Menschen Vorbilder christlichen Lebens sind. Das sind die Lübecker Märtyrer ebenso wie Kardinal von Galen. Dass die evangelische Kirche diese Praxis der Seligsprechung nicht kennt, trennt die vier Lübecker Geistlichen nicht. Wir haben uns darauf verständigt, dass jede Kirche ihre Form des Gedenkens pflegt, dass unser gemeinsames Gedenken aber allen vier Märtyrern gilt. Dabei ist wichtig, was der Münsteraner Historiker Hubert Wolf kürzlich ausführte. Er schreibt: „ Selige sind nach der Lehre der Kirche durchaus keine perfekten Menschen ohne Fehler und Tadel. Sie stehen vielmehr exemplarisch für bestimmte christliche Tugenden, für ein Handeln aus dem Glauben in einer bestimmten Situation – trotz aller ihrer menschlichen Beschränktheiten.“



    Selige oder Heilige, so könnte man auch sagen, sind Menschen durch die es uns leichter fällt, bewusst und tatkräftig unseren Glauben zu leben.



    Unsere vier Märtyrer helfen uns jetzt im 21. Jahrhundert, unseren Glauben zu leben, auch wenn wir heute mit völlig anderen Anforderungen und Fragen zu tun haben. Es bleibt unsere Pflicht und unsere Freude, von den Lübecker Märtyrern zu erzählen und ihr Gedenken lebendig zu halten.



    Ich danke allen, die sich im Arbeitskreis 10. November beteiligen, allen, die in der ökumenischen Arbeitsgruppe tätig sind und allen, die sich in unserer Gesellschaft, auch in den Schulen, für das Gedenken der Lübecker Märtyrer einsetzen.



    Die Herausforderungen des Glaubens und die Versuchungen zum Unglauben sind zu jeder Zeit anders. Damals wuchs der adelige Bischof, der befangen schien in einer Welt festgefügter Handlungsmuster, über sich selbst hinaus und wurde vom mittelmäßigen Kanzelred­ner zu einem mutigen Prediger, von einem gehorsamen Staatsbürger zu einem Widerständler gegen einen Staat, den er als Unrechtsregime erkannt hatte.



    Und auch Pastor Karl Friedrich Stellbrink machte starke Wandlungen in seinen Haltungen und Anschauungen durch. Das wird in der Ausstellung deutlich. Aber zuletzt war er eben doch der Prediger, der in gutem Kontakt zu den Lübecker Kaplänen und zu Lübecker katholischen Familien das nationalsozialistische Unrecht offen beim Namen nannte und der für dieses Bekenntnis sein Leben ließ.



    5. Lübecker Geistliche: Wege der Annäherung



    Ein entscheidendes Jahr war offenbar das Jahr 1941. In diesem Jahr machte Pastor Stellbrink die Bekanntschaft mit den Kaplänen und war besonders beeindruckt von Johannes Prassek. Von diesem ist schon in seiner ersten Kaplansstelle in Wittenburg bezeugt, dass er ein außerordentliches Charisma besaß und dass er nach seiner Versetzung gleichermaßen von Katholiken und Lutheranern vermisst wurde. 1941 festigte sich auch die Bekanntschaft, ja Freundschaft Stellbrinks mit der katholischen Familie von de Berg, deren jeweils jüngste Töchter in dieselbe Klasse gingen. Es ist zuverlässig bezeugt, dass Stellbrink und Vater von de Berg in dessen Wohnung in der Fleischhauer­straße nicht selten zusammen beteten, für das deutsche Volk, für ein Ende des Krie­ges.



    Als schließlich die Predigten des Bischofs von Galen Lübeck erreichten, fertigte auch Pastor Stellbrink – ebenso wie die Kapläne mit ihren Jugendlichen – Durchschriften und Vervielfältigungen an. Er schickte sie u.a. an einen ehemaligen Konfirmanden, der jetzt als Soldat an der Ostfront war und fragte in seinem Brief: „Haben Sie z.B. von den großen Predigten des Grafen Galen, Bischofs von Münster i. W., gehört?“ Auch dieses Dokument finden Sie in der Ausstellung, es ist der Brief an Walter Ruder vom 3. Dezember 1941.



    Zuletzt, vier Wochen vor seiner Verhaftung, erlebte Stellbrink seinen eigenen „Kreuz­kampf“. Diese Geschichte ist hier viel zu wenig bekannt, weil die Gestapo kein Inter­esse hatte, dass sie an die Öffentlichkeit kam: Stellbrink sah, wie in der Ka­pelle des Vorwerker Friedhofs das Kruzifix mit einem Mantel verhängt war. Damit war für ihn die letzte Illusion zerstört, und spätestens jetzt war es ihm Gewissheit: Christentum und Nazi-Staat gehen nicht zusammen. Und genau dieses Erlebnis war es, das ihn ver­anlasste, in der Palmarum-Predigt, in Reaktion auf den Luftangriff, aus­zurufen: „Gott spricht jetzt mit mächtiger Stimme!“



    Nach dieser Predigt radelt er durch die zerstörte Stadt und vertraut seine jüngste Tochter Waltraut der Obhut der Familie von de Berg an. Er wusste, dass die Gestapo hinter ihm her war.



    6. Das gemeinsame ökumenische Martyrium



    Mit der Verhaftung am 7. April 1942 begann das gemeinsame Martyrium der Vier bis hin zu ihrem gemeinsamen Tod. Weithin leuchtet heute ihr Vorbild, über Lü­beck und über Schleswig Holstein hinaus. Von katholischer Seite wurde vor vier Jah­ren ein offizielles Verfahren der Seligsprechung eingeleitet, ähnlich wie bei Kardinal von Galen, ähnlich aber auch wie bei Maria Merkert, der Grün­derin der Grauen Schwestern, denen Thomas Mann in den Buddenbrooks ein so schönes Denkmal gesetzt hat. Sie sehen, eine Seligsprechung ist auch eine Art des Bewahrens, des Sicherns und des Erzählens, so wie es der Dank-Psalm 107, ausdrückt:



    Diejenigen, die Gott vom Verderben befreite,

    sie sollen dem Herrn danken für seine Huld,

    für sein wunderbares Tun an den Menschen.



    Ich bin sicher, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass in den Lübecker Märtyrern Gottes Geist am Werk gewesen ist ebenso wie im Wirken des Kardinal von Galen. Das in lebendiger, dankbarer Erinnerung zu halten, dazu soll das Seligsprechungsverfahren dienen, ebenso wie die Gedenkformen in der evangelischen Kirche und ebenso wie unsere Ausstellung, die ich hiermit eröffne.

  • Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen im ökumenischen Gottesdienst im Großen Michel zu Hamburg am 3. Oktober 2008 / Hamburg / 03. 10. 2008
    Eph 2,19-22



    Als Hausgenossen Gottes am Haus unserer Bundesrepublik weiterbauen



    Verehrte Mitfeiernde unseres Gottesdienstes,



    Ihr seid Hausgenossen Gottes. Das ist das entscheidende Signal aus der Lesung, die wir gerade gehört haben. Hausgenossen Gottes? Wir in Deutschland? Welchen Stellenwert hat Gott in unserem Land?



    Viele Menschen in Deutschland haben ein Gespür für Gott. Viele auch eine Sehnsucht nach Gott. Das ist das Ergebnis neuerer Umfragen in der Bundesrepublik. Menschen suchen Gott. Und viele machen dabei die persönliche Erfahrung: Gott sucht auch mich. Ja, ich könnte Gott gar nicht suchen, wenn er mich nicht schon längst gefunden hätte.



    Viele Menschen stimmen inzwischen aus eigenem Erleben dem Dichter Novalis zu, wenn dieser sinngemäß sagt: „Wo Gott verschwindet, kommen die Gespenster.“ In den Medien ist täglich von solchen Gespenstern die Rede. Wir wollen aber nicht Hausgenossen von Gespenstern sein. Wir wollen Hausgenossen Gottes sein.



    Dafür braucht unser Haus ein starkes Fundament. Und Deutschland ist ein Haus mit einem starken Fundament. Denn in der Präambel zu unserem Grundgesetz heißt es: Unser Zusammenleben geschieht in der Verantwortung vor Gott.



    Verantwortung: Darin steckt Antwort. Wir antworten mit unserem Leben auf das, was wir von Gott erfahren. Und wir antworten auf das, was wir in unserer Geschichte erfahren.



    Weiterbauen an der Vereinigung Deutschlands



    Zu den herausragenden Ereignissen unserer Geschichte gehört die Wiedervereinigung Deutschlands. Unser Erzbistum Hamburg ist ein Kind dieser Vereinigung. Zu unserem Erzbistum hier im Norden gehören Mecklenburg, Schleswig-Holstein und Hamburg. Ost und West.



    Ich freue mich darüber, dass die unmenschliche Grenze quer durch Deutschland Vergangenheit ist. Wie unmenschlich die Kommunistische Diktatur war, können Sie heute Abend im Fernsehen noch einmal miterleben in dem Film „Das Leben der Anderen“. Ich bin dankbar für die Einheit. Auch wenn wir die Möglichkeiten der Einheit noch längst nicht alle ausgeschöpft haben.



    Aber wir haben in unserem gemeinsamen Haus auch schon viel erreicht. Die regionalen Gegensätze in Deutschland sind weitaus geringer als in manchen anderen europäischen Ländern. Zu unserer Verantwortung gehört auch, das nicht klein zu reden, was an Miteinander bereits gewachsen ist.



    Beim Weiterbauen das Fundament beachten



    Verantwortung vor Gott heißt aber auch: Renovieren, umbauen, ausbauen – auch das gehört zu unserem gemeinsamen Haus. Dieses Haus ist ja nie so fertig, dass wir uns bequem zurücklehnen könnten. Neue Anforderungen kommen auf uns zu. Im Hinblick auf Europa. Im Hinblick auf ein gerechtes und friedliches Miteinander in der Welt. Neue Mitbewohner unseres Hauses kommen zu uns aus anderen Kulturkreisen und Religionen. Auch für diese und mit diesen müssen wir weiterbauen.



    Wir bauen weiter auch für die Menschen, deren Leben bedroht ist. Wir setzen uns ein für das Leben. Das Leben am Anfang und am Ende ist bedroht wie nie zuvor. Bedroht nicht von außen. Bedroht von innen. Bedroht von uns selbst. Bedroht durch eine immer lauter werdende Propaganda für aktive Sterbehilfe. Lebensrecht und Würde eines jeden Menschen gehören zu den tragenden Wänden in unserem gemeinsamen Haus. Wir dürfen diese Wände nicht durchlöchern.



    Der Tag der Deutschen Einheit ist eine gute Gelegenheit, allen in Politik und Gesellschaft zu danken, die Leben und Würde des Menschen schützen. Schützen durch Beratung, die dem Leben dient. Schützen auch durch materielle Hilfe. Schützen durch Hospizarbeit und Palliativmedizin. Schützen, wo es notwendig ist, auch durch Gesetze. Wir wollen die freie Entfaltung eines jeden in unserem Haus. Aber die Freiheit des einen findet seine Grenze am Recht des anderen. Es gibt kein abgestuftes Lebensrecht.



    Nahsicht und Weitsicht



    Von Hamburg aus ist es nicht weit zur Nordsee und zur Ostsee. Am Meer liebe ich besonders den weiten Blick. Als Hausgenossen Gottes schauen wir nicht nur auf die nächsten Schritte in unserer Zeit. Wir haben auch den weiten Blick auf das Ziel über alle Zeiten hinaus.



    Kürzlich haben wir in Hamburg wieder die Nacht der Kirchen gefeiert. Musik als geistliche Erfahrung war ein Thema. Wer im Singen und Musizieren Gott preisen kann, trotz vieler Sorgen und Unzulänglichkeiten, der baut mutig mit an unserem gemeinsamen Haus. Aber der achtet auch auf das Fundament.



    Dann können wir auf unserem christlichen Fundament beherzt weiterbauen am Hause unserer Bundesrepublik. So wie es unser Grundgesetz und unsere Lesung heute sagen: In Verantwortung vor Gott. Als Haugenossen Gottes.
  • Begrüßungsansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen beim Medienempfang am 3. September 2008 / Mariendom Hamburg / 03. 09. 2008
    Sehr geehrte Damen und Herren,

    sehr geehrter Herr Professor Steiner,

    sehr geehrte Frau Steiner,



    ich freue mich, dass wir uns in der Woche vor dem 42. Mediensonntag, dem Sonn-tag der Sozialen Kommunikationsmittel, wieder treffen. Sie wissen, dass ich Sie gerne einlade, um nach einem Jahr wieder einmal Bilanz zu ziehen und ohne Ta-gesaktualität ein paar Stunden mit Ihnen zusammen zu sein.



    Ich danke Ihnen, dass Sie auch in diesem Jahr wieder in intensiver Zusammenar-beit die Meinung der katholischen Kirche erfragt haben, Themen selber gesetzt und Recherchen angestellt haben. Sie haben uns hoffentlich in allen Fällen als kompe-tent und verlässlich wahrgenommen. Und auch als offen und auskunftsfreudig, auch dann, wenn wir Fehler eingestehen mussten.



    Ich bin Ihnen dankbar, dass es in der Berichterstattung fair und genau zuging. Wobei die Ausnahmen hier nicht die Regel brechen.



    Wenn ich Sie heute nun auf unsere zentrale Bistumsbaustelle eingeladen habe, dann deshalb, weil ich gerne Ihre angeborene journalistische Neugier befriedigen möchte. Als katholische Kirche im Norden haben wir uns vorgenommen, den neuen Mariendom zu gestalten. Zwar waren viele Arbeiten dringend erforderlich, weil es Schäden an den Fenstern, Wänden und an den Installationen gab.



    Aber das Domkapitel als Bauherr hat es zudem für notwendig und sinnvoll erach-tet, für das jüngste Bistum in Deutschland – wir sind dreizehn Jahre alt, also mitten in der Pubertät – und für unsere Stadt Hamburg eine ansprechende und einladende Bischofskirche zu errichten.



    Ich freue mich darüber, denn heute darf ich Ihnen als den Vertretern der Öffent-lichkeit zeigen, welche Erneuerungen und Akzentsetzungen nach intensivem Bera-ten und Ringen nun bis zur Einweihung am 23. November umgesetzt werden.



    Oft werde ich gefragt, warum wir über sieben Millionen für die Erneuerung des Doms ausgeben, wo doch das Geld den Armen hätte zugute kommen können.



    Ich entgegne dann, dass die Frage berechtigt wäre, wenn wir die Hilfe für die Armen in der Welt vergessen würden. Als Misereorbischof, zuständig für das bischöfliche Hilfswerk, bin ich ständiger Mahner, die Armen nicht zu vergessen.



    Als Bischof und Hirte für 400.000 Katholiken in der nördlichen Diaspora bin ich aber genauso verpflichtet, für die Weitergabe und Vertiefung des Glaubens gerade in einem säkularen Umfeld zu sorgen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in unserer Zeit gerade der Kunst und der künstlerischen Gestaltung bedarf, um Men-schen mit allen Sinnen erfahren zu lassen, was Glauben bedeutet. Darin besteht ja wesentlich der Wert und die Aufgabe der Kunst und der Kultur, Zeugnis zu geben von einer anderen, aufs erste vielleicht nur schwer vermittelbaren Dimension.



    Und es zeigt sich immer wieder: Wer einen Zugang findet zur Dimension Gottes, der findet auch einen Zugang zu den Notleidenden und zur Notwendigkeit des Helfens.



    Von Anfang an habe ich Wert darauf gelegt, dass wir bei der Realisierung der Maßnahmen um Spenden bitten und ohne Kirchensteuermittel auskommen wollen. Daher sammeln wir auch fleißig weiter. Mit Erfolg.



    Christlicher Glaube drückt sich aus im Wort der Heiligen Schrift, in der Feier der Sakramente, in der Begegnung mit Menschen, in der Hilfe für Notleidende und eben auch in der Begegnung mit der Kunst.



    Ich möchte hier nicht große Vergleiche mit anderen Bischofskirchen anstellen. Auch der neue Mariendom zählt zu den bescheidensten unter den siebenundzwanzig Kathedralen in Deutschland.



    Aber unser neuer Mariendom soll offen und einladend sein, um viele Menschen die Dimension des Glaubens erfahren zu lassen. Unser Dom soll ein Signal dafür sein, dass es mehr gibt als alles, was ich mir kaufen und erarbeiten kann. Und dass die Dimension des Glaubens zu einem erfüllten Leben führt.



    Deshalb freue ich mich auf den letzten Sonntag dieses Kirchenjahres, den 23. No-vember, wenn wir wieder feierlich in unseren erneuerten Dom einziehen können. Schon heute – und das ist mein Schlusssatz – lade ich Sie herzlich dazu ein.

  • Ansprache zur Verabschiedung von Domkapitular Ansgar Hawighorst als Leiter des Personalreferates und der Einführung von Pfarrer Ansgar Thim als Nachfolger / Hamburg / 01. 09. 2008
    Verehrte, liebe Mitbrüder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

    lieber Herr Domkapitular Ansgar Hawighorst,

    lieber Herr Pfarrer Ansgar Thim,

    verehrte Gäste, meine sehr verehrten Damen und Herren,



    als einige Zeit nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 ein neuer Trainer an Stelle von Sepp Herberger gesucht wurde, da war die Ratlosigkeit groß. Viele Stimmen gab es, die sagten: Wie soll das jetzt nur weitergehen? Mit Herberger sind wir Weltmeister geworden. Ein Nachfolger wird es da sehr schwer haben.



    Wir sind im Erzbistum Hamburg mit Domkapitular Ansgar Hawighorst als Personalreferent zwar nicht Weltmeister geworden. Aber er hat mit sicherer Hand die Personalpolitik in den ersten dreizehn Jahren des Erzbistums gestaltet. Das konnte er auch deshalb, weil er ja bereits viel Erfahrung aus dem Bistum Osnabrück mitbrachte.



    Als ich dann ins Erzbistum kam, legte Domkapitular Hawighorst mir dar, dass er gern noch einmal Pfarrer werden wolle. Ich habe das lange überhört und immer wieder herausgezögert. Bei einem Spaziergang vor einem Jahr habe ich dann nach-gegeben. Denn jede Gemeinde wünscht sich ja einen jungen Pfarrer. Und deshalb wird es bei Domkapitular Hawighorst jetzt langsam Zeit.



    Ich weiß nicht, wie gut Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, die Aufgaben eines Personalreferenten einschätzen können. Jeder Streit in einer Gemeinde, in den ein pastoraler Mitarbeiter einbezogen ist, jede Beschwerde über einen Seelsorger oder eine Seelsorgerin, jeder Ärger über eine Personalsituation, jede Forderung nach einer neuen pastoralen Mitarbeiterin – all das kommt zwar meist beim Bischof an, aber all das landet dann in der Regel beim Personalreferenten. Sonst wäre der Hauptauftrag des Bischofs, nämlich das Evangelium zu verkünden, nicht zu erfüllen. Weil das so ist, ist ein unbedingtes Vertrauensverhältnis zwischen Erzbischof und Personalreferent unerlässlich. Ich bin Herrn Domkapitular Hawighorst sehr dankbar, dass er dieses Vertrauensverhältnis stets gepflegt hat. Ich konnte ihm jeden Vorgang anvertrauen. Er hat mit hohem Verantwor-tungsbewusstsein seine Aufgaben erfüllt.



    Wichtig ist aber auch das Vertrauensverhältnis zwischen Personalreferent und den Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Auch für diese war Herr Domkapitular Hawighorst ein stets bereiter und vielgefragter Gesprächspartner.



    Ein Personalreferent ist oft wie ein Bäcker, vor dessen Laden hundert Menschen stehen, die alle ein Brot möchten, der aber nur fünfzig Brote hat. Wie damit umgehen? Domkapitular Hawighorst hat diese schwierige Aufgabe mit Entschiedenheit, Menschenfreundlichkeit und großer Gesprächsbereitschaft gelöst. Die Fünfzig, deren Wünsche der Personalreferent erfüllen kann, sind zufrieden. Die anderen Fünfzig sind enttäuscht. Auch damit muss ein Personalreferent leben.



    Es geht in der Aufgabe des Personalreferenten aber nicht nur um Versetzung. Es geht auch um Begleitung. Domkapitular Hawighorst hat unzählige Besuche ge-macht bei Mitbrüdern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wie geht es dir? Was bedrückt dich? Wie kann ich dir helfen? Der Personalreferent ist oft in der Si-tuation, nicht konkrete Hilfe anbieten zu können. Aber die Last mittragen, das kann er, und das ist nicht wenig. Für manchen Mitbruder und manche Mitarbeite-rin im pastoralen Dienst war es eine große Hilfe, wenn sie erleben durften: Ich stehe mit meinem Problem nicht allein. Wenn sie das Bewusstsein haben konnten: Meine Sorgen werden vom Personalreferenten mitgetragen, auch wenn er sie nicht direkt beheben kann.



    An den Personalreferenten werden vonseiten der Pfarrer, der Kapläne, der Diakone, der Gemeindereferentinnen und Pastoralreferenten viele Wünsche herangetragen. Jeder hat das Recht oder sogar die Pflicht, seine Wünsche zu benennen. Aber nicht jeder Wunsch ist realisierbar. Sei es aus sachlichen Gründen, weil die gewünschte Stelle nicht mehr besetzt werden kann oder schon besetzt ist. Sei es aus persönlichen Gründen, weil die Selbsteinschätzung und die Fremdeinschätzung durch den Personalreferenten und die Mitglieder der Personalkonferenz nicht übereinstimmen.



    Da kommt es dann manchmal zu schwierigen Fragen, die dann oft auch nicht in die Öffentlichkeit gehören. Transparenz stößt da aus Gründen der Diskretion oft an Grenzen. Domkapitular Hawighorst hat beides praktiziert: eine gewinnende Offenheit und, da wo es notwendig war, eine strenge Diskretion. Auch dann, wenn diese nicht verstanden wurde.



    Ein Personalreferent muss die personelle Situation im Erzbistum gut im Blick haben. Er muss aber auch die Zukunft im Blick haben. Der Planungsrahmen 2010, inzwischen fortgeschrieben für 2015, ist dabei eine gute Hilfe. Auch wenn die Zu-kunft, wie es jetzt aussieht, uns noch härter treffen wird, als im Personalrahmen vorgezeichnet ist.



    Was die Pfarreistruktur betrifft, so stehen wir im Erzbistum in Veränderungen, wie es sie noch nie gegeben hat. Das gilt mehr oder weniger für alle Bistümer in Deutschland. Der Restrukturierungsprozess ist für uns alle eine große Belastung. Das gilt für alle Seelsorgerinnen und Seelsorger. Das gilt für die Mitglieder in unseren Räten und Gremien. Das gilt für alle Gemeindemitglieder. Vor allem aber gilt das auch für den Personalreferenten. In Gemeinden, welche die Zeichen der Zeit erkannt haben, wird es ihm leicht gemacht. Aber wo das nicht der Fall ist, wo die Meinung vorherrscht, es müsste und es könnte alles so bleiben, wie es ist, da bedarf es vieler Gespräche und starker Überzeugungsarbeit. Dass Domkapitular Hawighorst auch immer wieder diese Aufgabe beharrlich erfüllt hat, finde ich besonders dankenswert.



    Meine Damen und Herren, wenn ich Ihnen das alles so darlege, dann kommt mir die Frage, was wohl in unserem neuen Personalreferenten vor sich geht. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich im Stillen fragt: Und das alles soll ich jetzt schaffen?



    Ja, der Personalreferent trägt eine besonders große Last. Aber es ist die Last des Evangeliums, welches überall in Schleswig-Holstein, in Mecklenburg und in Ham-burg verkündet werden soll. Die Tätigkeit des Personalreferenten ist kein bürokratischer Akt. Sie steht ganz im Dienst des Evangeliums.



    Das ist wahrscheinlich auch das entscheidende Geheimnis, warum man Herrn Domkapitular Hawighorst nicht traurig oder mürrisch erlebt, sondern immer wieder von einer entwaffnenden Heiterkeit und Offenheit. Das hat uns allen im Bistum sehr gut getan. Dass der Dienst des Personalreferenten ein Dienst am Evangelium ist, das wird auch unserem neuen Personalreferenten, Herrn Pfarrer Ansgar Thim, Mut machen. Es ist ein gutes Signal, dass unser bisheriger Personalreferent aus der Pfarrerschaft kam und wieder Pfarrer wird, und dass unser neuer Personalreferent ebenfalls wieder aus der Pfarrerschaft kommt. Das Signal macht deutlich: Es geht im Dienst des Personalreferenten um die Pfarreien im Bistum, es geht um die Verkündigung des Evangeliums.



    Mut machen kann unserem neuen Personalreferenten auch, dass er mit seiner Ar-beit nicht allein steht. Er hat im Personalreferat tüchtige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn heute mein besonderer Dank unserem Domkapitular Hawighorst gilt, dann sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Personalreferat ausdrücklich mit eingeschlossen.



    Und ich bin sicher, dass diese auch Herrn Pfarrer Thim engagiert zur Seite stehen.



    Zusätzlich zu den Mitarbeiterinnen im Personalreferat entlastet es den Personalreferenten auch, dass er keine einsamen Entschlüsse fassen muss und kann und darf. Jede Personalie, soweit es nicht die Verschwiegenheitspflicht verbietet, wird in der Personalkonferenz besprochen. Oft wird dort um die rechte Entscheidung regel-recht gerungen. Unsere Weihbischöfe, der Generalvikar, der Leiter der Pastoralen Dienststelle und der Regens sind dabei kundige und verlässliche Akteure.



    Mit der Strukturreform in den Pfarreien ändert sich auch der Dienst der Pfarrer. Das Pfarrergremium unter der Leitung unseres neuen Personalreferenten hat dazu wichtige Schritte erarbeitet. Pfarrer Thim ist dadurch mit den Sorgen der Pfarrer und mit den Strukturfragen des Bistums besonders gut vertraut. Auch das wird ihm in seiner neuen Aufgabe zugute kommen.



    Die Nachfolger von Sepp Herberger als Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft waren alle sehr verschieden. Das ist natürlich auch bei den Personalreferenten so. Jeder kann und soll auch seine persönlichen Fähigkeiten in diesen wichtigen Dienst einbringen.



    Verehrte liebe Mitbrüder, verehrte liebe Schwestern und Brüder, meine sehr verehr-ten Damen und Herren, mit herzlichem Dank verabschiede ich unseren bisherigen Personalreferenten Ansgar Hawighorst aus der Leitung des Personalreferates, nachdem ich ihn bereits zum Pfarrer der Pfarrei Heilige Geist in Wedel ernannt habe.



    Zugleich führe ich Pfarrer Ansgar Thim in seine neue Aufgabe ein und heiße ihn herzlich willkommen.



    Von Ansgar Hawighorst zu Ansgar Thim unter dem Schutz unseres Bistumspatrons, des Heiligen Ansgar, dürfen wir mutig vorangehen.
  • Predigt bei der Priesterweihe von Diakon Markus Diederich im Kleinen Michel / Hamburg / 10. 05. 2008


    Lieber Mitbrüder im Diakonen-, Priester-, und Bischofsdienst,

    liebe Schwestern und Brüder,



    kürzlich machte Schillers Schädel Schlagzeilen. Ist er es oder ist er es nicht? Das war die Frage. Gemeint ist der Totenschädel des Dichters Friedrich Schiller. Dieser und das dazugehörige Skelett ruhten angeblich bisher in Schillers Sarg in der Fürs-tengruft zu Weimar. Seit wenigen Tagen steht durch die DNA-Analyse fest: Er ist es nicht.



    Es gab viele gläubige Verehrer Schillers, die zur Fürstengruft in Weimar gepilgert sind. Und es gab, aus guten Gründen, immer auch die Zweifler, die der Meinung waren, der Leichnam Schillers sei bald nach der Beisetzung vertauscht worden. Al-so Gläubige und Zweifler. Jetzt ist es klar: Die Zweifler hatten Recht.



    Gläubige und Zweifler, die gibt es auch in unserem Evangelium heute. Die Jünger, die glauben, fallen vor Jesus nieder. Und von den anderen heißt es: Sie hatten Zweifel.



    Und wie ist das bei uns jetzt? Wer von uns glaubt? Wer von uns zweifelt? Was für eine Frage! Wenn es so einfach wäre. Glaube ist ja nicht wie ein Goldstück, das ich in der Hand habe oder eben nicht habe. Glaube ist Beziehung zum lebendigen Gott. Diese Beziehung kennt ihre Höhen und Tiefen. Und auch ihre Zweifel. Wie menschliche Beziehung auch. Die Beziehung zu Gott kennt ihre hellen und dunk-len Stunden. Wie menschliche Beziehung auch. Die Beziehung zu Gott kann sich entwickeln oder verkümmern. Wie menschliche Beziehung auch. Aufgabe des Priesters ist es, dafür zu wirken, dass der Glaube sich entfalten kann. Bei sich selbst und bei den Menschen, zu denen er gesandt ist.



    Drei Haltungen sind notwendig, damit der Glaube sich entfalten kann. Die erste Haltung heißt: Offenheit.



    Gott achtet die Freiheit des Menschen. Denken Sie an die Lesung aus dem Paulus-brief vorhin: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Gott will uns als freie Menschen. Er führt uns, wenn wir es wollen. Aber er führt uns an sehr langer Leine. Das kann man an der Biographie unseres Weihekandidaten ablesen: Banklehre, Dip-lomvolkswirt, politisch und musisch interessiert und begabt. Aber eben auch offen für den Anruf Gottes.



    Dieser Impuls des Anrufs Gottes ergeht an jeden Menschen. Wer dafür offen ist, kommt zum Glauben. Wer dafür offen ist, findet zu seiner ganz persönlichen Beru-fung. Wenn auch oft auf Umwegen. Denn Gott ruft jeden Menschen mit eigener Stimme. Aber Gott drängt sich nicht auf. „Du, der leiseste von allen“, heißt es in einem Gedicht Rainer Maria Rilkes.



    Vielleicht ist das heute die größte Gefährdung des Glaubens: Dass der leise, unauf-dringliche Ruf Gottes untergeht. Weil unsere Welt so schrill ist, so laut. Weil sich so vieles Zweitrangiges vordrängt und wichtig macht. Wer aber für den Ruf Gottes of-fen ist, der findet seinen ganz persönlichen Weg des Glaubens. Der findest seinen Platz in der Kirche. Der entdeckt für sich die Lebensqualität des christlichen Glau-bens.



    Dazukommen muss zur Offenheit dann eine zweite Haltung: Die Neugierde, das Suchen nach tragfähigen Antworten, das Wissenwollen. Kein wacher Zeitgenosse kommt an der Frage vorbei: Worauf läuft mein Leben hinaus? Was soll das Ganze? Die schnellen Antworten unserer Zeit lauten: Events, Action, Spaß. Es muss ja auch Spaß machen, so lautet oft die maximale Lebensphilosophie. Das muss nicht schlecht sein. Aber das reicht nicht. Denn das Suchen nach der Wahrheit seines Lebens ist im Menschen grundgelegt. Ich kann diese Sehnsucht, diese Sinnsucht, dieses Suchen nach Sinn überspielen oder betäuben. Ich kann sie durch immer neue Abwechslung verdrängen.



    Und ich kann diesem Suchen Raum geben. Es aktiv aufnehmen. Im Gebet. Im Got-tesdienst. In der Zuwendung zu den Menschen. Vor allem zu denen, die am meisten auf meine Hilfe angewiesen sind.



    Offenheit, Wissenwollen und als dritte Haltung die Entschiedenheit. Ich kann nur glauben, wenn ich auch glauben will.



    Der Vater unseres Weihekandidaten hat mit unserem Heinrich Theissing Institut in Schwerin eine sehr lesenswerte Chronik der katholischen Gemeinden Mecklenburgs erstellt. Es geht um den Zeitraum von 1709 bis 1961. Darin kann man in jedem Kapitel nachlesen, wie viel Entschiedenheit, wie viel Willenskraft dazu gehören, den Glauben zu leben. Das gilt für das Ringen um Religionsfreiheit im 19. Jahrhundert. Das gilt für die Zeit der Schikanen gegen das Christentum in der Nazidiktatur und in der Diktatur des Kommunismus. Der christliche Glaube ergibt sich nicht einfach von selbst und nebenbei. Wer nicht mit Entschiedenheit dranbleibt, geht unter.



    Wer nicht mit Entschiedenheit dranbleibt, geht unter. Das gilt auf andere Weise auch in Zeiten der Freiheit, wie wir sie Gott sei Dank erleben dürfen. Denn es gibt auch eine Diktatur der Freiheit. Die äußert sich in Bindungslosigkeit und Beliebig-keit. Das wusste offenbar auch der Apostel Paulus, wenn er uns heute in der Le-sung zuruft: „Ihr seid zur Freiheit berufen. Aber nehmt die Freiheit nicht als Vor-wand für das Fleisch.“

    Für das Fleisch bedeutet hier: Für das, was euch gerade passt. Für das, was euch gerade als das Bequemste und Angenehmste erscheint. Die entschiedene Bindung an Jesus Christus im Gebet, im Gottesdienst und in der Nächstenliebe ist für die Erfahrung des Glaubens unerlässlich.



    Offenheit für die Wirklichkeit Gottes, Kenntnis von der Wahrheit Gottes, Entschie-denheit für das Leben mit Gott. Mit diesen drei Haltungen kann jeder Mensch seine ganz persönliche Berufung entdecken und leben. Offenheit für die Wirklichkeit Got-tes, Kenntnis von der Wahrheit Gottes, Entschieden für das Leben mit Gott. Diese drei Haltungen wird unser Weihekandidat vorleben und verkünden.



    Gott ist Realität. Gott ist Wirklichkeit, die sich aber nicht wie Schillers Schädel durch DNA-Analyse verifizieren oder falsifizieren lässt. Gott ist Wirklichkeit, die all unser Denken, Reden und Tun übersteigt. Und die sich dennoch mitteilen will. Die mit uns Gemeinschaft haben will. Gott bleibt Geheimnis. Aber ein Geheimnis, das dem Leben eine große Perspektive eröffnet. Für heute, für morgen, für immer.
  • Vortrag im Thalia-Theater: "Das Fremde in uns - Abgründiges im Menschen als Versuchung und Verheißung" / Hamburg / 06. 03. 2008
    Meine Damen und Herren, ich springe mitten hinein in unser Thema mit einem literarischen Zitat. Gefunden habe ich es bei Elie Wiesel in seinem Buch „Der Schwur von Kollvillage“.



    Da wird einer nachts wach. Sofort ist ihm bewusst: Es steht jemand neben meinem Bett. „Hast du Angst?“, fragt der Fremde – „Ja, ich habe Angst.“ – „Vor mir? Hast du Angst vor mir?“ – „Ja, vor dir.“ – „Willst du, dass ich weggehe?“ – „Ja, ich möchte es.“ – „Wirst du dann keine Angst mehr haben?“ – „Nein, wenn du mich allein lässt, würde ich mich nicht mehr fürchten.“ – „Bist du sicher?“ – „Ganz und gar.“ – „Ich nicht,“ sagt der Besucher, während er zurückweicht. Der Mensch fühlt, wie Panik ihn erfasst. Es wird ihm klar, dass er soeben zum ersten Mal dem Fremden begegnet ist, der immer schon in ihm war.



    Der Fremde in uns. Ist das nur eine literarische Erfindung? Oder Realität? Was sagt ihre Erfahrung? Was sagt die Wissenschaft?



    Im Grunde handelt es sich dabei um die Frage, die so alt ist wie die Menschheit selbst. „Was ist der Mensch?“, so fragt die Bibel an verschiedenen Stellen. Zugleich versucht sie Antworten auf die Frage. Sie erzählt vom Anfang der Menschheit, von seiner Freiheit, seinem Schuldigwerden und der Erfahrung von Vergebung.



    Ähnliche Fragen stellen Philosophie und Literatur. Das Theater versucht, solche Fragen und Antworten darauf anschaulich zu machen. Etwa der Iphigeniestoff oder Shakespeares „Maß für Maߓ, die hier im Thalia aufgeführt werden.



    Bevor ich dazu komme, schaue ich in die aktuellen Rollenbücher der Gegenwart, in die Medien. Unsere Hamburger Publikationsorgane „Die Zeit“ und „Der Spiegel“ haben sich in jüngster Zeit ebenfalls der Frage gewidmet, was der Mensch ist. Sie fragen mit naturwissenschaftlichem Interesse nach dem freien Wille des Menschen. Ist der Mensch frei? Oder ist er genetisch, biologisch programmiert? Diese Frage wird ja zum Dreh- und Angelpunkt, wenn es um Fremdes und Abgründiges im Menschen geht.



    Die Neurowissenschaftler Gerhard Roth, Henrik Walter und Rolf Singer vertreten in interessant zu lesenden Artikeln die Ansicht, der freie Wille sei eine Illusion. Nach ihrer Auffassung geht der Willensakt neuronalen Prozessen nicht voraus. Stattdessen ergäbe sich nur nachträglich die bloße Täuschung, sich frei entschieden zu haben. Das Empfinden, etwas zu wollen – der „Willensakt“ also – resultiere als illusionäres Epiphänomen aus den corticalen und subcorticalen Prozessen, die bei der Vorbereitung einer Willkürhandlung ablaufen. Unter anderem beriefen sich die angesehenen Neurowissenschaftler auf Experimente von Benjamin Libet, die dieser in den 1980er Jahren durchgeführt hat. Dabei wurden Probanden gebeten, in einem beliebigen Moment das Handgelenk zu bewegen, während sie eine Art Uhrzeiger verfolgten. Gleichzeitig wurden die Gehirnaktivitäten aufgezeichnet. Nach Libets Deutung zeigte das Experiment, dass die Gehirnaktivität, die dazu führte, dass eine der Personen ihr Handgelenk bewegte, etwa eine halbe Sekunde vor dem Moment einsetzte, in dem die Person sich bewusst dazu entschloss. Ein ähnliches Experiment wurde später von Alvaro Pascual-Leone durchgeführt. Hier wurden Probanden gebeten, zufällig die rechte oder die linke Hand zu bewegen. Alvaro Pascual-Leone fand heraus, dass durch die Stimulation der verschiedenen Hirnhälften mittels magnetischer Felder die Wahl der Person stark beeinflusst werden konnte. Normalerweise wählen Rechtshänder die rechte Hand in ca. 60% aller Fälle. Wurde jedoch die rechte Hirnhälfte stimuliert, wurde die linke Hand in 80% aller Fälle ausgewählt (die rechte Hemisphäre des Hirns ist im wesentlichen für die linke Körperhälfte zuständig und umgekehrt). Trotz dieses nachweislichen Einflusses von außen berichteten die Probanden weiterhin, dass sie der Überzeugung waren, die Wahl frei getroffen zu haben.



    Nun ist der Streit um die Willensfreiheit – wie erwähnt – natürlich viel älter, letztlich ist er so alt wie die Philosophiegeschichte selbst. Reflexionen über die Willensfreiheit – pro und contra – reichen von Sophokles, Platon und Aristoteles in der Antike, über Thomas von Aquin und Martin Luther im Mittelalter, Spinoza, Rousseau und Immanuel Kant in der Neuzeit, Fichte, Schelling und Schopenhauer in der Moderne, bis zu Heidegger und Sartre in der jüngeren Vergangenheit.

    Die Bezeichnungen „freier Wille“ oder „Willensfreiheit“ verfügen dabei über keine allgemeingültige, eindeutige Definition. Verschiedene Philosophen definieren diesen Begriff, der klassisch mit dem lateinischen Begriff „liberum arbitrium“ wiedergegeben wird, zum Teil unterschiedlich. So meinte Arthur Schopenhauer in seiner „Preisschrift über die Freiheit des menschlichen Willens“ von 1839, in der er die Lehre von der Freiheit im Sinne des liberum arbitrium als Irrtum darzulegen sucht, dass man die Frage, ob der Mensch tun könne, was er wolle, zwar bejahen, die entscheidende Frage, ob er auch wollen kann, was er will, verneinen müsse. Die Philosophen haben hier also durchaus sehr differenziert nachgedacht. Aber ich will Sie jetzt nicht mit den verschiedenen philosophischen Theorien über die bedingte und unbedingte Willensfreiheit des Determinismus oder des (ontologischen und epistemischen) Indeterminismus ermüden.



    Interessant ist aber vielleicht, dass die Frage nach dem liberum arbitrium nicht nur in der Philosophiegeschichte eine der schwierigsten Fragen war. In der Theologie beschäftigte sie als sogenannter „Gnadenstreit“ bzw. unter dem Begriff „Prädestinationslehre“ auch die Kirche jahrhundertlang. Freilich hat sich – ich sage einmal vereinfacht – in der Mehrheitsströmung der christlichen Theologie, vor allem auch in der katholischen Kirche, die Überzeugung, dass der Mensch prinzipiell einen freien Willen hat, durchgesetzt. Im Christentum kommt der Willensfreiheit genau besehen sogar eine gewisse Schlüsselstellung zu, denn nur wenn der Mensch sich frei entscheiden kann, kann er letztlich die Verantwortung für sein Tun tragen. Ein gerechter Gott könnte einem Sünder dessen Untaten kaum als Schuld anlasten, wenn der Sünder gar nicht anders gekonnt hätte. Somit wäre auch ein zentrales Element der frohen Botschaft des Evangeliums – die Vergebung der Sünden, die Erlösung – hinfällig. Für die Ethik ergäben sich aus der Leugnung der menschlichen Willensfreiheit größte Dilemmata: Wie kann man jemanden moralisch verantwortlich machen, wenn er in jeder Situation immer nur eine Möglichkeit zu handeln hat? Entbindet der Determinismus nicht den Menschen von seinem moralischen Sollen? Unser ganzes Rechtssystem käme ins Wanken, hätte der Mensch keinen freien Willen. Könnten wir denn überhaupt noch jemanden bestrafen, der keine Wahl hatte?

    In diesem Sinne meinte beispielsweise Paul Schlesinger, der heute legendäre Gerichtsreporter im Berlin in den zwanziger Jahre: „Der Mensch, der schießt, ist ebenso unschuldig (!) wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet.“



    Nein! Unsere Vernunft, unser Gewissen und unser Rechtsempfinden sagen uns, dass das nicht stimmt. Gegenüber den Neurophysiologen Roth, Walter, Singer – und den Experimenten Libets und Pascual-Leones, auf die sie sich berufen –, ist m.E. vor allem zu betonen, dass man akute Entscheidungsprozesse unter Zeitdruck von Grundsatzentscheidungen unterscheiden muss. Erfahren wir unsere moralische Fähigkeit, uns frei für das Gute und das Böse entscheiden zu können, nicht gerade bei existentiellen Gewissensentscheidungen?



    In Goethes Behandlung des Iphigenie-Stoffes – durch Nicolas Stemanns Inszenierung in diesem Hause sind ja zwei Stücke für einen Abend zusammen gedacht worden, Euripides’ „Iphigenie in Aulis“ und Goethes „Iphigenie auf Tauris“ – geht es im wesentlichen auch um die Stimme des Gewissens in uns. Einerseits weiß Goethes Iphigenie sich verpflichtet, ihrem Bruder und seinem Freund zu helfen und sie zu befreien, andererseits steht sie in dem Dilemma, dass Thoas ihr vertraut und sie die Götter auch nicht enttäuschen bzw. verärgern möchte. Nachdem Iphigenie ihre Entscheidung zugunsten des moralischen Gebots, „dem jeder Fremde heilig ist“, getroffen hat, geht sie zu Thoas und berichtet ihm die Wahrheit. Thoas lässt daraufhin die Griechen ziehen.



    Das Gewissen ist eben nicht nur die Summe der internalisierten Fremderwartungen der Eltern bzw. der von diesen übermittelten Normen der Gesellschaft, wie oftmals Sigmund Freud m.E. simplifizierend interpretiert wird. Das Gewissen spricht uns vielmehr in unserer inneren, moralischen Freiheit an. Es verlangt von uns ein moralisches Urteil aufgrund einer persönlichen Vernunftseinsicht. Die Stimme des Gewissens kann von uns fordern, genau gegen die gesellschaftlich verfasste Norm und ein bestehendes (ungerechtes) Gesetz zu handeln. Darin bestand ja gerade die Größe von Gewissenstätern wie Sokrates oder Claus Schenk Graf von Stauffenberg. In Goethes „Iphigenie“ wird das u.a. dort zum Ausdruck gebracht, wo Goethe Iphigenie sagen lässt:



    „Von Jugend auf hab’ ich gelernt gehorchen,

    Erst meinen Eltern und dann einer Gottheit,

    Und folgsam fühl’ ich immer meine Seele

    Am schönsten frei, allein dem harten Worte,

    Dem rauen Ausspruch eines Mannes mich

    Zu fügen, lernt ich weder dort noch hier.“

    Thoas antwortet: „Ein alt Gesetz, nicht ich, gebietet dir.“



    Und Iphigenie antwortet ihm:



    „Wir fassen ein Gesetz begierig an,

    Das unsrer Leidenschaft zur Waffe dient.

    Ein andres spricht zu mir, ein älteres,

    Mich dir zu widersetzen, das Gebot,

    Dem jeder Fremde heilig ist.“



    Auch wo wir das Böse tun, haben wir uns in der Regel dafür entschieden. Als Mörder beispielsweise kommt niemand auf die Welt. Zum Mörder werden die, die morden. Und die meisten von ihnen hätten ihre furchtbare Tat sehr wohl unterlassen können. Im allgemeinen zumindest war ihre Willensfreiheit auch nicht soweit eingeschränkt, dass sie für ihre Tat nicht zur Verantwortung gezogen werden könnten.

    (Immer erst im Nachhinein ist das Gesicht eines Mörders – bleiben wir bei diesem Beispiel, weil ja gerade auch die Dichtkunst oft von solchen dramatischen Stoffen handelt – eine offene Landschaft für gewisse Deuter. Mordlust, Sadismus, Hohn und Kälte meint so mancher a posteriori im Antlitz des Mörders lesen zu könne. In Wirklichkeit stimmt das aber eben nicht! An wie vielen Mördern wären wir, vor der Tat oder bevor sie als Mörder überführt wurden, vorübergegangen, ohne dass uns etwas aufgefallen wäre? Keine Alarmanlage hätte schrill vor dem latenten Täter gewarnt. Ein zukünftiger Mörder trägt eben kein Kainszeichen auf der Stirn oder irgendein anderes physisch feststellbares Merkmal an sich.)



    Man schrieb das Jahr 1869, als der italienische Irren- und Gefängnisarzt Caesare Lombroso (1835-1909), den Schädel des hingerichteten Verbrechers Vitalla untersuchte. Lombroso entdeckte auf dem Schädeldach Vitallas im Bereich der mittleren Hinterhauptgrube eine Vertiefung, und es war dies für ihn eine Entdeckung, die der Amerikas durch Columbus gleichkam. Die Vertiefung, später „Lombrososche Grube“ genannt, wurde zum Fundament eines Lehrwerks, das Geschichte machte. Nicht mehr und nicht weniger als die These vom „geborenen Verbrecher“ leitete Lombroso aus seiner Grube ab, denn die Vertiefung auf dem Schädel Vitellas fand er auch auf den Schädeln bestimmter Tiere und denen „primitiver“ Völkerstämme, wie man damals sagte. Für Lombroso wurde die Grube, die er fand, Anlass zu einer Lehre von der „atavistischen Rückbildung“, als deren Ergebnis der geborene Kapitalverbrecher unausweichlich Kapitalverbrechen begehen wird! Er schreibt: „Diese Entdeckung war nicht bloß eine Idee, sie war eine Offenbarung. Angesichts dieses Schädels schien ich plötzlich auf einmal alles zu sehen, erleuchtet wie eine weite Ebene unter einem flammenden Himmel – das Problem der wahren Natur des Verbrechers.“



    Lombroso leitete – das bleibt sein historisches Verdienst – die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Persönlichkeit des Täters ein; dennoch hatte er sich selbst „eine Grube gegraben“. Denn bald ging Lombroso so weit, dass er gewisse äußerliche Merkmale, beispielsweise Gesichtsform und Körperbau, mit begangenen Straftaten in Verbindung brachte. Die Fülle der physiognomischen, angeblich von geborenen Verbrechern zeugenden Merkmale, die er in geradezu monomaner Intensität auszubreiten begann, lieferte Lombroso schließlich dem Spott aus. Die Psychoanalyse endlich, die eine neue Aussicht auf die Täterpersönlichkeit eröffnete, und die Soziologie, von der die Mitwirkung des Milieus behauptet und beschrieben wurde, machten Lombroso vollends den Garaus. Freilich erlebte Lombrosos These vom unvermeidlichen Täter und geborenen Verbrecher immer wieder Auftrieb, auch wenn sie in weit differenzierterer Weise wiederauflebte.



    Ein Beispiel: Im Juli 1966 ermordete der 24jährige Richard Speck im Chicagoer Schwesternheim acht Schwesternschülerinnen auf bestialische Weise. Bei ihm fanden Humangenetiker später eine sogenannte Trisomie des Geschlechtschromosoms. Sein Genotyp war XYY statt dem normalen XY, also ein Y-Chromosom zuviel. Als sein Anwalt daraufhin auf Schuldunfähigkeit plädierte, erlebte Lombrosos These eine unverhoffte Auferstehung. Abermals wurde die Willensfreiheit des Menschen in Frage gestellt, eine neue Runde der biologisch-anthropologischen Kriminalitätstheorie eingeleitet. Zahlreiche Untersuchungen in dieser Richtung konnten später freilich nicht stichhaltig nachweisen, dass ein zusätzliches Y- Chromosom notwendigerweise kriminalitätsfördernd wirkt.



    Damit soll nun aber auf der anderen Seite keinesfalls geleugnet werden, dass der freie Wille des Menschen durch allerlei Faktoren eingeschränkt werden kann.

    Die Psychologie und die psychologische Anthropologie haben verschiedene Theorien entwickelt, wodurch menschliche Aggression, die auch zu Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit führen kann, entsteht.

    So meinte Sigmund Freud, Aggression sei das Werk eines angeborenen Todestriebes. Dieser Todestrieb – mit dem Ziel der Selbstvernichtung beim Menschen – vermische sich mit der lebenserhaltenden Energie der Libido und werde dadurch von der eigenen Person auf andere Objekte und Personen – das „Fremde“ – umgeleitet, was zu aggressivem Handeln führen könne.

    (Auch Konrad Lorenz ging davon aus, dass die Aggression angeboren sei. Von der Ethologie, also der vergleichenden Verhaltensforschung an Tieren ausgehend, zog Lorenz Rückschlüsse auf den Menschen. Seine Theorie besagt, dass von einem Organismus ständig aggressive Impulse erzeugt werden. Diese Impulse würden aufgestaut, bis ein Auslöser die Entladung der gesamten aufgestauten Impulse bzw. Aggression ermögliche. Je mehr Aggression aufgestaut sei, desto geringer sei der nötige Auslöser für eine Abreaktion. Nach der Abreaktion baue sich erneut ein Druck aggressiver Impulse auf, bis es wiederum zu einer Abreaktion komme usw. Aggression sei intraspezifisch, d.h. als Funktion unter Artgenossen, in der Evolution lebens- und arterhaltend gewesen, weil der Stärkere sich durchgesetzt habe. In der vom Menschen geschaffenen Kulturwelt mit ihren technischen Möglichkeiten entarte der Aggressionstrieb freilich zu einer Fehlfunktion mit destruktiven und verheerenden Folgen.)



    Andere Psychologen gingen davon aus, dass Aggression nicht angeboren, sondern erworben sei:

    So meinte John Dollard (1900-1981), Aggression sei eine Folge einer Frustration, also die Störung einer zielgerichteten Aktivität.

    Der 1925 geborene Albert Bandura vertritt die Auffassung, Aggression sei ein erlerntes Verhalten. Durch die Erfahrung, dass aggressives Verhalten zum Erfolg – etwa Gewinn, Beachtung und Anerkennung oder gelungene Verteidigung – führt, oder auch durch die Nachahmung aggressiver Vorbilder werde aggressives Verhalten immer mehr erworben, angeeignet und verinnerlicht.

    Lerntheorien sprechen vom „Lernen am Modell“ oder dem „Beobachtungslernen“. Vor allem Kinder lernen durch das Beobachten vorgelebter Verhaltensweisen. Die beobachtende Person nimmt entweder Verhaltensweisen an, die ihr zuvor unbekannt waren, oder bestehende Verhaltensweisen werden angeregt bzw. verstärkt, so die Theorie. Menschen, die in ihrem Leben häufig aggressiven Modellen ausgesetzt sind, entwickeln nach den Lerntheorien auch mit höherer Wahrscheinlichkeit aggressive Verhaltensweisen. Die wichtigsten Vorbilder seien die Eltern, aber auch Pädagogen wie Lehrer oder Jugendbetreuer seien für die Entwicklung eines Kindes von entscheidender Bedeutung. Eine schwierig abzuschätzende, aber häufig diskutierte Rolle spielen die Medien als Vorbild oder Nachahmung.



    Im Unterschied zu den individualpsychologischen Aggressionstheorien betrachten die sozialpsychologischen Aggressionstheorien das Individuum mehr im Kontext der Gruppe, des Kollektivs.

    Die sog. Anomie-Theorie besagt, dass in hoch arbeitsteiligen Gesellschaften die sozialen Beziehungen durch weniger Gemeinsamkeiten und weniger gegenseitige Verständigung problematischer, weniger befriedigend und gegebenenfalls in Folge dessen verhindert bzw. nicht entwickelt werden.



    Die sog. Subkultur-Theorie geht davon aus, dass die Normen, Werte und Symbole eines sozialen Systems nicht gleichermaßen für alle Mitglieder gültig seien. Entstehende Subkulturen lehnten die Werte der Mehrheitskultur ab und erwählten dafür andere. Die divergierenden Normen entstünden als Anpassungsprozesse an unterschiedliche soziale Bedingungen.

    Die Etikettierungstheorie, die auch als Theorie des „Labeling Approach“ bezeichnet wird, geht davon aus, dass negativ stigmatisierte Personen oder Gruppen eher zu abweichendem Verhalten neigen.



    Ganz ohne Zweifel wird der freie Wille des Menschen also durch verschiedene Faktoren eingeschränkt. Auch Verbrechen haben ihre Bindungsfaktoren, die ich einmal den Tatraum, das Zeitschicksal und die Erbbindung nennen möchte.

    Unter letzterer verstehe ich nicht nur die ererbte genetische Konstitution eines Menschen, sondern sein familiäres Milieu, seine (früh)kindlichen Prägungen.



    Jeder Mensch ist – das meine ich mit Zeitschicksal – nicht nur eingebunden in und geprägt von spezifischen Vorstellungen, Idealen und Ansichten der jeweiligen Epoche und Ära – denken Sie an die dämonisch-verführerischen Ideen des nationalsozialistischen Regimes, denen so viele verfallen sind und die nicht wenige zu Verbrechern machten. Jeder Mensch steht unter der Besonderheit, dem „Kolorit“ des jeweiligen Zeitabschnittes, selbst dann noch, wenn er bestrebt ist, dem Zeitlauf eine neue Wendung zu geben oder gegen den Strom der Zeit zu schwimmen. Das Individuum ist zudem immer in ein Zusammentreffen und Ineinanderwirken von Personen, Willensenergien, Tatsetzungen und Kausalketten eingebunden, die sein Tun und Handeln beeinflussen.

    Ebenso hat jede Tat ihren spezifischen Tatraum. Selbst manches Verbrechen scheint nicht von der Landschaft zu trennen zu sein, in der sie begangen wurde. Manches Verbrechen gehört anscheinend in den Umkreis des Molochs einer Großstadt, der sich der Kontrolle und Steuerung, dem Überblick zu entwinden droht. Andere Verbrechen scheinen nur in der Einsamkeit menschenleerer Gegenden möglich.



    Justament Albert Camus, der vor allem in seinem Essay-Band „Hochzeit des Lichtes“ so eindringlich und in immer neuen Wendungen von grandios-hymnischer Schönheit das harmonische Einsein von Mensch und Natur – das Wogen des Meeres, die Kraft des Windes, die Wärme des Sonnenlichtes – beschrieben und gerühmt hat, hat in seinem Roman „Der Fremde“ thematisiert, wie der Mensch durch die ihn umgebende Natur zum Verbrecher werden kann. Patrice Meaursault, die Hauptperson in Camus’ Roman „L’Ètranger“, ist in merkwürdiger Weise ein Fremder in der sozialen Welt. Dafür lebt er in einem unmittelbaren, sinnlichen, präreflexiven Weltbezug, einem innigen Verschmolzensein mit der Natur. Letztlich ist auch der Mord an einem Araber, den Meursault in der Mittagshitze an einem glühenden Strand begeht, durch diesen Naturbezug bestimmt. Wäre die Sonne nicht so gleißend gewesen, hätte der Araber sein Messer nicht so in der Sonne aufblitzen lassen, wäre Meursault dieses Funkeln und Gleißen in dieser Hitze nicht so unerträglich gewesen „wie ein glühendes Schwert, das sich in die Augen bohrt“. Vielleicht hätte sich (Camus lässt es letztlich offen) dann auch kein Schuss gelöst.

    Wie sehr alle die genannten Faktoren des Schicksals – im Guten wie im Bösen – unser Tun und Handeln beeinflussen können, ist unter anderem Gegenstand der Kunst, der großen Literatur.



    Freilich – so will ich noch einmal behaupten – determinieren alle diese Faktoren unsere Freiheit – zumindest im allgemeinen – nicht so sehr, dass unsere Freiheit gänzlich aufgehoben wäre.

    Man sagt, dass Kinder, die von ihren Eltern geschlagen und vernachlässigt wurden, später häufig ebenso schlagende und ihre Kinder vernachlässigende Eltern werden. Das ist sicher richtig. Aber gibt es nicht auch viele Kinder, die solche furchtbaren Dinge erlebt haben und die später gute Eltern werden, die ihre Kinder – gerade aufgrund ihrer eigenen Erfahrung – liebevoll und gewaltfrei erziehen?



    Ein anderes Beispiel: Wenn ehemalige Kindersoldaten (aus dem Kongo oder anderswo) nicht betreut und therapiert werden, besteht die Gefahr, dass sie den Krieg gewissermaßen fortführen. Aus Kindersoldaten würden häufig Straßenjugendliche, die in den Großstädten raubten, mordeten und vergewaltigten, weil Erwachsene sie nichts anderes gelehrt haben. Krieg ist für sie ein Normalzustand. Einige ehemalige Kindersoldaten halten häufig auch weiterhin Waffen und Gewalt für ihre einzige Machtquelle. Freilich gibt es hier auch große Unterschiede zwischen den Kindern, vielleicht aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen und differenter kognitiver Entwicklungen. Einige ehemalige Kindersoldaten – so berichten Hilfswerke, die sich dieser Kinder annehmen – zeigen kaum Gefühle von Hass und Rache, sehen nicht eine Person oder Gruppe, sondern den Krieg selbst als Feind an und identifizieren sich mit den pro-sozialen Kräften, indem sie selbst später Ärzte oder humanitäre Helfer werden wollen.

    Wir stehen hier vor dem Mysterium iniquitatis, dem Geheimnis der Bosheit – aber eben auch, Gott sei Dank, vor dem Geheimnis des Guten!

    Auf den entscheidenden Grund, warum die Faktoren, die unsere Freiheit zum Guten wie zum Bösen zwar einschränken, uns aber dennoch nicht vollständig determinieren, hat Jean-Paul Sartre – der große Philosoph der menschlichen Freiheit – hingewiesen. Er betont, dass es ja alleine das Individuum ist, das letztlich den scheinbar determinierenden Faktoren, zu denen auch die Erfahrungen seiner Vergangenheit zählen, erst in der jeweiligen Gegenwart ihre Bedeutung verleiht.



    Sartre schreibt in seinem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“: „Wer entscheidet, ob der Aufenthalt im Gefängnis, den ich nach einem Diebstahl durchgemacht habe, fruchtbringend oder beklagenswert war? Ich, je nachdem ob ich auf’s Stehlen verzichte oder nun erst recht stehle. Wer kann über den Bildungswert einer Reise entscheiden, über die Ehrlichkeit eines Liebesschwures, über die Reinheit einer zurückliegenden Absicht usw.? Ich, immer ich“.



    Lassen Sie mich – einem katholischen Bischof sei das erlaubt – noch einen Aspekt einbringen: Wir haben gesehen, dass Psychologie und Soziologie und andere anthropologische Wissenschaften die Entstehung des Bösen – des Aggressiven, des Destruktiven, des Abgründigen – weitgehend erklären können. Der Schriftsteller Herbert George Wells meinte einmal, das zwanzigste Jahrhundert werde rückblickend das „Jahrhundert der Psychologie“ genannt werden. Aber können wir, die wir am Anfang des 21. Milleniums stehen, wirklich sagen, dass Psychologie und Soziologie das menschliche Böse restlos verstehbar machen? Erklärt sich das Böse wirklich allein aus der Seele des Menschen oder aus gesellschaftlichen Prozessen? Könnte man angesichts der horrenden und maßlosen Manifestationen menschlicher Bosheit, wie sie die Geschichte immer wieder konstatiert und vor allem das zwanzigste Jahrhundert in so furchtbarer Weise gezeigt hat, nicht vielleicht auch zu dem Schluss gelangen, dass diese grauenvollen Phänomene der Bosheit bei einem im übrigen doch so sanften und liebevollen Wesen, wie es der Mensch im allgemeinen ist, allein keine Erklärung finden?



    Dabei wird man die Lehre, die das Böse als eine absolute und primäre Macht definiert (wie die dualistische Metaphysik der antiken Gnosis und des Manichäismus wollten), als Irrtum zurückweisen können. Die Bosheit erweist sich – recht besehen – stets als Opposition gegen die gesollte absolute Ordnung; sie kann daher keine primäre Macht sein. Das Böse muss sich bei allen seinen destruktiven Tendenzen immer der ewigen Gesetzlichkeit des absoluten Ordnungsprinzips bedienen, da ja doch auch die gesetzlose Willkür noch irgendwie der ewigen Form bedarf, um gegen die Form in Aktion treten zu können.

    In diesem Sinne lässt Goethe im „Faust“ seinen Mephisto sagen, er sei ein „Geist, der stets verneint“!

    Aber was ist das Böse letztlich dann? Dieses Böse, das wir als Fremdes, Unpassendes, Dunkles in uns erspüren können?



    Der Heidelberger Psychiater Thomas Fuchs widerspricht psychiatrischen und biologischen Erklärungen des Bösen. Er stellt seinen Überlegungen ein Wort Alexanders Solschenizyns voran, der sagt: Die Linie, die Gut und Böse trennt, verläuft quer durch jedes Menschenherz.



    Der Mensch, so führt er aus, hat die Möglichkeit auf Beeinträchtigungen aggressiv zu reagieren. Aber nicht so, dass sich bei ihm wie in einem Dampfkessel eine Summe aggressiver Energien aufstaut, die dann ein Ventil brauchten.



    Das Böse ist kein biologischer Automatismus. Es resultiert daraus, dass der Mensch die Unschuld des bloßen Seins verloren hat zugunsten der Möglichkeit des Eigenwillens und damit der Möglichkeit zum Bösen. Die Faszination, die das Böse ausübt, besteht in der stets latent gegebenen Möglichkeit dieser Grenzüberschreitung Richtung Macht, Besitz, Genuss.



    Der Wille zum Bösen selbst lässt sich nicht vollständig auf biologische Anlagen, Umweltbedingungen und charakterliche Entwicklungen zurückführen. Er hat seine Grundlage in der Entwicklung jedes Menschen zu einem Wesen, das sich aus der Sicht der anderen zu sehen vermag, und das so zugleich in jenes Verhältnis zu sich selbst gelangt, das wir als Freiheit bezeichnen.



    Der 1940 verstorbene Philosoph Peter Wust, der während der Zeit des sog. Dritten Reiches den damaligen Machthabern eine dezidiert christliche Anthropologie und Existenzphilosophie entgegengehalten hat, kam angesichts der Untaten und Verbrechen seiner Zeit – wohlgemerkt nicht als Theologe, sondern als Philosoph – zu der Feststellung, dass das Böse nicht „eine rein psychologische Tatsache, sondern (...) ein streng metaphysisch zu fassendes Faktum (sei), das durch keine sophistische Als-Ob-Betrachtung aus der Welt geschafft werden“ könne.

    Die uralten Mythen der Menschheit deuten es an und die Heilige Bibel bestätigt es, wenn sie von einem mysteriösen Sündenfall in grauer Vorzeit, ja gar von einer – ich zitiere wiederum Peter Wust – „vorausgehenden transkosmischen Revolution reiner Geistwesen“ sprechen, durch die „allererst die konkrete Welt der Bosheit entstanden sei.“

    Im Prometheusmythos beispielsweise blitzt die Erkenntnis einer solchen Urhybris deutlich genug auf. Und die große griechische Tragödie ist eben deshalb noch so tief religiös, weil irgendwie die Ahnung von dieser Realität dunkel in ihrem Hintergrund steht. Überhaupt blieb vor allem in der Kunst – der Dichtkunst zumal – solch ein starkes Wissen um das Dämonische erhalten. So verstand es etwa Shakespeare im Hamlet die jenseitige Geisterwelt als einen realen Faktor der Handlung darzustellen. Auch im Macbeth erhielt das Urböse immer noch einen aufdringlich realen Charakter. Goethe versuchte im Faust etwas Ähnliches. Weiter wäre natürlich an Dante zu denken, aber auch an das 1926 erschienene Werk von Georges Bernanos „Die Sonne Satans“.



    Das Thema meines Vortrags lautet: „Das Fremde in uns. Abgründiges im Menschen als Versuchung und Verheißung.“ Wo also – werden Sie fragen – bleibt das Verheißungsvolle des Abgründigen, des Fremden in uns?

    Die Antwort gibt – nach christlicher Überzeugung – das Exsultet, das Osterlob, wie es in unseren Kirchen gesungen wird:



    „O wahrhaft heilbringende Sünde des Adam,

    du wurdest uns zum Segen,

    da Christi Tod dich vernichtet hat.

    O glückliche Schuld,

    welch großen Erlöser hast du gefunden!“



    Die Sünde hat uns den Erlöser – Gottes Gnade – geschenkt.



    Um Gnade geht es auch in Shakespeares um 1604 verfasster und 1623 erstmals gedruckter Tragikkomödie „Maß für Maߓ, die an diesem Theater ebenfalls in der laufenden Spielzeit aufgeführt wird. Sie gestatten mir freilich, dass ich mich in meiner Deutung des Stücks an den gedruckten Text Shakespeares halte und nicht auf die äußerst interessanten, souveränen und vielschichtigen Interpretationen des Regisseurs Stefan Bachmann eingehe, der – wenn ich es recht sehe – auch stärker, als ich es nun tun kann und will, die aktuellen politischen Bezüge von Shakespeares Stück herausstreicht.



    In dem Stück geht es, um es mit dem Wiener Kardinalerzbischof Christoph Schönborn zu sagen, der am 25. April 2007 am Wiener Burgtheater über „Maß für Maߓ referiert hat, „um Fragen des sittlichen Rigorismus (...), um den ethischen Fundamentalismus und seinen ewigen Konflikt mit dem Laxismus, oder einfach mit dessen ständigem faktischen Scheitern, um die immer neuen Versuche, Sittlichkeit zu verordnen, und deren kläglichem Misslingen angesichts des Zustands der menschlichen Natur.“ Schönborn folgt in seiner Interpretation des Stücks ausdrücklich dem großen katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar, der in „Maß für Maߓ den „Höhepunkt der Problematik Gerechtigkeit – Gnade“ gesehen hat.

    Die Handlung von Maß für Maß sei kurz in Erinnerung gerufen: Die Stadt Vienna, also Wien, treibt dem moralischen Ruin entgegen. Der Verfall der Sitten ist so weit fortgeschritten, dass in Bälde das völlige Chaos auszubrechen droht. Der regierende Herzog, lange Zeit sehr weich, milde und nachsichtig, sieht sich zum Handeln gezwungen. Gesetze, die über Jahre nicht umgesetzt wurden, sollen von nun an wieder mit unerbittlicher Strenge zur Anwendung kommen.



    Der Herzog gibt nun vor, eine längere Reise antreten zu wollen und betraut „nach reiflicher und wohldurchdachter Überlegung“ für die Zeit seiner Abwesenheit einen noch jungen, aber sehr befähigten Mann, die Regierungsgeschäfte mit allen Vollmachten wahrzunehmen. Der Name des Mannes ist Angelo. Dieser Angelo scheint ein Muster an Unbestechlichkeit und Integrität zu sein; ein „Mann von strengen Sitten und völliger Enthaltsamkeit“. Angelo erhält also alle “Macht über Tod und Gnade in Wien”. Möge er dadurch das Steuer des Staatsschiffs herumzureißen und es von den Klippen des Verfalls und der Dekadenz hinweg in sicheres Fahrwasser lenken. Und in der Tat weht bald ein neuer, eisiger Wind in Vienna – bei Regisseur Stefan Bachmann (deute ich es richtig?) durch die wirbelnden Propeller des Hubschraubers des Herzogs symbolisiert.

    Indes begibt sich der Herzog keineswegs auf Reisen! Als Mönch verkleidet, beobachtet er das Volk und – vor allem – jeden Schritt seines Stellvertreters. Dieser errichtet ein gnadenloses Regime und wird sehr bald in einen pikanten Fall verwickelt. Ein junger Adeliger, Claudio, hat – verlobt zwar, aber noch nicht mit ihr verheiratet– seine Geliebte geschwängert, worauf nun wieder die Todesstrafe steht. Die gesamte Umgebung des Hofes einschließlich des Ministers Escalus und des Kerkermeisters sind fassungslos, aber Angelo bleibt hart und verfügt die Vollstreckung des Urteils für den nächsten Morgen. Da begibt sich Isabella, die Schwester des unglücklichen Claudio – sie ist gerade Novizin des Klarissinnenordens geworden – zu Angelo und bittet diesen um Barmherzigkeit für den Bruder. Angelo ist fest entschlossen, die Bitte der jungen Frau abzuweisen. Er sagt zunächst in aller Härte: „Euer Bruder ist dem Gesetz verfallen, und Ihr verschwendet nur Eure Worte.“ Doch dann überfällt ihn – den Tugendhaften – ein heftiges sinnliches Verlangen nach der jungen Nonne.



    Eine kleine Nebenbemerkung dazu: Shakespeare hat den Namen Angelo – Engel – natürlich nicht zufällig gewählt. Nach der Bibel entstand jene metaphysische Dimension des Bösen, von der ich vorhin sprach, in einer – um es noch einmal mit Peter Wust zu sagen – „transkosmischen Revolution reiner Geistwesen“, also der bewussten Abkehr ehedem guter Engel zum Bösen! Auch Angelo ist kein Bösewicht von Anfang an: Er ist zunächst „nur“ ein buchstaben-gerechter Pedant, der seine Mitbürger nach Paragraphen beurteilt, ein Hüter des Gesetzes, aber nicht der Menschlichkeit.



    Engel können fallen! Und so kommt es! Shakespeares Angelo stellt die Bedingung, wenn Claudio begnadigt werden soll, dann müsse Isabella ihm sexuell zu Willen sein. In der Inszenierung von Regisseur Stefan Bachmann reißt er sich – so habe ich mir berichten lassen – in einem erschütternden und augenfälligen Anfall von Triebhaftigkeit die Kleider vom Leib! An dieser Stelle greift nun, unerkannt durch seine Mönchskutte, der Herzog ein. Er rät Isabella, zum Schein auf Angelos Bedingung einzugehen. Die Liebesnacht wird verabredet, aber nicht Isabella soll das Liebeslager mit Angelo teilen, sondern dessen vor Jahren von ihm verlassene Verlobte Mariana. Das alles aber scheint den jungen Claudio nicht retten zu können: Angelo gibt trotzdem den Befehl zu seiner Hinrichtung. Um vier Uhr soll Claudio hingerichtet werden, um fünf soll Angelo Claudios Kopf geschickt werden.



    Doch dann erscheint rechtzeitig der angeblich von seiner Reise zurückgekehrte Herzog zurück und fordert Rechenschaft für alle geschehenen Übeltaten: für Amtsmissbrauch, Nötigung und Verrat. Die düsteren Machenschaften werden aufgedeckt, die Täter entlarvt. „Maß für Maߓ spricht der Herzog das Urteil und legt so das Fundament für eine neue Gesellschaftsordnung.



    Die Aussage des Stücks ist evident: Eine funktionierende Gesellschaft muss einen Weg finden zwischen Permissivität und Rigorismus. Gerechtigkeit muss immer mit Barmherzigkeit, Milde und Gnade verbunden sein, weil das Gesetz ansonsten schlimmere Übel hervorruft, als es verhindern will.



    Isabella, die Klarissin, verkörpert die Gnade, die Barmherzigkeit. Ihre Prinzipentreue ist nicht Sturheit oder Starrsinnigkeit. Ihre Moral ist vielmehr mit dem Wissen um die Schwäche des Menschen gepaart. Sie erinnert Angelo – den scheinbar anständigen Moralisten – daran, dass man stets den Balken im eigenen Auge – die eigene Gefährdetheit – und nicht den Splitter im Auge des Anderen sehen soll. Sie sagt: „Kein Zeichen der Macht, weder die Königskrone, noch das Schwert des Statthalters, der Marschallstab oder die Richterwürde stehen den Großen so gut an wie die Gnade. Wäre er (gemeint ist Isabellas Bruder Claudio) wie Ihr gewesen und Ihr wie er, so wärt Ihr so gestrauchelt wie er, doch wäre er nicht so hart wie Ihr gewesen“.



    Gottes Barmherzigkeit und Nachsicht muss von der Barmherzigkeit und Nachsicht der Gesellschaft widergespiegelt werden. Denn, so führt Isabella aus: „Alle Seelen, die je gelebt haben, waren einmal verloren, und Er, der wohl mit dem größeren Recht auf seine Stellung hätte pochen können“ – gemeint ist natürlich Gott – „fand Erlösung für sie: Wie stündet Ihr da, wenn Er, der höchste Richter; über Euch richten würde, so wie Ihr seid?“ Und dann kommt das herrliche Wort, gerichtet an Angelo, der in seinem Herzen schon gesündigt hat: „Bedenkt das und Eure Lippen werden Gnade atmen.“



    Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen unterschiedliche Deutungsversuche für die Feststellung genannt, dass der Mensch – wie Paul Claudel sagt – tiefer ist als Erde. Dass er nicht nur Erde ist, sondern dass ihm der Geist Gottes eingehaucht ist, um mit den ersten Seiten der Bibel zu sprechen.



    Dabei sind die Abgründe, besser gesagt die Tiefenschichten im Menschen so gewaltig, dass bei allen Erklärungsversuchen und allen Einsichten der Mensch Geheimnis bleibt.



    Aber die Abgründe, die Tiefenschichten im Menschen anschauen, darum geht es. Oder, um auf den Anfang zurückzukommen, den Fremden nachts am Bett des Erwachenden nicht einfach wegschicken, verdrängen, ausblenden. Sondern mit ihm in einen Dialog treten.



    Das Fremde in mir macht mir Angst, wenn ich es ausblende. Dieses Fremde ist ungelebtes Leben, all das Versäumte, was ich nicht hätte versäumen sollen, all das unterlassene Gute, all das, worin ich hinter meinen Möglichkeiten zurückgeblieben bin. Weil ich meine Freiheit missbraucht oder nur halbherzig eingesetzt habe.



    Der Fremde in mir kann zum Freund werden, wenn ich ihn anschaue, ihn anrede, mit ihm umgehe. Dann kann sich für jeden Menschen das ereignen, was Isabella in „Maß für Maߓ zu Angelo sagt: „Bedenkt das, und eure Lippen werden Gnade atmen.“



    Zum christlichen Menschenbild gehört es, dass es mit dieser Schöpfung, die – um es mit dem Apostel Paulus zu sagen – noch in Wehen liegt, trotz all des Leids und all des Bösen, das wir in ihr jeden Tag erleben, letzten Endes gut ausgehen wird. Weil das Böse nur die Verneinung des Guten ist, wird letztlich auch von der gesamten Schöpfung das gelten, was ein altes portugiesisches Sprichwort – Paul Claudel zitiert es in seinem „Seidenen Schuh“ – lapidar so formuliert: „Gott schreibt auch auf krummen Zeilen gerade!“ Und deshalb ist das Abgründige im Menschen mehr als nur Versuchung. Es ist auch Verheißung.



    Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!
  • Laudatio zur Verleihung des Siemerling-Sozialpreises 2008 an Herrn Heinz-Günter Hahmann / Neubrandenburg / 05. 03. 2008
    Sehr geehrter Herr Prachtl,

    verehrte, liebe Mitglieder des Kuratoriums der Dreikönigs-Stiftung,

    liebe Mitglieder des Dreikönigsvereins,

    sehr geehrte Damen und Herren,

    und vor allem, sehr geehrter, lieber Herr Hahmann,



    herzlich danke ich für die Einladung in das – wie es heißt – „schönste Schulhaus der Stadt“ zur Verleihung des Siemerling-Sozialpreises. Ich finde es beachtlich, dass von der Stiftung des Neubrandenburger Dreikönigsvereins bereits im 15. Jahr diese Auszeichnung vergeben wird. Beachtlich auch deshalb, weil der Siemerling-Sozialpreis bislang der einzige Sozialpreis ist, der in Mecklenburg-Vorpommern ver-geben wird. Für die Setzung dieses großartigen Zeichens gilt dem Dreikönigsverein und seiner Stiftung unser aller Dank.



    In diesem Jahr möchte das Kuratorium der Dreikönigs-Stiftung das langjährige ehrenamtliche Engagement von Herrn Heinz-Günter Hahmann aus Neustrelitz würdigen. Und ich habe die Freude, aus diesem Anlass heute zu Ihnen allen sprechen zu dürfen.



    Sie, lieber Herr Hahmann, wurden vorgeschlagen und ausgewählt für ein überdurchschnittliches Maß an ehrenamtlicher Arbeit in verschiedenen Bereichen – seit 33 Jahren.



    Indirekt wird damit aber auch Ihre Familie ausgezeichnet: Sie trägt Ihr fortdauern-des Engagement solidarisch mit. Mehr noch: In Ihrer ganzen Familie wird das akti-ve Ehrenamt groß geschrieben.



    Die schriftliche Begründung derjenigen, die Herrn Hahmann für den Siemerling-Sozialpreis 2008 empfohlen haben, ist eindrucksvoll. Ich darf diese Begründung stichwortartig zusammenfassen.



    Seit über 30 Jahren ist Herr Hahmann ehrenamtlich im Bereich der Ehe-, Familien- und Lebensberatung engagiert. Im Einzelfall bedeutet das:



    Herr Hahmann, im Hauptberuf Biologe, absolvierte schon zu „DDR-Zeiten“ eine Weiterbildung als dann diplomierter Ehe-, Familien- und Lebensberater. Diese Aus-bildung wurde damals von der Katholischen Kirche trotz aller politischen Schwie-rigkeiten initiiert und umgesetzt. In der Folge erhielt Herr Hahmann eine Beauftra-gung durch den unvergesslichen Bischof Heinrich Theissing, die ihn zur Arbeit in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung berechtigte.

    Außerdem, ebenfalls noch zu „DDR-Zeiten“, machte Herr Hahmann in seiner Frei-zeit und seinem Urlaub eine Ausbildung als Supervisor und stand anschließend auch mit dieser neu erworbenen Kompetenz zur Verfügung.



    Im Jahre 1988 initiierte er dann selber einen neuen Ausbildungskurs der Ehe-, Familien und Lebensberatung für das gesamte Gebiet der damaligen DDR.



    Im Rahmen dieses neuen Kurses brachte er sich auch als Ausbilder und Mentor ein.



    Was die binnenkatholische Zusammenarbeit zwischen Ost und West zu „DDR-Zeiten“ anbelangt, so war Herr Hahmann ein bedeutsamer Hoffnungsträger. Diese Zusammenarbeit bedeutete und bedeutet auch heute noch für ihn, dass Menschen trotz behindernder Schranken Visionen haben und an ihrer Umsetzung arbeiten; dass es kein totales Abgeschnittensein gibt und Menschen deshalb Hoffnung ha-ben: Hoffnung, von der die Menschen in der Begegnung mit Herrn Hahmann bis heute profitieren. Solch menschliche Verbundenheit und Hoffnung über Grenzen hinweg, durch Grenzen hindurch gilt sowohl vor als auch nach der Vereinigung Deutschlands, und daran hat Herr Hahmann erheblichen Anteil.



    Von Anfang an, also seit seiner Beauftragung durch Bischof Theissing vor rund 30 Jahren, ist Herr Hahmann unermüdlich als Ehe-, Familien- und Lebensberater tä-tig.



    Allerdings, bis 1994 arbeitete er in noch keiner offiziellen Beratungsstelle, denn die Beratung fand damals hauptsächlich in kirchlichen Räumen statt, wie dem Pfarr-haus, oder auch schon einmal bei Herrn Hahmann zu Hause. Dies änderte sich, als die Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen, hier in Neubrandenburg in der Katharinenstraße , eröffnet und die Beratung damit auch institutionalisiert wurde – von unserem Preisträger maßgeblich befördert.



    In diesem Kontext begleitete Herr Hahmann auch die Schulung

    anderer, arbeitete zusätzlich zur Einzel- und Paarberatung sowie in Supervisionen auch noch als Co-Therapeut.



    Ehe-, Familien und Lebensberatungsarbeit ist – was viele oft nicht wissen – an eine Fortbildungspflicht gekoppelt, der jedes Jahr nachzukommen ist. Herrn Hahmann war und ist dafür kein Weg zu weit und auch kein Urlaubstag zu schade. Egal, ob die Fortbildung in Rerik, Berlin, Osnabrück, Hamburg oder Parchim stattfindet – er ist immer dabei (und nimmt auf Hin- und Rückfahrten in seinem Auto gerne auch noch andere mit!).



    Unser Preisträger ist Teamarbeiter. Er gehört als ehrenamtlicher Mitarbeiter zu ei-nem Team, das nun schon 13 Jahre tätig ist.



    Sie werden fragen, meine Damen und Herren, was das Kernanliegen von Herrn Hahmann ist?



    Seine Kolleginnen und Kollegen sagen, ihm liegt die Familie als Urzelle der Gesell-schaft, als Urzelle von Erziehung und Bildung, als Urzelle auch von Kreativität am Herzen. In der Familie solle für jede und jeden gesorgt sein. Dann könne aus der Familie etwas erwachsen und in wieder neue Familien hineinmünden.



    Dies zu vermitteln hat unser Preisträger sich zur Aufgabe gemacht.



    Dementsprechend konnten unzählige Familien wie einzelne Familienangehörige bei der Beratung und Begleitung durch Herrn Hahmann wachsen und auch ihren eige-nen Weg finden.



    Herr Hahmann sagte einmal: „Ich leide, wenn Familien auseinander fallen. Wenn aber die Eigeninitiative der Menschen da ist, dann kann ich gemeinsam mit ihnen das eine oder andere korrigieren. Das ist für mich immer wieder Motivation, in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung zu arbeiten.“



    Doch als sei das Engagement in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung noch nicht genug – Herr Hahmann wird heute auch für weitere Ehrenämter ausgezeich-net.



    Aus dem bereich der Politik nenne ich seine parteipolitische Verantwortung. Dabei widmete er besondere Aufmerksamkeit der Ökologie.



    Aus dem Bereich Körperschaftliche Kontroll- und Leitungsfunktion weise ich gern darauf hin, dass Herr Hahmann Mitglied des Verwaltungsrates der Sparkasse von Neustrelitz war. Dort wurden viele politische Entscheidungen – gerade auch in der „Wendezeit“ – bedacht und auf den Weg gebracht.



    Aus dem Bereich des Konfliktmanagement finde ich besonders erwähnenswert, dass Herr Hahmann im heutigen Landesgesundheitsamt (ehemals Bezirkshygiene-institut), in dem er bis 2003 als Biologe arbeitete, zehn Jahre in der Konfliktkom-mission tätig war. Aufgabe dort war es für ihn, Friktionen und Differenzen außerge-richtlich zu regeln.



    Auch im verbandlichen Bereich war und ist Herr Hahmann tätig.

    Er ist im Beirat des Caritas Kinder- und Jugendhauses in Neustrelitz, und das seit 1998.



    Erwähnen möchte ich auch das pfarrliche Engagement: In der katholischen Kir-chengemeinde Neustrelitz war Herr Hahmann von 2003 bis 2006 Mitglied im Pfarr-gemeinderat.



    Meine Damen und Herren, Sie werden fragen, wie das alles zu leisten ist.



    Das Geheimnis besteht darin, dass Herr Hahmann heute mit dem Siemerling-Sozialpreis nicht nur wegen seines fachlich kompetenten Tuns ausgezeichnet wird, sondern auch wegen seiner Talente und seiner menschlichen Qualitäten.



    Dabei möchte ich hervorheben, sehr geehrter Herr Hahmann, Ihr überaus großes Interesse, Ihr Organisationstalent, Ihre Menschenfreundlichkeit, Ihre Hilfsbereit-schaft und Ihr Einfühlungsvermögen.



    Herrn Hahmanns Sein und Tun werden gespeist aus seinem christlichen Men-schenbild, aus beständigem Fragen „Was kann ich tun ? Wie kann ich mich ein-bringen?“ Unser Preisträger sagte einmal: „Mir wurde Wissen geschenkt, und dieses Geschenk gebe ich weiter. Deshalb arbeite ich ehrenamtlich.“



    Der Siemerling-Sozialpreis ist, wie die meisten von Ihnen wissen, nach der der Neubrandenburger Familie Siemerling benannt. Die Familienmitglieder wirkten seit dem 18. Jahrhundert über mehrere Generationen hinweg als Ärzte, Apotheker, Kaufleute und Bankiers in Mecklenburg-Vorpommern: Sie setzten sich ein für die Förderung des städtischen Gemeinwesens, des wirtschaftlichen Aufstiegs und des geistigen Lebens



    Der Siemerling-Sozialpreis wird in einer Bronzeplastik verkörpert: dem „Lamm im offenen Buch“ – einer Skulptur, die von dem Franziskanerpater Laurentius (Ulrich) Englisch geschaffen wurde. Pater Laurentius kommentierte dieses Lamm wie folgt: „Das Opfertier, das Lamm. Es steigt aus dem Buch, hager und sehnig, wie gescho-ren und durchsichtig, wendet den Kopf erregt als sprechende Aufforderung, ihm zu entsprechen: Folge mir nach!“



    Welch ein seltsames Bild: ein Lamm entsteigt einem Buch. Gleichermaßen scheint es aber auf dem Buch auch zu ruhen.



    Das Lamm gilt als Symbol der Unschuld, der Arglosigkeit, der Eigenabsichtslosig-keit.



    Als Opferlamm ist es ein Opfertier. In vielen Kulturen steht das Opfertier für die Sehnsucht nach Versöhnung und Heil.



    In der jüdisch-christlichen Tradition symbolisiert das Opferlamm den Gottesknecht.



    Vor diesem Hintergrund hat die frühe Christenheit Jesus von Nazareth als das Lamm Gottes verstanden: als den unschuldigen Gottesknecht, der sich sogar gegen seinen Kreuzestod nicht wehrte.



    Im Bild vom „Opferlamm“ geht es um die uneigennützige Liebe Christi. In dessen Nachfolge geht es dann auch um die Liebe der Christen zum Nächsten.



    Über solche Nächstenliebe, die Sie, sehr geehrter Herr Hahmann als Christ in bei-spielhaftem Handeln verkörpern, schreibt Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika „Deus caritas est“/“Gott ist Liebe“ „Das christliche Liebeshandeln muss unabhängig sein von Parteien und Ideologien. Es ist nicht ein Mittel ideologisch gesteuerter Weltveränderung und steht nicht im Dienst weltlicher Strategien, sondern ist hier und jetzt Vergegenwärtigung der Liebe, deren der Mensch immer bedarf. (…) Wer im Namen der Kirche karitativ wirkt, wird niemals dem anderen den Glauben der Kir-che aufzudrängen versuchen. Er weiß, dass die Liebe in ihrer Reinheit und Ab-sichtslosigkeit das beste Zeugnis für den Gott ist, dem wir glauben und der uns zur Liebe treibt. Der Christ weiß, wann es Zeit ist, von Gott zu reden, und wann es recht ist, von ihm zu schweigen und nur einfach die Liebe reden zu lassen.“



    Auch noch ein Wort zum Buche, dem das Lamm entsteigt.



    Wir können das Buch – rein weltlich – als Sinnbild für Bildung, Wissen, Gelehr-samkeit begreifen.



    Wir können es aber auch – religiös, und damit das ausschließlich Weltliche über-steigend – als das Buch der Bibel, als das Wort Gottes von der Nächstenliebe inter-pretieren.



    Dieses Buch vermittelt eine besondere Bildung, eine besondere Gelehrsamkeit. Ich meine damit nicht nur die biblische Gelehrsamkeit von Theologen, sondern auch die „Herzensbildung“ nach dem Buch der Bibel, die für uns Christen lebendiges, immer wieder neu und aktuell erschließendes „Wort Gottes“ ist.



    So können wir das Lamm, das dem Buch entsteigt und auf ihm ruht, als Sinnbild für uneigennützige Nächstenliebe sehen, die sich aus der Liebe Gottes speist und sich von ihr getragen weiß.



    Lassen Sie mich auch noch einen Hinweis geben zur politischen Dimension der Ehe-, Familien- und Lebensberatung.



    Kürzlich bekam ich eine Publikation über Rechtsradikalismus in die Hände. Was mich zutiefst betroffen machte und mich auch an Sie, lieber Herr Hahmann, den-ken ließ, ist das Phänomen, das auch für Mecklenburg-Vorpommern gilt: Bereits 12-, 13-jährige Kinder (!) driften in rechtsradikale Kreise ab, weil sie scheinbar nur dort Geborgenheit und Anerkennung erfahren. Also: dort (!) – und nicht in ihren Familien, was doch das Naheliegendste wäre bzw. sein sollte. Dies ist alarmierend!



    Viele machen sich Gedanken wie dem Rechtsradikalismus in Deutschland zu be-gegnen sei.



    Ich meine: Gehen wir an die Wurzeln. Arbeiten wir alle, ob in Kirche oder andern-orts engagiert an der Bekämpfung der Wurzelursachen! Keine „Kampagne“ oder dergleichen kann solche strategisch angelegten Schwerpunkte ersetzen. Ich kann und möchte Sie alle hier ausdrücklich dazu ermutigen, langfristig dem Rechtsradi-kalismus, gerade auch hier in Mecklenburg-Vorpommern, entgegenzuwirken. Sozia-le Dienste, nicht zuletzt in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung, sind ein wirk-sames Mittel gegen „Rechts“.



    Vor diesem Hintergrund gewinnt die Ehe-, Familien- und Lebensberatung auch eine besondere politische Dimension.



    Lieber, geehrter Herr Hahmann,

    sehr geehrte Damen und Herren,



    lassen Sie mich die Gelegenheit dieses Festaktes auch dazu nutzen, allen Ehren-amtlichen in der Katholischen Kirche in Mecklenburg-Vorpommern zu danken. Sie alle leisten einen Beitrag auch zur Verlebendigung von Tugenden in der Demokratie im Geiste unserer Verfassung.



    Gut ökumenisch möchte ich auch allen christlichen Ehrenamtlichen danken. Ein Gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangeli-schen Kirche in Deutschland zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens aus dem Jahre 2006 stellt hierzu fest: „Glauben lässt sich (…) verstehen als eine Form und Kraft der Stellungnahme zu den Grunddimensionen des Lebens, die sich am Willen Gottes als dem Inbegriff des Guten und des gelingenden Lebens orien-tiert. Für die ethische Orientierung bedeutet dies: Zwar können Christinnen und Christen von keinem menschlichen Handeln die umfassende Verwirklichung des Guten oder gleichsam die Schaffung einer vollkommenen und problemlosen Welt erwarten. Aber sie sind schon durch den Schöpfungsauftrag Gottes dazu berufen, ihrerseits schöpferisch tätig zu werden, d. h. alles Handeln und alle Formen des Zusammenlebens und der Kommunikation zu stärken, durch die ein gelingendes Leben für alle Geschöpfe befördert werden kann.“



    Lieber Herr Hahmann, was hier recht abstrakt in einer Schrift formuliert ist, ver-körpern Sie und Ihr ehrenamtliches Lebenswerk als Christ. Sie sind ein wegweisen-des Beispiel für Kirche und Gesellschaft, das heißt für uns alle.



    Wir alle hier und auch jene, die heute nicht unter uns sein können, danken Ihnen in Ehrfurcht und Bewunderung.
  • Globalisierung und Nächstenliebe - Predigt zum dem Patronatsfest des Erzbistum / Hamburg / 03. 02. 2008
    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    geht hinaus in die ganze Welt, sagt Jesus den Seinen heute im Evangelium am Fest des Heiligen Ansgar. Ansgar hat das auf seine Weise beherzigt, in dem er zu uns in den Norden gekommen ist. Wer heute wirklich mit Jesus leben will, der lebt im Horizont der ganzen Welt. Christen denken weltweit. Wir sind Weltkirche. Unsere Verantwortung betrifft die ganze Welt.



    Wirklich? Ist das so? Oder wird unser Lebensgefühl nicht doch geprägt von dem Gedanken: Gott sei Dank, dass hier nicht die Hungersnot herrscht wie in manchen Ländern Afrikas. Dass hier nicht Wirbelstürme Häuser einstür-zen lassen und ganze Landstriche überfluten wie in Ländern Asiens. Dass hier nicht Kindersoldaten zum Töten gezwungen werden wie in Ländern Südamerikas. Gott sei Dank ist das alles weit von uns weg.



    Irrtum! Was in unserer Welt geschieht, geht uns an. Denn die ganze Welt rückt uns immer mehr auf den Leib. Medien und Verkehrsmittel machen Menschen aller Erdteile zu unseren unmittelbaren Nachbarn. Nächsten Sonntag um diese Zeit feiere ich den Gottesdienst in Soweto in Südafrika zusammen mit Bischöfen aus allen Erdteilen. Nicht als Tourist. Sondern als Leiter unseres Bischöflichen Hilfswerkes Misereor. Wir eröffnen in Südafrika die Fastenaktion Misereor aus Anlass des 50jährigen Jubiläums von Misere-or. Sie können übrigens live dabei sein durch die Fernsehübertragung in der ARD.



    Damit wir den Auftrag Jesu beherzigen können, die ganze Welt als Aufgabe zu sehen, für die ganze Welt Mitverantwortung zu tragen, deshalb gibt es die Fastenaktion Misereor. Und schon seit fünfzig Jahren. Weil jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist, deshalb kämpfen wir als Christen gegen Hunger und Krankheit weltweit. Ein Abenteuer im Heiligen Geist ist das, sagte der Kölner Kardinal Frings bei der Gründung von Misereor vor fünfzig Jahren. Ein A-benteuer im Heiligen Geist.



    Herzlich danke ich Ihnen schon jetzt, dass Sie auch in diesem Jahr wieder Misereor mit Ihrem Fastenopfer unterstützen. Es geht dabei nicht um ein Almosen. Es geht um Gerechtigkeit. Es ist ungerecht, wenn wir hier preis-wertes Spielzeug kaufen können, welches in China unter menschenunwür-digen Bedingungen hergestellt wird. Es ist ungerecht, wenn auf afrikanische Baumwolle so hohe Zölle gesetzt werden, dass sie bei uns am Markt keine Chance hat. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren.



    Vor Jahren hat Misereor mit einer einfachen Geschichte geworben. Die ging so: Gib einem Menschen einen Fisch, dann ist er für einen Tag gesättigt. Bringst du ihm aber Fischen bei, dann kann er sich dauerhaft selbst ernäh-ren. Das ist richtig, denn lernen und Bildung sind wichtige Voraussetzungen für Entwicklung. Aber es ist auch falsch. Denn wenn jemand keinen Zugang zum See hat, wie soll er dann fischen? Und den Zugang zu den Fischgrün-den, auch im übertragenen Sinn, also dort, wo es etwas zu holen gibt, haben im Süden oft nur einige wenige. Zur Arbeit von Misereor gehört deshalb, sich für gerechte Strukturen einzusetzen. Für gerechte Verteilung von Land, für gerechte Chancen auf dem globalen Markt.



    Wir haben als Kirche dabei Möglichkeiten, die niemand sonst hat. Denn wir sind überall zu Hause. Fast überall auf der Welt gibt es Kirchengemeinden. Im vergangenen Jahr war ich in Vietnam. Bei der Begrüßung umarmte mich der Erzbischof von Hanoi und sagte: „Willkommen zu Hause“! Ich in Vietnam zu Hause? Aber natürlich! Denn Christen sind Weltbürger. Christen können keine Nationalisten sein. Getreu dem Wort Jesu: Geht hinaus in die ganze Welt. Misereor baut Brücken in die ganze Welt. Brücken der Solidarität. Brücken der Nächstenliebe. Brücken der Gerechtigkeit. Brücken zwischen Erdteilen, Kulturen und Religionen.



    Allerdings dürfen wir nicht meinen, wir könnten unseren Lebensstandard in die Länder des Südens transportieren. So wie wir im Norden der Welt leben, hält das unsere Erde nicht mehr lange aus. Die Klimakatastrophen sind da-für ein deutliches Signal. So viel Energieverbrauch, so viel CO2-Ausstoß, so viel Wasserverbrauch - unsere Erde droht daran kaputt zu gehen. Wir müs-sen anders leben, damit andere überleben können. Wir müssen uns mäßi-gen.



    Papst Benedikt hat es in seiner Predigt zum diesjährigen Dreikönigstag deut-lich gesagt: „Die Mäßigung ist . . . nicht nur eine asketische Anweisung, sondern auch ein Weg zur Rettung der Menschheit. Es ist inzwischen offen-sichtlich, dass nur mit einem nüchternen Lebensstil – verbunden mit einem ernsten Einsatz für eine gerechte Verteilung der Reichtümer – es möglich sein wird, eine gerechte und nachhaltige Entwicklungsordnung zu etablie-ren.“ Deshalb ist Misereor mit der Fastenzeit, die am kommenden Mittwoch wieder beginnt, so aktuell wie nie zuvor.



    Geht hinaus in die ganze Welt. Jesus mutet uns im Evangelium heute die Sorge für die Welt zu. Mutig dürfen wir an der einen Welt bauen. Die Prob-leme sind gewaltig. Denn es geht darum, nicht nur eine Globalisierung der Wirtschaft zu betreiben, sondern vor allem eine Globalisierung der Nächs-tenliebe und der Solidarität. Was für eine Aufgabe! Aber der Zuspruch, wie er im Psalm zum Ausdruck kommt, gilt auch heute: „Liebt das Recht und hasst das Unrecht, sucht den Frieden und jagt ihm nach. Befreit die Gerin-gen und Armen, helft den Gebeugten auf und verschafft Recht den Unter-drückten – dann werdet ihr nicht sterben, sondern leben“ (Psalmen 45,8; 34,15; 82,3f; 118,17)



    Amen
  • Silvesterpredigt 2007 / Hamburg / 31. 12. 2007
    Liebe Schwestern, liebe Brüder!



    Als acht Tage vorüber waren, gab man dem Kind von Bethlehem den Namen Jesus. Für uns sind jetzt nicht nur acht Tage vorüber, sondern alle Tage des Jahres 2007. Welchen Namen geben wir diesem Jahr? Welche Ereignisse bewegen uns am Ende dieses Jahres?



    Ein Redakteur des Norddeutschen Rundfunks fragte mich kürzlich in einem Interview, wie ich denn die Ehescheidungen namhafter Politiker in diesem Jahr beurteile. Meine Antwort: Es ist nicht meine Aufgabe, über andere Menschen Urteile zu fällen. Aber es fällt mir auf, mit welcher Selbstverständlichkeit die Trennungen von Ehepartnern zur Kenntnis genommen werden.



    Übersehen wird dabei, dass das Leid der Trennung vor allem die Kinder betrifft. Wir haben in unserer Gesellschaft große Sorgen um das Wohl der Kinder. Die bitteren Ereignisse dieses Jahres von Kindesmisshandlung, Verwahrlosung und Tötung sind in unser Gedächtnis eingebrannt. Viele Vorschläge gibt es, wie man durch soziale und gesetzliche Maßnahmen Kinder mehr schützen kann. Aber der beste Schutz für Kinder sind stabile Familienverhältnisse. Die Tatsache, dass Trennung der Eltern vor allem den Kindern schadet, ist bei uns ein Tabu. Darüber spricht man wenig.



    Ich meine, man muss darüber sprechen. Nicht sprechen muss man in der Öffentlichkeit über all das Persönliche an Leid und Not, was mit der Trennung von Eltern verbunden ist. Aber sprechen muss man in der Öffentlichkeit darüber, dass Ehe und Familie durch Politik und Gesellschaft zu wenig gestützt werden. Zum Schaden vor allem der Kinder.



    Wir klagen mit Recht darüber, dass immer mehr Kinder bei uns in Armut aufwachsen. Aber der Hauptgrund, warum 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche auf Sozialhilfe angewiesen sind, der wird verschwiegen. Die meisten brauchen deshalb Sozialhilfe, weil die Eltern sich getrennt haben. Die jährlichen Scheidungsfolgekosten allein bei Wohngeld und Sozialhilfe betragen für die Kassen rund vier Milliarden Euro. Noch folgenreicher ist etwas anderes. Kinder aus Scheidungsfamilien leiden mehr als andere Kinder unter psychischen Belastungen. Außerdem ist die Stabilität der Partnerbeziehung ein wichtiges Kriterium dafür, ob man sich überhaupt für Kinder entscheidet.



    Ich meine, das muss man einmal aussprechen. Weil es hier um etwas geht, das unsere Gesellschaft insgesamt betrifft. Manche werden mir jetzt vorhalten, ich wolle als Bischof doch vor allem für die Unauflöslichkeit der Ehe eintreten. Natürlich will ich das auch. Und das ist auch angezeigt. Wenn Sie nur einmal daran denken, dass eine gewisse bayerische Politikerin den Vorschlag verbreitet, eine Ehe solle nach sieben Jahren automatisch auslaufen.



    Aber es geht mir jetzt um etwas anderes. Wir geben in Deutschland viel Geld aus, um die oft schwierigen Folgen von Scheidung finanziell abzusichern. Das ist gut. Das ist eine wichtige soziale Errungenschaft. Aber wir tun kaum etwas, um Ehen zu stabilisieren oder Paare auf Partnerschaft vorzubereiten.



    Wo können Menschen lernen, mit Krisen in der Partnerschaft umzugehen? Wo können Menschen lernen, wie sie in ihrer Partnerschaft aus Krisen wieder herausfinden? Wie viele Menschen verpassen wohl eine Menge Glück in ihrem Leben, weil sie in ihrer Partnerschaft auf Krisen, die ja unvermeidlich sind, nicht vorbereitet sind und mit Krisen nicht umgehen können? Und wie viele Kinder, darum geht es mir vor allem, tragen dadurch Schäden davon. Von den Kosten ganz zu schweigen.



    Natürlich gibt es Eheseminare und Eheberatung. Aber ich nenne Ihnen nur e i n e Zahl, die deutlich macht, wie sehr es dabei an Geld und an Bewusstsein fehlt: Was Länder und Kommunen für Partnerschaftsberatung ausgeben, das ist nicht einmal ein Prozent der Scheidungsfolgekosten.



    Stellen Sie sich vor, wir machten das so im Straßenverkehr. Wir hielten Ampeln und Verkehrszeichen für unwichtig, weil die Unfälle ja durch die Versicherung abgedeckt sind.

    Wenn unsere Gesellschaft sich um Kinder sorgt, muss sie sich auch um stabile elterliche Partnerschaft sorgen. Sonst tun wir zu wenig für die Kinder.



    Liebe Schwestern, liebe Brüder!



    „Als acht Tage vorüber waren“, heißt es im Evangelium. In wenigen Stunden sind alle Tage dieses Jahres 2007 zu Ende. Wir wollen in einem Augenblick der Stille noch einmal das Jahr an uns vorbeiziehen lassen. Was war schön? Was war schwierig? Was ist gelungen? Was misslungen? Wofür möchten wir am meisten danken?

    Gott, Du bist der Herr von Zeit und Ewigkeit.

    In Deine Hände legen wir dieses Jahr 2007. Wandle Du es in Segen.



    Amen.
  • Predigt in der Feier der Christnacht 2007, am 24 Dezember in der Domkirche St. Marien (Pfarrsaalkirche) / Hamburg / 25. 12. 2007


    Liebe Schwestern, liebe Brüder,



    warum feiern wir Weihnachten mitten in der Nacht? Weil dann die Dunkelheit zu spüren ist. Auch die Dunkelheit unserer Sorgen, unserer Verletzungen, unserer inneren und äußeren Krankheiten. In all dieses Dunkel fällt in dieser Nacht Licht. Das Licht von Bethlehem.



    Die erste Weihnachtsmesse habe ich heute Nachmittag in Bethlehem gefeiert. Ich meine bei den Schwestern von Mutter Theresa im Haus Bethlehem. Mit hunderten von Obdachlosen. Warum feiere ich Weihnachten besonders gern dort?



    Weil dort die Armut zu spüren ist. Die Armut an Kleidung, Wohnung, Nahrung verweist mich auf die Armut an Sinn, an Freude, an Gemeinschaft. Wenn ich diese Armut spüre, dann spüre ich auch, dass ich nichts in Händen halte. Nichts Dauerhaftes jedenfalls. Dann sind meine Hände frei für das Geschenk. Für das große Geschenk Gottes.



    Die Weihnachtsmesse mit den Obdachlosen im Haus Bethlehem gehört für mich zu den eindrucksvollsten Gottesdiensten. Denn die äußerliche Armut macht Herz und Sinne frei für den inneren Reichtum, der mir geschenkt wird. Dass Gott nicht dieses und jenes schenkt. Sondern sich selbst. Deshalb sind Geschenke zu Weihnachten so schön und sinnvoll. Weil sie verweisen auf das große Geschenk Gottes.



    Was ist das Wichtigste an Weihnachten, wurde in der Schule gefragt. Das Geschenk, antwortete einer. Die Antwort ist falsch und richtig. Falsch ist sie, wenn ich dieses oder jenes Geschenk meine. Richtig ist sie, wenn ich das Geschenk Gottes an uns Menschen meine, das Geschenk, das er selber ist.



    Gottes Geschenk ist anspruchsvoll. Es vermittelt nicht nur Freude und Sicherheit. Es vermittelt auch Fragen und Sorgen. Wie sollen wir mit diesem großen Geschenk umgehen. Denn Gottes Geschenk ist größer, als wir fassen können. Das können wir an Maria und Josef lernen. Und auch an den Hirten.



    Wie muss Maria zumute gewesen sein, als sie auf ihr Kind schaut in dieser ärmlichen Umgebung? Vielleicht so ähnlich wie uns manchmal, wenn wir auf die heilige Hostie schauen, auf Gott in dieser unscheinbaren Gestalt.



    Wie muss Josef zumute gewesen sein, als er im Traum die Weisung erhält, die er nicht versteht? Vielleicht so wie uns, wenn Gott uns etwas zumutet, das wir nicht verstehen.



    Wie muss den Hirten zumute gewesen sein, als der Engel, von himmlischem Glanz umstrahlt, ihnen die Botschaft bringt, der Messias sei geboren? Und als sie dann wieder vom Stall mit dem Kind zu ihren Herden zurückgekehrt sind, ob da nicht manche gedacht haben, dass sei doch nicht Wirklichkeit? Vielleicht so wie wir manchmal denken, ob Gott wohl wirklich da ist. Tatsächlich bei uns ist, in unserem Leben.



    Gott kommt als Kind. Weil er es uns leicht machen wollte. Aber wir tun uns schwer mit Kindern. Das zeigt das zu Ende gehende Jahr: Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlung, Kindestötungen sind erschreckend gängige Worte geworden. Und nicht nur Worte, dahinter stehen Taten. Das Kind von Bethlehem verpflichtet uns auch zur Sorge um die Kinder heute. Wer hinschaut auf das Kind in der Krippe, darf nicht wegschauen bei den Kindern in seiner Umgebung.



    Gottes Geschenk ist grenzenlos. Er schenkt sich selbst. Aber ich stoße immer wieder an Grenzen. Wenn ich meine Grenzen annehme, wenn ich meine Grenzen aushalte, wenn ich zu Gott stehe, treu auch dann, wenn es mir nicht passt, konsequent auch dann, wenn ich ihn nicht verstehe, dann brechen die Grenzen auf.



    Gott kommt als Mensch. Aber sein Geschenk, er selbst, bleibt göttlich. D. h.: Er passt nicht zu unseren Vorstellungen. Entweder ist er zu groß für uns. Oder er ist zu klein für uns. Er passt uns nicht. Sondern wir müssen uns ihm anpassen.



    Und das bedeutet: Wir sollen unsere schönsten Fähigkeiten entfalten. Unser Vertrauen soll stärker sein als unser Misstrauen. Unsere Nächstenliebe soll stärker sein als unsere Selbstliebe. Unser Glaube soll stärker sein als unsere Zweifel. Dann entspricht unsere Hingabe der Gabe. Unsere menschliche Hingabe der göttlichen Gabe.



    Dann fällt tatsächlich Licht in unsere Dunkelheit. Dann entdecken wir den Reichtum in unserer Armut. Dann überspringt unsere Freude unsere menschlichen Grenzen.



    Amen.





  • Predigt von Erzbischof Dr. Werner Thissen am 3.10.2006 in Kiel zum Tag der Deutschen Einheit / Kiel / 03. 10. 2006
    Bibeltext: Eph 4,2 – 6,15–16



    Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,



    Tag der Deutschen Einheit – haben Sie mitgezählt, wie oft von Einheit in diesem Bibeltext die Rede ist? Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung – lauter Einheitsbegriffe.



    In dem Abschnitt aus der Bibel geht es um die Einheit in der Kirche. Uns geht es heute um die Einheit in Deutschland. Beides stellt uns vor gewaltige Aufgaben.



    Dass wir die Einheit der Christen noch immer nicht erreicht haben, ist ein Skandal. Aber der Skandal ist offensichtlich. Niemand kann ihn leugnen. Deshalb können wir daran arbeiten.



    Dass wir die volle Einheit in Deutschland noch nicht erreicht haben, dass immer noch tiefe trennende Gräben verlaufen zwischen West und Ost, liegt nicht so offen zu Tage. Der Mangel an Einheit in unserem Staatswesen wird häufig überspielt, beschönigt oder gar nicht wahrgenommen.



    Ein Kind der Deutschen Einheit ist unser Erzbistum Hamburg. Sogar ein Einzelkind. Denn, abgesehen von der Sondersituation Berlin, sind wir das einzige kirchliche Gebilde, das aus weiten Teilen von Ost und West zusammengesetzt wurde. Der Mecklenburger Teil ist flächenmäßig größer als Hamburg und Schleswig-Holstein zusammen.



    Ich nenne Ihnen einige Erfahrungen.



    In Rostock spricht mich ein Arbeiter nach dem Gottesdienst an. Ganz offensichtlich ein gescheiter Mann. „Aber“, so sagt er, „ich bin 1953, in der Hochphase des Kirchenkampfes in der DDR, von der Schule geflogen. Ich war ja Christ. Mein Freund kam nicht zur Erweiterten Oberschule, weil der die Jugendweihe verweigerte. Also auch kein Abitur und kein Studium.“



    Inzwischen weiß ich: Das sind keine Einzelschicksale. Viele haben als standhafte Christen erhebliche Nachteile ertragen. Schließlich waren die Kirchen ja der Staatsfeind Nummer Eins im Sozialismus. „Dass all das“, so der Mann weiter, „was wir auf uns genommen haben, heutzutage so wenig wahrgenommen wird, das verletzt mich und viele andere.“



    Wer die Einheit fördern will, braucht ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein.



    Eine andere Erfahrung: In einem Gesprächskreis sitze ich mit engagierten Kirchenleuten aus Ost und West zusammen. Originalton West: „Wir müssen das Projekt aber so anlegen, dass anschließend auch eine Erfolgskontrolle möglich ist.“ Darauf Originalton Ost: „Kontrolle, wenn ich das schon höre, das ist ja wie früher in der DDR.“ Darauf der Westler: „Unverschämt, ich lasse mich nicht mit Diktatoren vergleichen.“





    Wer die Einheit fördern will, muss mit den unterschiedlichen Empfindungen, Denkweisen und Sprachformen in Ost und West einfühlsam umgehen.



    Unser Weihbischof Norbert Werbs mit Sitz in Schwerin war kürzlich in Guatemala. Gefragt, wie er das Land dort sehe, antwortet er: „Ich bin vorsichtig, wenn es darum geht, irgendwo hinzukommen und gute Ratschläge zu erteilen. Das war ja mit den Westdeutschen so. Wenn sie drei Stunden im Osten waren, wussten sie schon genau, was wir zu tun hatten.“



    Wer die Einheit fördern will, sollte mit Ratschlägen von Außen zurückhaltend sein.



    Eine letzte Erfahrung noch. Zu unserem Diözesanpastoralrat gehören Mitglieder aus Hamburg, Mecklenburg und Schleswig-Holstein. Kürzlich haben wir uns nach gründlicher Vorbereitung zwei Fragen gewidmet: Welche Vorurteile gibt es zwischen West und Ost, Ost und West, und: Was können wir voneinander lernen.



    Das war ein schmerzlicher, aber auch ein heilsamer Prozess. Wer die Einheit fördern will, kommt an solchen Fragen nicht vorbei.



    Schwestern und Brüder, es wird Jahrzehnte dauern, bis die Gräben zwischen West und Ost so gestaltet sind, dass sie nicht trennen, sondern nur noch verbinden. Als Einzelkind der Deutschen Einheit fühlen wir uns da im Erzbistum Hamburg besonders gefordert.



    Wir freuen uns dankbar über das Geschenk der Einheit. Aber es ist kein fertiges Geschenk. Es besteht aus vielen einzelnen Bauteilen. Die müssen zusammengesetzt werden. Nicht nur Auseinandersetzung ist wichtig, auch Zusammensetzung ist wichtig.



    Unser Bibeltext nennt uns dafür das Handwerkzeug: Demut, Friedfertigkeit, Geduld. Die Deutsche Einheit ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem. Sie betrifft Herz, Gedanken und Gefühle von Menschen mit unterschiedlicher Geschichte, unterschiedlicher Erfahrung, unterschiedlichem Erleben und Erleiden.



    Je mehr wir das wahrnehmen, desto mehr können wir diesen Tag dankbar feiern. Je mehr wir das wahrnehmen, desto mehr sind wir bei aller, auch bereichernder, Verschiedenheit auf dem Weg der Einheit.



    Amen.
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